Mrz 26 2019

Altstadt an der Flussmündung

Von Karl

Colonia del Sacramento, Uruguay

 

Als wir in Uruguay von der Fähre gehen ist es schon dunkel. Nichtsdestotrotz wirkt Colonia del Sacramento ruhig und friedlich. Wir fragen in der Tanke nach dem nötigen Bus um zu unserer Unterkunft am Rande der Stadt zu kommen. Der Busfahrer hilft uns dann noch an der richtigen Stelle auszusteigen. Beim Aussteigen bemerke ich, dass eine Gruppe Jugendlicher an der Haltestelle wartet und wir machen uns schleunigst auf den Weg. Gute fünfhundert Meter soll es die große Ausfallstraße weiter gehen. Nach einer kleinen Brücke hören die Häuser erstmal auf und die Straße ist unbeleuchtet.
Ein Blick zurück verrät uns aber, dass sich die Gruppe Jugendlicher, die nicht besonders wohlhabend ausschaut uns gefolgt ist. Wir gehen ein Stück zurück und nun verteilen sie sich auf beide Seiten der Straße. Offensichtlich hängen wir in einer Sackgasse. Ich bin für solche Gefahren nicht gemacht, Azul dagegen wirkt schon fast routiniert. Wir hoffen, dass die Jugendlichen nicht näher kommen und tatsächlich warten sie auch. Wir versuchen Autos zu stoppen, aber keines hält an. Es ist eine bedrohliche Situation.
Mindestens eine halbe Stunde beäugen wir uns gegenseitig, während Azul und ich Lösungen diskutieren.
Dann kommt uns die rettende Idee. In manchen Ländern habe ich SIM-Karten gekauft und unter anderem habe ich noch die argentinische in meinem Handy. Claro, der Netzanbieter den ich gewählt hatte, wirbt dafür, dass für das Telephonieren kein Roaming anfällt, wenn ich die Karte in Chile, Argentinien, Uruguay, Paraguay oder Brasilien benutze. Kaum, dass wir anfangen die Nummer unseres Gastgebers heimlich in mein Handy zu tippen, geben die Jugendlichen auf und ziehen ab.
Unser Gastgeber, Leo, springt offensichtlich sofort ins Auto und in wenigen Minuten sind wir am Ziel. Nochmal Glück gehabt.

Uruguay und Colonia

Uruguay gilt als das wohl wohlhabendste und stabilste aller Länder in Südamerika. Damit ist es auch relativ teuer. Tatsächlich macht es auf mich einen relativ friedliebenden Eindruck. Trotz des gefährlichen Begrüßungsempfanges. Unser Gastgeber versichert uns, dass es kaum Jugendbanden gibt. Die wollten sich höchstens mal ausprobieren, aber normalerweise ist es ungefährlich. Er erzählt mir auch, dass er nach Uruguay gekommen ist, weil hier das Leben ruhiger und sicherer ist. Raubüberfälle und dergleichen machten das Leben in Argentinien ungemütlich und deshalb zog es ihn als Musiker nach Colonia. Er hat ein kleines Haus deren hinterer Bereich an uns vermietet wird, inklusive grandiosen Frühstück in der Sonne.

Von hier aus können wir in einer halben Stunde zum Strand laufen, der sich zwar ausnimmt wie ein traumhafter Meeresstrand, aber in Wirklichkeit nur am Rio de la Plata (Silberfluss) liegt. Dies bezeichnet den riesigen unüberschaubaren Mündungstrichter der Flüsse Paraná und Uruguay.

Der offizielle Name des Landes kommt übrigens von diesem großen Fluss: Republik östlich des Uruguay. Eine, wie ich finde, witzige Idee. Warum nicht: Bundesrepublik östlich des Rhein.

Colonias Altstadt ist vergleichsweise hübsch und gut restauriert. Viele alte weiße Gebäude und mittelalterliches Gemäuer. In harmonischer Kombination direkt am Wasser. Es scheint auch „Geheimtipp“ im LonelyPlanet zu sein, denn es gibt viele Rucksacktouris und die Preise sind überdurchschnittlich. Hinzu kommt, dass es nah an Argentinien und Buenos Aires ist und leicht erreichbar. Auch wir schlendern genießend eine Runde durch das historische Viertel. Findige Aktivistis haben kluge Sprüche auf A4-Zettel gedruckt und an vielen Ecken aufgehängt. Es scheinen Feminist*innen unterwegs zu sein. Auf dem ersten stand „Es ist nicht die Länge meines Rockes sondern die Kürze deiner Ideen“.

Im Geschäft nebenan kann auch Souvenir von Uruguays berühmtester Persönlichkeit gekauft werden. Mit Konterfei und klugen Spruch. José Mujica war Präsident des Landes und ging als „ärmster Präsident der Welt“ in die Geschichte ein. Im Spanischen ist „Pepe“ der Spitzname für alle die José heißen, weswegen er auch oft nur El Pepe genannt wird. Pepe machte eine Legislatur von 2010 bis 2015 und nahm nur 10% vom Präsidentengehalt. Den Rest steckte er in ein Wohnungsbauprogramm oder NGOs. Er legalisierte auch Cannabis, womit Uruguay das erste Land der Welt wurde. In vielerlei Hinsicht eine spannende Persönlichkeit und vergleichsweise vorbildlich für einen Politiker. So blieb er in seiner Chacra, einem kleinen Bauernhof, wohnen, statt in den Präsidentenpalast zu ziehen.
Uruguay ist kulturell stark verwandt mit dem Osten Argentiniens. So streiten sich wohl beide darum, wer nun die Wiege des Tangos gewesen ist. So berühmt wie der Tango in der Welt ist, so selten habe ich jemanden Tango tanzen sehen. Nur für eine paar Touris in der Innenstadt von Buenos Aires, aber ansonsten scheint dass gar nicht so verbreitet zu sein, aber vielleicht war ich einfach nicht in den richtigen Ecken. Eine andere Gemeinsamkeit sind die Membrillos. Eine gelee-artige Masse, hergestellt aus Quittenmus. Es ist zuckersüß und die paar Mal die ich beobachten konnte wie es gegessen wurde, wurde es pur gelöffelt. Mein erster Impuls wäre es als Marmelade aufs Brot zu schmieren. Auch das Asado, das Grillerchen, eint beide Regionen.

Zu meiner tiefsten Überraschung, neben dem das eingemachte Marmelade verkauft wird, wird Marmelade verkauft die aus Aubergine oder Zwiebel hergestellt wird. Kein Witz. Ja, jetzt wo ich das schreibe, merke ich, dass ich es mal hätte kaufen sollen und probieren.

Wir waren nur kurz in Colonia. Da wir ja schon auf dem Weg nach Montevideo wohnten, konnten wir direkt an der Ausfallstraße noch in einen Bus steigen ohne erst in die Innenstadt zu torkeln.


Dez 11 2018

Dem Wal so nah und fern

Von Karl

 

Doradillo

Wieder erhebt sich der Wal aus dem Wasser, nur ein Stück, verbleibt kurz und versinkt wieder zwischen den Wellen. Seine Flossen sind gut zu erkennen. Seine glänzende schwarze Haut spiegelt sich in der Sonne. Er scheint sich hin und her zu wälzen. Immer wieder erhebt sich eine Flosse und dann verschwindet der Gigant hinter den Wellen.

Sie sind weit draußen und besonders gut kann ich sie nur durch den starken Zoom der Kamera sehen. Ein Auge schaut durch den Sucher, das andere bloße Auge schaut, wo der oder ein anderer Wal wieder auftaucht.

Es dauert einige Minuten und schon finde ich an anderer Stelle ein weiteren. Etwas weiter vorne und damit besser zu erkennen. Es ist schwer zu sagen, wie groß sie sind, aber klar ist, dass sie meine Formate deutlich übersteigen.

Heute kommen sie nicht ganz nah an die Küste. Hier am Strand von Doradillo, der übrigens kaum auf Karten zu finden ist, kommen sie wohl manchmal auch auf wenige dutzend Meter nah an die Küste. Auch wenn sie heute nicht so nah sind, sind so doch höchst beeindruckend. Doradillo ist eine weit schwingende Küste, mit vielen Sandsteinfelsen und kleinen und größeren Sand-Strand-Abschnitten. Der Strand ist nahezu unberührt und wie aus einem Bilderbuch. Langsam steigt der Strand zu einer Düne an, die mit vielen grünen und leuchtenden Blumen bewachsen ist. Eine gelbe Blume ist zur Zeit am Blühen und treibt dabei einen weißen Schleim aus. Was es nicht alles gibt.

Auf dem kargen Sandstein dagegen wachsen flache stachlige und robuste Sträucher. Sie lassen nur wenig freie Wege zu, die wohl meist von der Parkverwaltung offen gehalten werden. Hier beginnt ein Naturschutzgebiet und UNESCO-Welterbe, was sich über die hier beginnende Halbinsel Valdés erstreckt. Dabei geht es besonders um den Schutz der Wale, Orcas und Delfine, aber auch vieler anderer Tiere und Pflanzen. Die Wale kommen ausschließlich hier so nah an Land, weil sie eine besondere Fangmethode entwickelt haben mit der sie andere Fische bei auf- oder ablaufenden Wasser verspeisen können.

Mein Gastgeber, Mikka, hat mir Videos gezeigt, wie er neben Walen schwimmt, aufgenommen mit einer Handykamera. Sie kommen also tatsächlich nah an den Strand. Nicht nur das, sie würden auch das ganze Jahr sichtbar sein, anders als ich vorab im Internet herausgefunden hatte. Glücklicherweise habe ich also außerhalb der eigentlichen Saison die größten Tiere der Welt gesehen. Sie sind in vielfacher Hinsicht faszinierend. Als Säugetiere die ausschließlich im Wasser leben können – an Land würden das Eigengewicht die Lunge zerdrücken und die Rippen brechen – unterscheiden sie sich von den meisten Meerestieren und sind das evolutionäre Beispiel von Säugetieren die sich langsam dem Leben im Meer angewöhnt haben. Deshalb sind sie stark mit Paarhufern verwandt, also Rinder, Schweine, Kamele, Ziegen, Schafe, Giraffen, Flusspferde, Hirsche oder Antilopen. Erdgeschichtlich haben sich ja die Landtiere aus den Meerestieren entwickelt, aber die Wale kamen zurück.

Delfine sind übrigens eine Unterart der Wale. Deshalb jagen sie manchmal auch gemeinsam. Wale sind meist ausgesprochen soziale Wesen, sodass sie meist in großen Gruppen unterwegs sind. Sie können sich über eine Art Gesang unterhalten. Sie sind also eine der höchstentwickelsten Tiere des Planeten. Was sie den Menschen voraus haben, ist, dass sie teils über 200 Jahre alt werden …

Meine Bewunderung hält lange an und die Schönheit des windigen Ortes lässt sich wohl kaum abstreiten. Immer wieder kommen weitere Schaulustige. Doch dann muss ich mir mein Fahrrad wieder schnappen und den Rückweg anpacken. Den Tipp hab ich von Mikka bekommen und bin ziemlich angetan von dem Mountainbiken. Es gibt zwar eine langgezogene breite Schotterstraße parallel zum Strand, aber die ist aufgrund der rasenden Autos auch sehr staubig. Dagegen ist das Radeln auf den kleinen Wegen zwischen den Sträuchern der heiße Scheiß. Wie ein Kind düse ich über die Hügelchen und freue mich wenn ich einen Engpass wagemutig durchquere. Ab und zu komme ich an einsame Felsvorsprünge und kann auf das weite Blau des Atlantik schauen.

Irgendwann finde ich sogar eine extra ausgewiesene Mountainbike-Strecke. Leider ist sie von ausgetrockenen Flussbetten durchbrochen, was Absteigen bedeutet. Mein Rad führt mich zurück nach Puerto Madryn.

Puerto Madryn

Puerto Madryn ist eine größere Stadt in der patagonischen Provinz Chubut und direkt am Südatlantik gelegen. Sie ist trotzdem relativ beschaulich. Sie hat einen Sandstrand, der je nach Tide, breiter ist. Der Saum zum Meer ist allerdings grün, es scheint irgendeine Alge oder andere Pflanze sich dort breitzumachen. Am Meer ist die Infrastruktur für Touris bestens ausgebaut und dahinter beginnt das einheimische Leben. Offenbar machen viele hier Stopp auf den Weg in den äußersten Süden.

Für mich ist es aber der äußerste Süden. Beziehungsweise der Wendepunkt gen Norden. Seit der Fährfahrt von Quellón nach Chaitén bin ich nur nach Osten gereist, aber hier endet das.

Nach der Radtour gebe ich das Fahrrad zurück an die Verleiherin und mache mich auf in den hinteren Teil der Stadt. Da wo der Asphalt endet. Mikka, seine Tante und seine Mutter sind zu Hause und er kündigt ein Asado für den Abend an. Noch frag ich mich wie der das umsetzen will.

Puerto Madryn, von der Seebrücke aus

Perónismus und Falkland-Inseln

In der Stadt bin ich am Büro der „Partido Justicialista“ (Gerechtigkeitspartei) vorbeigekommen. Das ist die peronistische Partei Argentiniens. Wer Politik in Argentinien verstehen will, kommt am „Peronismus“ nicht vorbei. Kurz gesagt ist es eine Volkspartei mit einem sehr breiten Spektrum von sozialdemokratisch bis faschistisch. Sie war über Jahrzehnte die vorherrschende politische Strömung und hat Regierungen und Präsident*innen gestellt. Zurück geht alles auf Juan Perón und seit dem gibt es viele Flügelkämpfe und Abspaltungen. Perón gehörte zu einer nationalistischen Gruppe von Militärs der 1930er Jahre, die eine Volksgemeinschaft propagierten und mit sozialer Gerechtigkeit verknüpften, ähnlich dem europäischen Faschismus. Sie putschten sich an die Macht und später wird er Präsident. Ziel ist ein dritter Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Verschiedene Gewerkschaften wurden durch peronistische ersetzt.

Argentinien hat auf importsubstituierende Industrialisierung gesetzt. Das heißt folgendes: Kolonien waren vor allem Rohstofflieferant*innen für den reichen Norden und viele Länder im globalen Süden sind es immer noch. Deshalb müssen viele Produkte importiert werden, weil sie nicht im eigenen Land hergestellt werden. Um das zu umgehen, wird eine Industrie aufgebaut, die das übernimmt und somit den Import überflüssig macht (also substituiert).

Über die Jahrzehnte vergeben peronistische Regierungen Wahlgeschenke, die den Wohlfahrtstaat aufbauen, wie z.B. Kindergeld, Rente, etc. Das kann nicht immer finanziert werden und führt zu hohen Inflationen, die wiederum mit Privatisierungen begegnet werden. Die Wirtschaft ist immer mal am Boden. Als Perón stirbt, glaubt das Militär dem folgenden Chaos her werden zu müssen und putscht erneut.

Hier schließt sich die bereits erwähnte Militärdiktatur an, die fürchterliche Folgen in der Gesellschaft hinterlassen haben. Die Militärs schaffen es auch nicht die Wirtschaft auf die Beine zu stellen und möchten die Krise durch einen nationalen Ideologie-Schub überwinden. Dem Falkland-Krieg.

Für unsere Helden der Falkland-Inseln …

Die Falkland-Inseln sind gut 1000km von Puerto Madryn entfernt und deswegen gibt es wie im ganzen Land große Graffiti und Gedenkstätten die die Rückeroberung fordern oder an den Krieg und die Gefallenen erinnern, wobei ich nicht verstehe, wie sie ihren Besitzanspruch begründen. Die Militärs holen also diese Karte aus dem Ärmel und beginnen mit der Besetzung der Inseln.

Seit eh und je stehen die Falkland-Bewohner*innen eher loyal hinter der britischen Krone und deswegen beginnt Großbritannien mit der Rückeroberung. Sie waren ziemlich überrascht, schaffen dann aber und seit dem gibt es einige – zur Zeit 1700 – stationierte Soldat*innen auf den Inseln. Diese Niederlage für die Militärs führte dann … trommelwirbel … Argentinien zurück zur Demokratie.

Übrigens gab es 2013 eine Abstimmung auf der Insel, in der 99 % für den Verbleib im Vereinigten Königreich stimmten und lediglich 3 Stimmen dagegen.

Mikkas Tattoo-Studio

Später geh ich mit Mikka für das Asado einkaufen. Er ist hochgewachsen, graue lange Haare zum Zopf gebunden, von der Sonne gebräunt, hat oft eine Lederjacke an und spricht Englisch im coolsten US-Slang. Lachen gehört zum Hobby und seine Arbeit ist sein Traum. Es scheint ihn nicht viel irgendwo zu halten und er lebt immer wieder woanders. Für längere Zeit. Seine Arbeit ist sein Tattoo-Studio. Die obligatorische Krankenliege ist voll mit Nadeln, Maschinen, Farben und was alles gebraucht wird. An der Wand hängen hundert Entwürfe, die noch ausreifen müssen. Seine Werke befinden sich im Internet und so finden die Leute ihn. Es scheint die höhere Klasse zu sein, wenn das eigene Studio kein Schild mehr hat, sondern die Leute bei dir klingeln.

Er hat genaue Vorstellungen welches Tier auf dem Grill gehört und wir suchen nach Schaf in diversen Fleischhandlungen. Das sind große Räume mit breiten Theken und Kühlräumen dahinter. Nicht weniger als ein Viertel Schaf will der Metzger verkaufen, was dann doch zu viel ist, zumal ich als Vegetarier nicht am Verzehr interessiert bin. Wohl aber an den absurd großen Mengen Fleisch, die hier umgesetzt werden sollen. Ich will‘s nicht kaufen, bin aber fasziniert. Alles aus der Region wird mir versichert.

Wir bringen den Batzen Fleisch nach Hause und er beginnt den Grill durch das Fenster auf der Terrasse im Hof anzuschmeißen. Also, es geht doch. Mutti und Tante schlafen früh, sodass wir zu zweit noch lange bei Bier und Wein trinken. Ich erfahre viel aus der Welt der Tattoos und sehe dutzende Motive. Er berät mich auch und will – je später der Abend – mir ein großes Segelboot auf die Brust tätowieren. Es war auf jeden Fall ein sehr lustiger Abend, bis ich dann gut betrunken im Schlafsack wegratze.

Ich war nur eine Nacht in Puerto Madryn, aber als ich später meine Couchsurfing-Referenz von Mikka lese, muss ich nochmals laut lachen. Er schreibt, er freut sich mir ein schönes Tattoo gemacht zu haben. Zur Sicherheit schaue ich aber dann doch mal nach …


Dez 7 2018

Im Kreise der Familie

Von Karl, Esquel, Argentinien

 

Selten habe ich so gut geschlafen. Als ich kurz drauf versuche Schuhe anzuziehen, merke ich wie sehr mitgenommen sie sind. Größere Blasen verweisen auf eine lange und ungewöhnliche Wanderung.

Tulpen und fliegende Teppiche

Die Mutter, die als Psychologin arbeitete und bereits in ihrer Praxis ist, hat uns ein feines Frühstück vorbereitet, dass einem wohligen Schmaus gleich kam. Mailén und ich konnten nun unsere Konversation fortsetzen, die auch von einigen nicht ganz ernsten Episoden geprägt ist. So philosophieren wir den ganzen Tag über fliegende Teppiche. Wie sie uns wann helfen könnten und welche Probleme sie bereiten könnten. Brauchen sie Sicherheitsgurte? Gibt es extra Fahrschulen und Fahrerlaubnisse? Müssen sie ab und zu getankt werden und wenn ja, mit was?

Wir fahren im Auto zweier Freundinnen und einer Mutter derer zu einem Ausflug. Lustigerweise die Hälfte der Strecke zurück Richtung Grenze, von wo ich gekommen bin. Eine der Freundinnen ist Jüdin und Enkelin polnischer und russischer Emigration. Das ist insofern interessant, weil die Einwanderung im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg steht. Einwanderung ist ein generelles Thema in Argentinien, weil aus aller Welt Menschen immer wieder kamen. Die größte Gruppe soll aber aus Italien gekommen sein.

Wir halten an einem Tulpen-Feld. Das heißt, auf einem Feld werden reihenweise verschiedene Tulpen gepflanzt und verkauft. Sie blühen in allen Farben, sodass es beispielsweise auch schwarze Tulpen gibt. Eingerahmt von den schönen weißen Bergketten im Hintergrund ist der Blick auf das bunte Tulpen-Feld kaum zum satt sehen. Als ich für den Eintritt einen 50-Pesos-Schein zurück erhalte, der mit den Falkland-Inseln bedruckt ist, muss ich wieder unfreiwillig lachen. Der empörte Blick von Mailén zeigt mir aber, ich sollte vorsichtig mit dem Thema sein. Einige meinen das Ernst mit der „Rück“-Eroberung.

Irgendwie sind Wasserfälle immer etwas berauschendes,weil es ja doch nicht so häufig kommt. Wir fahren nach den Tulpen zu einem Waldstück mit verschiedenen großen und kleinen, mächtigen und schmächtigen Wasserläufen. Beeindruckend, dass die hügelige Landschaft, versteckt im engen Nadelwald Patagoniens doch tiefe Schluchten aufweist, die dann zu größeren Wasserfällen führen. Erstmals wird mir versichert, dass ich im berühmten Patagonien bin. Nun fügt sich das Bild zusammen. Die raue Landschaft mit ihren trocken-kalten Pflanzen. Lange Zeit war die Sonne auch etwas vor dem ich in den Schatten geflohen bin und hielt Siesta für eine clevere Idee, aber hier ist sie wieder was wohlig wärmendes.

Doch hat die Natur zunehmend Probleme. So gibt es im nahmen Naturschutzgebiet noch seltene Zypressen, die aber von Käfern befallen sind, die erst durch Tourismus eingeschleppt werden können. Auch größere Tiere, wie Füchse, bringen die kleinen Tiere weiter, aber insbesondere Schuhe sind geeignet sie zu transportieren.

Für besonders schick wird das Nachbarstädtchen Trevelin gehalten. Vielleicht ein wenig schöner mag es sein, aber auch ziemlich zersiedelt. Wie halten am zentralen Platz, der sich angeblich Sonntags in einen wunderbaren Markt verwandeln soll.

Esquel

Esquel an sich

Wieder eine Stadt im exakten Schachbrett, aber deren Straße nur zum Teil asphaltiert sind. Das Leben läuft ruhig ab und Siesta klar zum Tagesablauf. Auffällig sind einige aufwändige Graffiti die auf die Kampagne „No a la Mina“ (in etwa: „Nein zur Mine“) verweisen mit deren Webseite noalamina.org. Wie ich später erfahre geht es um Goldbergbau nördlich von Esquel, der aber überhaupt nicht auf Gegenliebe getroffen ist und deswegen noch auf Eis liegt. Die breite Bevölkerung soll dem Projekt sehr ablehnend gegenüber sein, sodass erstmal nicht damit zu rechnen ist, dass die Firma anfängt zu graben.

An vielen Ecken befinden sich auch „Verdulerías“, das heißt Gemüsehandlungen. Meist verkaufen sie noch Obst und was zum Zubereiten von Gemüße noch so gebraucht wird (Gewürze, Öl, …). Sie sind auch günstiger als die wenigen Supermärkte im Ort. Hier wird noch alles einzeln gekauft, das heißt Brot in der Bäckerei, Fleisch bei der Fleischerei, und so weiter und so fort … Chiles riesige Einkaufszentren hab ich also hinter mir gelassen.

Was mir jetzt erst auffällt, ist auch die abschließende Bauweise mit spitzen Dach. Das zeugt ja vor allem von größeren Niederschlägen oder gar Schneelast. Im Winter könne es tatsächlich auch mal schneien, aber da grad Frühling ist, bleibt die Winterjacke im Haus.

Blick aus meinem Zimmer. Es ist Frühling, der Baum treibt aus.

Zum Akt in der Kleinstadt wird das Geld tauschen. Ich hab noch chilenische Pesos die ich nicht benötige und es gibt nur ein Laden mit regionalen Holzprodukten („La Estacion“), der laut Touri-Info tauschen würde. Ich werde aber erstmal weggeschickt und soll um 12 Uhr wiederkommen, wenn sie wie alle Geschäfte während der Siesta schließt. Gesagt, Getan, da bin ich wieder. Nein, wir haben leider keine chilenischen Pesos. Ich sage, dass ich sie habe und dann geht es doch. Allerdings nur zu schlechten Bedingungen. Warum? Niemand will nach Chile reisen. Chile ist wirtschaftlich stabil, aber Argentinien erlebte oder erlebt noch hohe Inflation. Das kam in der Geschichte Argentiniens schon dutzend Mal vor, sodass ich annehme, dass die Argentinier*innen auch sensibel auf Inflationen anspringen. Der argentinische Peso ist relativ schwach, aber zumindest bekomme ich Geld für die nächsten Wochen.

Am sehr späten Abend wollen Mailén, Freundinnen und ich ausgehen. Da der Freund der Mutter leckeren Tequila ausgeschenkt hat, ging es schon etwas früher los, aber ansonsten trifft sich hier wohl niemand vor um Elf. In modernen Design und gedämpften Licht gehüllt wird eine Unmenge verschiedener Handwerks-Biere ausgeschenkt. Die meisten erinnern aber eher an Irland oder Großbritannien: IPA, Stout und Red Ale haben die Vorrang vor Pilsener. So begann der Abend.

Familienausflug mit Mate

Es ist Wochenende, der Freund der Mutter im Hause, der sonst die Woche über in Bariloche arbeitet. Er hat einen Jeep und wir passen mit dem Extra-Sitz im Kofferraum tatsächlich alle in das Fahrzeug. Interessanterweise nehmen sie alles mit, was ein längeren Ausflug rechtfertigt: Kanu, Angel, Stühle, …

Auch die Oma mit ihrer Schwester bevölkern die Rückbank. Als das Radio Tango anstimmt fallen Mutter, Freund, Oma und Großtante freudig ein und trällern aus vollstem Herzen.

Ich bin voll in der Familie integriert und versuche mich mit allen zu unterhalten, bzw. versuchen sie es auch. Mailén, die gern als Übersetzerin hilfesuchend angeschaut wird, wird nicht müde immer wieder zu erklären, dass ich ja Spanisch verstehe, aber halt nur langsam und klar ausgesprochen. Nicht nur ich lerne während meiner Zeit hier.

Mit dem Ausflug bekomme ich das Gefühl Teil der Familie zu sein. Als wenn ich der Bruder von Mailén wäre. Der echte wohnt auch im Haus, aber geht die meiste Zeit seine eigenen Wege. Es ist schön, einfach zu Hause zu sein. Auch wenn ich gerne unterwegs bin, hier kann ich es mal genießen. Den Rucksack packe ich oft genug. Deswegen: Hier frag ich nach Verlängerung und das wird wohlwollend aufgenommen.

Wir fahren zum Nationalpark „Los Alerces“ und obschon eines der regenreichsten Gebiete ist, haben wir das schönste Wetter. Es gibt einen 80km langen See, der viele verlassene Ecken bietet. Gegenüber erhebt sich eine elegante Bergkette. Sie ist von Bäumen gesäumt, aber leider auch von großen Flächen verbrannter Bäume. Waldbrände nehmen wohl zu und schon in Chile schien das kein unwichtiges Thema zu sein.

Während die älteren Frauen sich dem Mate-Trinken hingeben … bevor ich weiter erzähle … Mate-Trinken! Argentiniens Nationalgetränk. Immer und überall dabei. Das ist ein faustgroßes Gefäß, welches bunt, schlicht, verziert, Leder, Plastik, … alles möglich sein kann, aber es ist meistens bauchig geformt und hat einen wulstigen Rand. Darin steht der Bombilla. Im Prinzip ein innen hohler Teelöffel mit einer siebähnlichen Löffelfläche. Das obere Ende ist wie das Mundstück eines Instrumentes geformt und daran wird mit dem Mund gezogen. Der Bombilla wird nie bewegt und meistens noch nicht mal berührt. Er steht einfach im Becher. Das Gefäß wird Mate genannt, aber auch die Pflanze deren getrocknete und gehäckselte Blätter in die Mate kommen. Nicht wie beim Tee, sondern bis einem fingerbreit unterm Rand wird aufgefüllt. Manche machen nun ein Ritual daraus, dass die Blätter etwas zur Seite geschoben und auf der anderen Seite kommt heißes Wasser. Das zieht kurz und dann kann am Bombilla gesaugt werden. Danach füll ich gegebenenfalls das heiße Wasser wieder auf und reiche es der nächsten Person. Mate-Trinken ist auch eine soziale Tradition, weil immer alle gemeinsam aus einem Mate trinken. Menschen treffen sich zum Mate-Trinken. Aber es kann auch sonst in allen erdenklichen Momenten getrunken werden und es soll schon mit Kleinstkindern losgehen. Während die Mate die Runde macht, kommt das Gefäß immer mal zurück zum Ausgangspunkt um neues heißes Wasser aus der Thermoskanne nachzufüllen. Nach und nach kann der seitlich aufgehäufte Berg genutzt werden um im Becher frische Blätter zu haben.

Immer wieder habe ich Argentinier*innen gesehen die an allen möglichen Orten nach heißen Wasser für ihre Thermoskanne fragen. Auch in den Supermärkten sind die meterlangen Regale zu finden. Die getrockneten Blätter werden dann „Yerba Mate“ genannt. Ich versichere nochmal: Es gibt keinen Ort, wo mensch nicht auch noch Mate trinken kann. Die Mate sollte übrigens nicht mit der Club-Mate verwechselt werden. Das Getränk schmeckt sehr herb und ich würde sagen wie aufgegossene Wiese. Gewöhnungssache.

Zurück: Also die Oma, ihre Schwester und die Mutter setzen sich am Rande des Sees und beginnen das Mate-Ritual. Mit den beiden anderen brechen wir zu einem Spaziergang auf. Durch Nadelwald kommen wir auf einen schönen Aussichtspunkt und passieren Araukarien und kommen an den Fuß eines schönen Wasserfalls. Auf der Plattform unterhalb des Falls werden wir Nass vom Sprühregen. Auf halber Höhe endet der Weg, aber mit etwas Kletterkunst komme ich an das obere Ende vom Wasserfall. Ein Panorama, wie gemalt, öffnet sich. Im wilden Zickzack spritzt das Wasser über die Steine und erreicht die Fallkante um dann mit lauten Brüllen aufzuschlagen und weiter zu flitzen. Alles gerahmt von stolzen hochgewachsenen Bäumen. Die Gipfel verdecken nicht ganz, dass im Hintergrund ein breiter ruhiger See liegt. Darüber wächst die Bergkette …

In Gedenken an alte Zeiten konnte ich es mir nicht nehmen lassen, dann mal in den kalten See zu hüpfen. Nicht lange, weil der gletschergespeiste Pool eher einstellige Temperaturen hat. Aber das Gefühl danach ist einzigartig. Wie neu geboren. Wir müssen dann auch schnell aufbrechen. Ihr wisst schon. Das heiße Wasser ist alle.

Auf der anderen Seeseite wird mir dann noch ein interessanter Baum gezeigt, der eine orange Rinde hat. Die Rinde hat allerdings eine sandige Schicht. Angeblich waren die orangen Bäume der entscheidende Hintergrund für eine Bambi-Verfilmung in der Region.

Asado

Wenn ich schon in einer argentinischen Familie bin, wo Tango gesungen wird und Mate geschlürft. Dann darf auch das Asado nicht fehlen. Sonntags, wenn es passt, wird immer Asado gemacht. Auch das ist typisch Argentinien, so heißt es. Aber … Eigentlich ist das auch nix anderes als ein thüringisches Grillerchen. Die besten Freund*innen und Nachbarn kommen, sodass die Runde immer größer wird und auf dem Grill kommt sämtliches Tier, was in der Region lebt. Viel zu viel natürlich, sodass am Ende immer ein Berg Fleisch übrig bleibt, aber auch das ist bekannt.

Reichhaltig ist der Tisch gedeckt, mit Baguette, gegrillten Zwiebeln, Salate, etc. und es wird – natürlich argentinischer – Wein ausgeschenkt. Da es dann doch mal regnet, endet das Asado am späten Nachmittag.

Am letzten Abend bin ich dann sogar noch zum Theater eingeladen, weil Mailéns Mutter mit auftritt. Dafür bekam ich dann von Mailén, der studierten Politologin, noch eine Erkläreinheit in argentinischer Geschichte vorab. In den Jahren der faschistischen Militärdiktatur sind gut 30.000 Menschen verschwunden, d.h. sie wurden von den Militärs als links eingestuft, ohne Aufsehen in Geheimgefängnisse gebracht, gefoltert und meist ermordert worden. Das hat natürlich Spuren hinterlassen in der Gesellschaft und die Aufarbeitung ist noch nicht abgeschlossen.

Es ist die Uraufführung und das Stück beginnt schon vor dem Einlass. Die Regisseurin gibt einleitende Worte, mit zitternder Stimme. Eine junge Frau auf der Treppe beginnt unerwartet mit dem Stück, ohne dass ich dies erwartet hätte. Doch dann geht alles zu schnell. Nach dem wir sitzen wechseln schnell die Szenen und obschon ich ein ernstes Stück erwartet hatte, ist es doch eher belustigend. Ich bin positiv beeindruckt von der Leistung der Laienschauspieler*innen. Ein knappes Dutzend hat am „Theater für Identität“ mitgewirkt, wie das Stück heißt, was nun auf kleine Tour geht in der Provinz Chubut, wo ich gerade bin.

Mailén trifft dann ihren eigenen Vater, während ich mit den beiden Omis den Heimweg antrete. Als sie aber kurzfristig sich für ein Käffchen (irgendwie ist die Verniedlichung hier allgegenwärtig …) entscheiden, treffen wir dort den Vater, aber nicht Mailén. Ja, die Omis sind schon sehr kurios. Mailéns Oma hat erst vor einem Jahr ihren Ehemann verloren und dann entschieden auf Reisen zu gehen.

Irgendwie bin ich froh dass es auch zu Ende geht, denn ich muss weiter … nicht dass ich mich zum wirklichen Mitglied der Familie entwickle.

Doch Bus

Mailén hat viele gute Erfahrungen mit Trampen geteilt und ich bin doch wieder motiviert es zu wagen. Voller Hoffnung stehe ich in aller frühe auf und bin schon um 7 mit dem Daumen an Esquels einziger Verbindung gen Osten, Süden und Norden. Fünf Stunden, so nehme ich mir vor, dann geh ich zum Busbahnhof. Gegenüber von mir ist eine Kaserne und ich sehe wie die Soldat*innen Frühsport machen, wie frische Brote geliefert werden und wie sie ausreiten. Ja tatsächlich, Argentinien unterhält als eines der letzten Länder tatsächlich noch eine moderne Kavallerie, also berittene Soldat*innen für den modernen Ernstfall. Viel passiert sonst nicht. Ich wandere mit der Sonne etwas nach hinten und schaue mir ein feierlichen Konvoi hinter einem Leichenwagen an. Offensichtlich eine Beerdigung steht bevor.

Aber was soll ich sagen. Ich stand lange, aber ich hab nur drei Fahrten nach Bariloche (Norden) angeboten bekommen, will aber an den Atlantik (Osten). Stundenlang rasen die Autos an mir vorbei, machen wirre Handbewegungen, aber für mich ist nix dabei.

Niedergeschlagen geht es die zwei Kilometer zurück und der nächste Bus fährt erst um 22 Uhr. Das war nicht ganz einfach herauszufinden, weil die argentinische Aussprache sich deutlich unterscheidet. So wird das „Du“, was sonst ein „tu“ ist, zum „vos“. Alle Buchstaben die wie ein „j“ klingen werden zum „sche“. Dann noch alles schnell aussprechen und zusammenenziehen und schon heißt die Busfirma „Mar y Valle“ „Mariwasche“. Ich such tatsächlich erstmal eine Busfirma mit dem Namen Marie … Naja, so ist das Leben.

Was mach ich den restlichen Tag … Ich schau dem Touri-Zug zu, wie er Esquel verlässt. Ja, es gibt auch einen Zug, aber der ist teuer und fährt auch zu keinen spannenden Ort. Ich wärme mich mit Buch und Snack in der Sonne und als die kalte Nacht herreinbricht, fiebere ich schon dem Bus entgegen. Über Nacht ans Meer.

 

PS.: und hier ist Esquel auf der Argentinien-Karte …