Der perfekte Tag

von Rosa

Kinder, wie die Zeit vergeht. Klingt abgedroschen und ist doch immer wieder wahr. Als ich an diesem Abend auf mein Handy schaue, leuchtet da in weißen Lettern der 12. September. Vor genau fünf Monaten bin ich los gereist. Fünf Monate Südamerika. Die Hälfte meiner Reisezeit ist um. Bergfest. Obwohl Bergfest feiert man ja eigentlich nur, wenn man daraufhin fiebert, dass etwas endet. Ich freue mich nicht auf das Ende. Genieße ich doch gerade viel zu sehr diese Reise. Natürlich gab es Situationen, da wusste ich nicht, ob ich so lange hier bleibe. Da gibt es Menschen und auch ein paar Sachen, die ich vermisse. Ich vermisse sie aber auch ein Stück weit gern, weil ich gemerkt habe ihren Wert noch mehr zu schätzen. Meine Reise hat mir nicht nur die Augen für Neues geöffnet, sondern auch meinen Blick geschärft für all das was schon lange in meinem Leben war. Das Licht fällt anders auf ein Bild, wenn man die Perspektive ändert.

Wir müssen einiges aufholen. Erst war Ronny krank, dann ich. Die Zeit bis zu seinem Abflug läuft davon und zumindest Ronny kann nicht ohne ein wenig Adrenalin zurück nach Deutschland. Wo könnten wir uns das besser einimpfen als in der Action-Hauptstadt Ecuadors: Baños. Also sagen wir Hello again zu unserer Abenteuerstadt. Baños 2.0. Noch am Abend unserer Ankunft begeben wir uns auf die Suche nach Anbietern für den Adrenalinrausch. Wir werden fündig: Brücken springen und Paragliding.

Der Wecker klingelt nicht. Ich drehe mich einmal, zweimal um. Es ist halb elf und wir sitzen am Tisch unseres Lieblingsladens: Ricoo Pan. Das heißt so viel wie sehr leckeres Brot und das ist es auch. Normalerweise bin ich vom Brot in Ecuador oder Kolumbien nicht so angetan. Meistens ist es süß oder süß und salzig. Nicht meine Kombination. Aber in diesem Brotladen gibt es Schwarzbrot, richtiges Schwarzbrot und Käse. Jeder Reisende kennt das Gefühl irgendwann an dem Punkt zu sein Heißhunger auf irgendetwas Bekanntes zu haben. Nicht selten ist es schnödes Schwarzbrot. Das Frühstück zieht sich über zwei Stunden hin, denn es gibt noch Eier, Pancakes, Obstsalat und frischen Saft. Lecker!

Gut gestärkt laufen wir zur Brücke. Dort warten schon zwei Männer mit Gurten. Der Sprung soll nur 30 Meter in die Tiefe gehen. Bis zur Schlucht in die wir gleich springen werden sind es fast 100 Meter. Es ist ratsam dabei nicht so oft nach unten zu schauen. Ronny besteht darauf, dass einer der beiden Männer zuerst springt, um sicher zu gehen, dass die Seile halten. Das ist natürlich kein Problem. Wir müssen wie ins Wasser am besten mit dem Kopf nach vorne springen. Ronny möchte trotzdem, dass ich als zweite springe, damit er noch sicherer sein kann, dass der Strick nicht reißt. Mir wird ein Gurt um meine Hüfte und Beine gelegt. Ich laufe langsam zur Kante. Schaue nur geradeaus. Ronny filmt mich mit seinem Handy und fragt nach letzten Worten. Hinter mir zählt jemand von drei runter.

Drei, Zwei, Eins. Ich springe. Einfach so. Doch was danach kommt ist schlimm. Ich habe das Gefühl: Jetzt ist es vorbei. Ich falle ins Nichts. So ein Gefühl hatte ich vorher noch nie. Doch ehe ich darüber Nachdenken kann, ob ich ein guter Mensch gewesen bin und wo ich jetzt wohl landen werde, stoppt das Seil mit einem Ruck und ich spüre einen Schmerz in meinen Oberschenkeln. Glück gehabt. Mir bleibt noch etwas Zeit für die letzte Frage. Ich schwinge am Seil noch ein paar mal hin und her und habe jetzt auch endlich Augen für die unglaubliche Landschaft in die ich gerade so kopflos gesprungen bin. Unter mir fließt das Wasser, links und rechts neben mir Felsen und am Horizont grüne Berge. Das Seil und ich pendeln über einem Felsvorsprung. Irgendwann lande ich sicher. Es bleibt ein gutes Gefühl und der Wunsch das Irgendwann zu wiederholen. Ronny springt nach ein paar Aufmunterungsversuchen auch. Als er wieder oben ankommt, will er am liebsten gleich nochmal springen, doch die Zeit ist knapp.

Wir kaufen noch schnell ein paar Souvenirs bevor es zum Paragliding geht. Im Kleinbus treffen wir Andrew aus Californien und Fernando seinen Schwager aus Ecuador. Eigentlich leben beide an der Küste und sind hier gerade im Urlaub. Der Bus fährt eine Stunde bis zu einem Berghang. Auf der Wiese stehen zwei Kühe, die sich von uns nicht beeindrucken lassen. Der Guide gibt uns eine kurze Einweisung. Beim Starten drei Schritte nach vorne rennen, wieder zurück und die Arme kreuzen. Ganz wichtig auch noch weiterrennen, wenn man eigentlich schon in der Luft ist. Das sieht zwar bescheuert aus, aber mit einem Paraglideschirm kommt man manchmal auch wieder schneller auf die Erde als einem lieb ist. Ronny darf als erster fliegen. Es funktioniert problemlos. Schon nach wenigen Sekunden schwebt er hoch in der Luft. Wir beobachten die bunten Schirme in der untergehenden Sonne.

Nach Andrew und Fernando bin nun endlich auch ich dran. Der Schirm bläst sich auf. Ich nehme Anlauf und schon bin ich in der Luft. Drücke meinen Sitz nach hinten und liege bequem in meinem Sitz. Der Kapitän hinter mir sagt: Willkommen in meinem Büro. Schöner Ausblick antworte ich lachend. Ich hänge in den Seilen hundert Meter über dem Boden und habe mich selten so sicher gefühlt. Der Schirm wackelt kaum in der Luft, nur wenn der Kapitän Wendungen unternimmt. Unter mir die kleinen Häuser sehe ich kaum noch wie sich die Autos bewegen. Viele Felder und riesige Berge. Hinter den Wolken versteckt sich der Tungurahua, ein immer noch aktiver Vulkan, der zum letzten Mal 2006 ausgebrochen ist. Das Besondere an diesem Flug ist, dass wir wieder zum Startpunkt zurückfliegen werden. Wir drehen noch ein paar Runden. Wirklich weit von unserem Startpunkt entfernen wir uns nie. Die Winde sind heute nicht ganz einfach sagt der Kapitän. Dafür klappt das alles aber gut, denke ich. Der Schirm senkt sich. Ich lasse nochmal den Blick über die Kulisse schweifen. Dann setzen wir zur Landung an. Über den Köpfen der Kühe. Ich laufe in der Luft bis meine Fußspitzen leicht den Boden berühren. Der Wind zieht den Schirm wieder nach oben und der Guide muss uns helfen anzuhalten. Dann stoppen wir und der Schirm fällt zu Boden. Auf der Wiese sind noch andere Flugschüler, die gerade lernen zu landen. Sie haben zwei Optionen. Entweder sie landen auf dem Arsch oder auf den Füßen. Letzteres birgt aber die Gefahr, dass der Wind sie wieder fortträgt und sie eine weitere Runde drehen müssen. Per Walki-Talki gibt der Kapitän Anweisungen an seine Schüler. Er kann die Winde auf seinem Smartphone beobachten. Als alles wieder Boden unter den Füßen haben geht es zurück.

Andrew und Fernando besorgen uns noch ein Taxi, denn wir wollen den Abend in den heißen Quellen über der Stadt ausklingen lassen. Eigentlich gehören die Quellen zu einer Hotelanlage und so müssen wir den Bademeister erst mal überzeugen, dass wir rein dürfen. Doch dann ist es kein Problem und wir stehen in weißen Bademänteln vor den kleinen Pools. Die meisten sind angenehm warm und beleuchtet. Wir steigen in den Whirlpool und bekommen ein Cocktail direkt an den Pool gebracht. Ungewohnter Luxus. Vom Beckenrand können wir auf die Lichter von Baños schauen. Der Anblick ist magisch. Es ist fast niemand mehr da und so nutzen wir die Gelegenheit und springen trotz Verbotes in die Pools. Wir werden ein bisschen schief angeschaut, aber das ist uns der Spaß wert.

Tatjana aus der Schweiz und ihr Freund Rico nehmen uns in ihrem Mietwagen zurück mit in die Stadt. In einer Bar erzählen sie uns, wie sie sich kennengelernt haben. Er war ihr Dozent und sie hat die Brandschutzverordnung nicht verstanden. Was für ein tolles Thema um sich zu verlieben. Aber scheinbar hat die Nachhilfe etwas gebracht. Tatjana arbeitet jetzt in Costa Rica bei einem Holzbauunternehmen. Wir tanzen noch ein bisschen Salsa und dann bewegt sich der große Zeiger langsam Richtung Zwölf. Wir schlendern nach Hause und fallen müde ins Bett. Mein Puls muss sich vom Tag etwas erholen und so denke ich noch ein bisschen darüber nach was wohl in den nächsten fünf Monaten vor mir liegt. Langweilig wird es wohl nicht. Bald geht es in den Süden. Ich bin gespannt mein Südamerika.

Am nächsten Tag beim Schwarzbrotfrühstück herrscht zwar keine Katerstimmung, dafür Abschiedsstimmung. Für Ronny geht es zurück nach Deutschland. Er fliegt am Abend von Quito. Auch wenn der Start mit der Krankheit alles andere als optimal verlief, war die kurze Zeit umso schöner. Eine kurze Umarmung, dann rollt der Bus los. Ich bleibe hier, denn es gibt noch viel zu erleben.  Da bin ich sicher.


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