Mrz 28 2019

Keine Blume

Von Karl

Montevideo

 

Montevideo nimmt uns erst im Zentrum und dann bei einer Freundin Azuls am Rande der Stadt auf. Es ist eine schöne Großstadt mit Graffiti und einer sehr langen Küste. Von einem einfachen Fußweg, über einen breiten Boulevard bis hin zu schönen Sandstränden wechselt sich alles immer wieder ab.

Jeden Abend ist ein goldener Sonnenuntergang zu sehen. Ich genieße die Zeit in Montevideo und wir versacken etwas bei Azuls Freundin. Sie scheinen nicht ganz arm zu sein, denn der Vater ist Oberst der Armee. Eine eher konservative Familie.

An Montevideos Küstenstraße findet sich auch ein Holocaust-Gedenkort, da viele Menschen, insbesondere Jüdinnen und Juden mit Beginn der faschistischen Diktatur in Deutschland hierher kamen. Auch ein später Ausgebürgerter stattete Montevideo ein Besuch ab: Albert Einstein.

In Tradition der schwarzen Emigrant*innen organisieren deren Vereine einen riesigen Umzug in den Straßen Montevideos. Als wir an die entsprechende Straße im Zentrum kommen, ist der Umzug schon im vollen Gange. Die einzelnen Gruppen tragen eigene Wimpel voran, allerdings in riesiger Dimension. Übertroffen wird das ganze noch von den folgenden unzähligen Fahnen-schwenker*innen. Solch große Flaggen habe ich nur selten gesehen und stelle es mir unheimlich anstrengend vor solch riesige Flaggen zum flattern zu bringen, ohne gleich alle Menschen am Straßenrand eine überzuwischen.

Fast scheint es als wenn sie zu der getrommelten Musik noch tanzen würden. Dies machen dann doch eher die Tänzer*innen, die sich auch in das farbige Muster ihrer Gruppe einfügen. Abschließend kommen dann noch die Musiker*innen, die eine schnelle und rhythmische Musik auf die Straße fegen, sodass das Blut in den Adern tanzt. Es ist gute Laune in ihrer Reinform und viele erfreuen sich dem Spektakel Bier trinkend am Straßenrand.

Teil der Tradition ist es auch, dass Spielsachen an Kinder verteilt werden, die vorher gespendet wurden. Aus langsam rollenden Kleinbussen heraus versuchen die Organisator*innen der Traube an Kindern gerecht zu werden und zu überblicken, wer vielleicht schon Geschenke bekommen hat. Angesichts dessen, dass die Busse voll sind, wohl erst recht ein anstrengendes Unterfangen. Wir sitzen in der Sonne und wippen im Takt der Musik und dem Bier in der Hand. So muss das Leben sein.

Es gibt zudem eine gedehnte Fußgänger*innen-Zone, die beim Präsident*innen-Palast beginnt und dann in einen Steg mündet, auf dem unzählige Fischer*innen ihre Angeln ins Hafenbecken lassen. Das Teatro Solis bietet in einem Nebengebäude übrigens in regelmäßigen Abständen kostenlose Vorstellungen an, deren Plätze am Abend schnell vergeben sind.

Auch Montevideo gilt an vielen Ecken als sicher, trotzdem ist es wohl besser die meisten Stadtteilte nachts zu meiden. Eine typische Erfahrung musste ich wieder machen, als es nur darum ging den Bus zum Busbahnhof zu finden, der auch nur fünf Minuten entfernt ist. Trotzdem war ein jede*r die wir fragten anderer Meinung wo und welche Busse dafür abfahren. Von „hier fährt da gar nix ab“ bis „ihr könnt jeden Bus nehmen“ war alles dabei. Wie das sein kann, bleibt mir ein Rätsel.

Wie ich schon im letzten Post beschrieben habe, hatte bis 2015 Uruguay einen besonderen Präsidenten. Aufgrund einer Doku und auch in Wikipedia ist es zu lesen, wusste ich das Pepe von Beruf Blumenzüchter ist und diese dann auch an der Straße verkauft. So generierte ich die Idee eine Blume von ihm zu kaufen, um ihn vielleicht zu sehen und meine Anerkennung auszusprechen.

Das war auch die Hauptmotivation Montevideo zu bereisen, denn andere Reisenden beschrieben die Stadt immer als grau und langweilig und rieten dazu, gleich weiter nach Punta del Este zu reisen. In Montevideo sprach ich mit unseren Gastgebenden darüber und sie verstanden, dass ich Cannabis kaufen möchte. In Uruguay wird das Cannabis auch als „Pepes Blumen“ bezeichnet. Das wäre auch gegangen, denn es bedarf wohl nur einer Registrierung in der Apotheke, dann ist der Erwerb möglich.

Da mir aber an dieser Art Pflanzen nichts gelegen war, mussten wir unseren eigenen Recherchen anstellen. Viele vermuteten auch, dass wir ihn nicht treffen werden, da er immer noch Senator ist und vor allem „wichtige“ Leute trifft. Wir ließen uns nicht entmutigen.

El Pepe

5 Uhr morgens brachte uns der Wecker auf die Beine. Es ist auch unser letzter Tag, sodass wir schon mal die Rucksäcke mitnehmen, die wir dann im Busbahnhof sicher abgeben. Dabei wird mein Rucksack gewogen. Zum ersten Mal erfahre ich was ich seit Monaten mit mir rumschleppe und vermutlich war alles mal schwerer: 22,5 Kilogramm. Nicht grad wenig.

Wir fragen nochmal wegen den Bussen und auch hier wird uns nicht viel Erfolg vorhergesagt. Wir nehmen den ersten Bus. Schon verfahren wir uns und hangeln uns weiter von Bus zu Bus. Zwischenzeitlich sind wir in ärmlicheren und gefährlichen Stadtvierteln Montevideos. Immer weiter und mittlerweile bereiten wir unser Mittag zu. Nach knapp vier Stunden verlässt der vierte Bus die urbane Landschaft und nun folgen viele kleine Bauernhöfe mit vergleichsweise kleinen Feldern. An einer Blech-Haltestelle finden wir den Schotterweg, den wir suchen und der zu Pepes Anwesen führen soll.

Uns kommt ein brasilianisches Pärchen entgegen, was uns bestätigt dass wir nicht falsch sein können. Linker Hand befindet sich eine weitere Chacra. So heißen die kleinen Bauernhöfe. Rechter Hand ein Feld, das noch nicht ausgetrieben hat.

Dann kommen wir an ein größeres Backsteingebäude, dass wohl die Schule sein soll, die Pepe unter anderem spendete. Direkt davor ein Betonklotz mit der Aufschrift „Stop“. Nun kommt uns ein einzelner Polizist entgegen. Ohne groß zu warten was unser Anliegen ist, erklärt er, dass Pepe beschäftigt ist, ohnehin viele Leute kommen würden und wir Verständnis haben sollen, dass er seine Ruhe möchte. Wir haben nun auch nicht mehr erwartet und unterhalten uns mit dem redseligen Polizisten.

Er ist eine Art Filter, so erklärt er weiter, um festzustellen wer weiter fahren darf und wer nicht. Er belebt einen Schiffcontainer der entsprechend eingerichtet wurde. Nichts besonderes also. Er berichtet, dass täglich im Schnitt 50 Leute kommen würden und die allermeisten mit eigenem Auto. Darunter auch Verrückte, so ist ein Mann bekannter geworden, der um Adoption gebettelt hatte.

Wir unterhalten uns weiter und ich beobachte wie auf dem Weg ein roter Trecker herangerollt kommt. Ein alter Mann fährt, während links und rechts je ein schwarz gekleideter junger Mann sitzt. Ich denke mir nichts dabei, bis der eine Mann anfängt mich heranzuwinken.

Erst denke ich: ich kann nicht gemeint sein. Ich schaue hinter mich, und nochmal zu den Mann und tatsächlich nur ich kann gemeint sein. Ich mache Azul und den Polizisten darauf aufmerksam. Der Polizist dreht sich um und dann wieder zu uns. Er grinst breit und sagt: „Ihr habt Glück“. Der alte Mann vom Trecker huscht geduckt in den weißen Container. Es ist el Pepe.

Azul und ich hatten im Vorfeld natürlich darüber gesprochen, was wir gegebenenfalls machen, aber doch hat niemand dran geglaubt und entsprechend lapidar war unsere Vorbereitung. Noch ungläubig gehen wir die letzten fünfzig Meter und hinein in den Container. Es sieht aus wie ein typischer Baustellencontainer. Alles mögliche fliegt herum, etwas dreckig, Spinde in der Ecke, mehrere Schreibtische und alte Plastikstühle.

Pepe hat sich schon in einem der grünen Stühle breit gemacht und sein netter Begleiter stellt uns auch noch Stühle hin, dann stellen sie sich vor den Eingang. Nun, da sitzt er nun vor uns. Kleine Äugchen luken aus einem verschmitzten Gesicht, was von ernsten Zeiten geprägt ist. Die altersweisen Haare hängen wirr auf dem Kopf. Das helle Hemd ist schmutzig von der Feldarbeit und der Wohlstand hat den Bauch geformt. Nichts deutet darauf hin, dass wir einem Ex-Präsidenten gegenüber sitzen. Alles deutet darauf hin, dass ein gewöhnlicher Bauer der Region vor uns sitzt.  Ich verfluche mein schlechtes Spanisch und noch viel mehr, dass ich Pepes Genuschel kaum verstehe. Azul wird zur Dolmetscherin, ist aber auch selbst schwer angetan.

Ich frage ihn zum Fairen Handel und möchte seine Meinung dazu wissen. Er meint nur, dass es eine Möglichkeit ist und macht die Ungerechtigkeit am Import von Kakao aus Afrika nach Europa deutlich. Azul fragt nach Bolivien. Bolivien steht an einem Scheideweg und 2019 stehen Wahlen an. Evo Morales hat viel für das Land geleistet, ist aber verfassungsrechtlich schon eine Amtszeit länger im Amt als vorgesehen. Er macht Anstrengungen die Demokratie auszuhebeln. Widerstand formt sich in Bolivien. Pepe fragt sie nach ihrem Alter und verweist indirekt auf die Zeiten und die Errungenschaften Morales in den Jahren zuvor. Zur jetzigen Situation mag er nichts sagen, er sei doch nur ein alter Mann. Er strahlt Bescheidenheit aus.

Pepe lässt sich Zeit und dreht sich eine Zigarette nach der anderen. Ohne Filter versteht sich und mit bloßem Papier. In der halben Stunde, hat er bestimmt fünf Zigaretten verraucht. Er spricht davon, dass viele Politiker*innen das hohe Einkommen nutzen um dann wie die Reichen zu leben und somit Politik nicht mehr für die Armen machen. Ihn ist es aber wichtig unter den Armen zu bleiben um für sie Politik machen zu können. Er ist immer noch Senator und seine Frau ist Vize-Präsidentin.

Viele der Dokus scheinen ihm nicht so zu gefallen. Nun kam sogar ein Spielfilm, der seine 12 Jahre im Gefängnis thematisiert. Als unter der Militärdiktatur linke Aktivistis verfolgt wurden, saß auch er ein, denn er war Mitglied einer kommunistischen Guerillabewegung, den Tupamaros. Doch es sei auch einiges wahr in den Filmen.

Wir unterhalten uns weiter über Ungerechtigkeit. Er macht aber immer wieder klar, dass er doch nur ein einfacher Bauer ist. Ich frag ihn nach den Blumen. Gerade sei nicht die Saison für Blumen; und die Leute würden zunehmend aus China importierte Plastik-Blumen auf die Gräber legen. Die Tomaten sehen aber grad prächtig aus, fügt Pepe noch hinzu. Zu guter Letzt machen wir noch ein gemeinsames Photo und bedanken uns. Er haut uns großväterlich auf den Kopf und meint, als er uns sah, wollte er uns kennen lernen. oder anders gesagt: Pepe entschied uns willkommen zu heißen.
Mit stolzgeschwellter Brust machen wir uns auf dem Weg zurück. Der eine Kollege Pepes rauscht dann noch mit dem berühmten blauen VW Käfer an uns vorbei und grüßt uns freundlich. Ich grinse immer noch.


Mrz 11 2019

Herzlich Willkommen bei Azul (Santa Cruz #1)

Von Karl, Natal, 10. Februar 2019

Santa Cruz de la Sierra

Der folgende Beitrag ist ziemlich ziemlich lang geworden. Deshalb habe ich mich entschieden ihn zu teilen und täglich zwei Kapitel zu posten. Es sind insgesamt 10 Kapitel.

Santa Cruz #1

Herzlich Willkommen …

… in Santa Cruz de la Sierra, der offiziell größten Stadt Boliviens. Gut, das zusammengewachsene Gebiet von La Paz und El Alto ist wohl etwas größer. Santa Cruz ist jedoch wirtschaftlich bedeutend und vergleichsweise wohlhabend. Sie liegt im bolivianischen Osten und nicht mehr in den Anden. Umgeben von Ackerland und klimatisch auf dem Übergang zwischen Regenwald und Chaco, einer Art Savanne. Santa Cruz beherbergt den wichtigsten internationalen Flughafen Boliviens und die zweitgrößten Erdgasvorkommen Südamerikas. Fast 1,5 Millionen Menschen beherbergt die Großstadt die sich von Innen nach Außen ringförmig ausbreitet. Die großen Ringstraßen heißen Anillos und sind neben den Ausfallstraßen die Herzschlagadern der Stadt. Sie dienen den Cruzeños, den Einheimischen Santa Cruzes, auch zur Orientierung. Hinter dem vierten Ring franst die Stadt langsam aus und die enge Bebauung und Asphaltierung nimmt ab. Insgesamt gibt es wohl aber – je nachdem wen mensch fragt – sieben bis über zehn Anillos..

Das Herz der Stadt bildet der Plaza 24 de Septiembre. Ein schöner übergrünter Platz der besonders nach Sonnenuntergang zum verweilen einlädt. An dessen Rand stehen mehr oder weniger wichtige Gebäude. Vom Kirchturm aus hat mensch einen lohnenden Ausblick.

Einen halben Block entfernt und ziemlich versteckt gibt es einen Souvenir-Händler-Hinterhof zwischen wunderbaren Bäumen.

Hinter der Kirche befindet sich ein weiterer Platz den einige Jugendliche nutzen um gemeinsam zu Rappen. In Gruppen stehen sie beisammen und geben zum besten, was sie können. Eine engagierte Frau, die das organisiert hat, springt zudem zwischen Ihnen herum.

Das Rückrat der Stadt bilden die vielen tausend Micros. Im Prinzip Klein-Busse mit Platz für ein Dutzend Menschen. Auf festen Linien flitzen sie durch die Straßen. Dabei ist sowohl Richtung, als auch Nummer und Farbe der Nummer oder des Schildes entscheidend. Bezahlt wird beim Einsteigen an die Fahrerin oder den Fahrer. 2 Bolivianos kostet einmal einsteigen, das sind circa 50 Eurocent. Wer weiter entferntere Ziele ansteuert muss die Abfahrtsorte der Trufis aufsuchen. Es sind im Prinzip die selben Fahrzeuge, aber deutlich höheren Distanzen. Colectivos dagegen meinen dann schon Reisebusse die Großstädte verbinden und auch über Grenzen hinweg fahren.

Azul

Mit einem eben dieser Colectivos bin ich noch sehr früh am morgen in Santa Cruz angekommen. Am relativ neuen Bus- und Zugbahnhof fahren viele Micros vorbei, sodass ich ruckzuck im Zentrum bin. Drei Blocks vom Plaza 24 de Septiembre entfernt logge ich mich wie abgemacht ins Wifi ein und setze eine Nachricht ab. 10 Minuten später werde ich begrüßt und kann eintreten. Azul heißt meine neue Gastgeberin. Sie ist relativ klein, hat schwarze Haare, die sie teils lila gefärbt hat. Das lächelnde Gesicht ist voller Neugier und Ungeduld. Sie bewohnt ein bescheidenes Zimmer ohne Küche und kleinem Bad. Sie ist ein tolles Beispiel, dass es nicht viel braucht um ein*e Gastgeber*in zu sein.

Wir kommen schnell ins Gespräch und sie erzählt mir, dass sie sogleich zur Blutspende gehen mag. Sofort möchte ich auch spenden und wir wagen den Versuch. Ein flaches Gebäude, ähnlich eines kleinen Krankenhauses, empfängt uns nebst vielen weiteren Spender*innen. Ich werde registriert und auch zugelassen. Anders als von Deutschland gewohnt spende ich nicht für irgendwen, sondern für eine bestimmte Person. Eine entfernte Bekannte in Oruro braucht wegen Krebs eine bestimmte Anzahl Spenden und deren Familie versucht nun viele Menschen zum Spenden zu motivieren. Ich werde befragt, gewogen, vermessen und Blutproben genommen. Auf einer Glasplatte wird mein Blut in Augenschein genommen und im letzten Schritt geht es dann zum Spenden. Für Azul ist es das erste Mal und tatsächlich wird ihr ziemlich schwindlig, aber wir überleben heil. Ein gutes Gefühl macht sich breit.

Endlich erhalte ich auch Gelegenheit jemanden nach der „21F-Bewegung“ beziehungsweise „Bolivia dijo no“ (zu deutsch: Bolivien sagte Nein; wahlweise auch mit Namen der jeweiligen Stadt) zu befragen. Auf dem Plaza 24 de Septiembre haben sich auch einige Hungerstreikende versammelt. Bald sind Wahlen in Bolivien und Santa Cruz ist traditionell im Widerspruch zu La Paz. Es wird das Ende der Demokratie beschworen. Tatsächlich versucht Evo Morales erneut Präsident zu werden und er spaltet das Land. Er kann leider nicht von der Macht lassen. Die armen Menschen unterstützen ihn aber, weil er in der Vergangenheit viel für sie geleistet hat. Keine einfache Situation. Deshalb ist die 21F-Kampagne auch eher eine der Wohlhabenderen. Ihre Verankerung in der Gesellschaft ist relativ gering, doch sie sind auf vielen Plätzen der größeren Städte lautstark vertreten. Leider ist das Kaufen von Protestierenden wohl nicht unüblich, meinte Azul. Es gibt viele arme Menschen, die für etwas Geld in den Straßen für Aufruhr sorgen. Ob überzeugte oder bezahlte auch für die Zerstörung der Glasfront einer Bank im Zentrum zuständig waren, ist mir nicht bekannt.

Proteste sind nicht selten und so verwundert es nicht, dass wir Tage drauf einem vergleichsweise großen Protestmarsch von Krankenhaus-Mitarbeitenden sehen. Sie machen einen relativ entschlossenen Eindruck und zum Repertoire gehört auch Pyrotechnik. Scheint eher normal als besonders zu sein. Polizei die sich darum kümmert, habe ich keine gesehen.


Nov 1 2018

Eine Stadt mit Seilbahn und Tal – Ein Land mit Pulli und Lederjacke

Von Karl

 

La Paz, El Alto, Bolivien

Nun bin ich also in Bolivien und unser erster Aufenthalt ist gleich La Paz, in dem sich auch der höchstgelegene Regierungssitz der Welt befindet. Die Hauptstadt allerdings ist Sucre, die größte Stadt, die sich mehr im Zentrum des Landes befindet. La Paz liegt im Westen und ist durch seine Tal-Lage geprägt. Zwischen 3200 und 4100m befindet sich das Stadtgebiet, das am oberen Tal-Rand fließend in das angrenzende El Alto übergeht. Der Name sagt es schon, denn El Alto heißt so viel wie „die Hohe“, El Alto liegt hoch und ist nochmal größer als La Paz selbst. Eigentlich könnten beide auch eine Stadt sein und dann wäre es auch die größte Boliviens. Knapp 2 Millionen Menschen lebten in dieser. Auf dem Weg nach La Paz muss mensch fast immer durch El Alto fahren, sodass auch wir am Übergang der beiden Städte einen kurzen spektakulären Ausblick vom Tal-Rand aus auf La Paz bekamen.

Hauptverkehrsstraße in El Alto

Die Höhe wirkt sich auf das Klima aus, und damit auf die Einkommensverteilung. In La Paz‘ Süden lebt es sich wärmer, tiefer und moderner. Einfamilienhäuser, fast wie in Westeuropa. Sogar Supermärkte, was in Bolivien tatsächlich etwas ungewöhnliches ist, weil schon in La Paz‘ höheren Norden sind die Straßen voll mit Verkaufsständen, Regierungsgebäuden, ärmer und auch touristischer. Weiter nördlich und westlich schließt sich dann El Alto an. Hier geht es im Winter (Juli) schon in den Minus-Bereich. El Alto, aber auch Bolivien als solches, ist durch Indigene Gruppen geprägt. So leben in El Alto drei Viertel Aymara-Sprechende. Auch ist Bolivien eines der ärmsten Länder Südamerikas. Über 50 Prozent der Bevölkerung El Altos sind unter 20 Jahre, was auch an der hohen Landflucht liegt. 70 Prozent leben unter der Armutsgrenze und die meisten Haushalte haben weder Strom- noch Wasseranschluss.

El Alto ist in gewisser Hinsicht also das Armenhaus zu La Paz‘ Reichtum. Boliviens Besucher*innen landen größtenteils im Zentrum von La Paz‘, was aufgrund der einzigen Ausdehnungsmöglichkeit nach Süden, im Norden liegt. Auch wir haben unsere Unterkunft nahe der touristischen Hauptroute bezogen und sind froh als wir in dieser gebirgigen Stadt unsere Rucksäcke ablegen können.

Blick auf La Paz

Hexenmarkt

Noch des Abends machen wir einen Rundgang durch unsere Gegend und zum ersten Mal erleben wir, dass so gut wie alles an der Straße verkauft wird. Offizielle Geschäfte gibt es nicht. Zufällig biegen wir auch in den Hexenmarkt ein, der als touristisches Highlight angepriesen wird. Aber an sich hat er eine ernste Funktion. Der Markt verkauft vieles von dem, was für indigene Rituale gebraucht wird. So wird oft Pachamama („Mutter Erde“) gehuldigt in dem ihr Sachen gespendet werden und sie mag wohl gerne Geschenke und am liebsten Alkohol. Insbesondere beim Hausbau wird auf gutem Segen vertraut und deshalb wird ein totes Baby-Lama oder –Alpaka im Fundament mit eingegraben. Dafür werden nicht extra welche gezüchtet, sondern Halter*innen verkaufen ihre, die beispielsweise durch Krankheiten, Kälte oder Unfälle gestorben sind. Als wir aber an den Ständen des Hexenmarktes vorbei liefen, ist es doch etwas unheimlich, dass unzählige tote ausgetrocknete Baby-Lamas über der Laden-Theke baumeln.

Wir erfahren auch, dass für größere Bauvorhaben auch größere Opfer erbracht werden müssen. So werden obdachlose Alkoholiker*innen befragt, um herauszufinden, ob sie von jemanden vermisst werden, bevor sie dann völlig betrunken, aber lebend begraben werden. Das Leben muss nämlich Pachamama ihnen nehmen. Sollte das Ritual unterbleiben, so werden Tote beim Bau oder im Haus später darauf zurückgeführt, dass die Pachamama sich ihre Opfergabe holt. Wir haben uns lieber während unseres Aufenthaltes in La Paz vom Alkohol fern gehalten. Sicher ist sicher.

Das indigene Leben spiegelt sich vielfach in den Straßen wieder. Besonders die Frauen tragen weite mehrlagige Röcke, verschiedenste Hüte, von denen manche der neuste Schick im 20sten Jahrhundert waren, feine Sandaletten und oft Schürzen oder gestrickte Pullover. Die langen Haare zu zwei Zöpfen gemacht und mit gestrickten Bommeln verlängert. Auf dem Markt gibt‘s die Haarverlängerungen zwischen den Wollsachen zu kaufen. Auf dem Rücken werden in bunten Decken, die vorne verknotet werden, allerlei Sachen transportiert. Der Einkauf, die Auslage für den Markt, das eigene Kind oder was auch immer zu transportieren ist.

Auf den Märkten sind vor allem die indigenen Frauen, die die Sachen verkaufen. Zum Teil entwickeln Käufer*innen und Verkäuferinnen eine enge Bindung, das heißt, menschen gehen immer zur selben – also zu ihrer – Verkäuferin. In Marktgesprächen weiß die Verkäuferin dann nicht nur was mensch kaufen möchte, sondern in etwa so viel wie die eigene Mutter, oder gar noch mehr. Mensch kann also auch mal sein Herz ausschütten, Bestätigung finden oder was sonst noch los ist. Es gehört wohl zum bolivianischen Leben dazu, seine Verkäuferin des Vertrauens zu finden, wo mensch jedes Mal die Sachen kaufen geht und einen Schnack hält.

Männer dagegen tragen weniger oder kaum traditionelle Kleidung. Der indigene Schick ist zwar in Bolivien deutlich zu sehen, ist aber auch beispielsweise in Peru anzutreffen und variiert deutlich von Region zu Region.

Minibusse bestimmen den Stadtverkehr (wie hier in El Alto)

Seilbahn

Zwischen den ganzen Märkten, die unglaublich lang und weitläufig sind, schlängeln sich die vielen kleinen Micros bzw. Kleinbusse. Neun-Sitzer mit einer Nummer und lauter Schildern in der Windschutzscheibe, wo es überall hingeht. Sie sind fast die einzigen Fahrzeuge in La Paz und El Alto. Die hellen kleinen Busse fahren auf festen Routen durch die Stadt und halten, wenn mensch sie ranwinkt oder wenn mensch grad aussteigen will. Haltestellen gibt es nicht beziehungsweise sind so gut wie überflüssig. Ein System was weit über La Paz hinaus seine Anwendung findet. In La Paz gibt es einige hundert Routen, sodass Nachfragen ob dort oder wo der Bus hinfährt, der Standard ist.

Ein weiteres öffentliches Verkehrsmittel sind die Seilbahnen, die zum Teil noch im Bau sind. Von Stationen aus geht es mit einem Schwung schnell in luftige Höhen. Eine gute Möglichkeit einen Blick über die Stadt zu bekommen, ist die rote Linie, die am alten Bahnhof von La Paz auf 3800m startet und dann am Rande von El Alto auf 4100m endet. Direkt schließt sich die blaue Linie in El Alto an, die dann tief nach El Alto hineinführt.

Besonders auf der blauen Linie wird Propaganda für einen Zugang Boliviens zur Pazifikküste betrieben. Schon im 19. Jahrhundert (Salpeterkrieg) verlor Bolivien den Zugang zum Pazifik, was wirtschaftlich ungünstig ist. Neben Paraguay ist Bolivien das einzige Land Südamerikas ohne Zugang zu einem Ozean. Die ehemals bolivianische Pazifikküste ist schon länger Teil von Chile, aber Bolivien und auch Evo Morales fordern weiterhin einen eigenen Zugang.

Evo Morales

Evo Morales ist aktueller und berühmtgewordener Präsident des Landes. Seit Amtsantritt trägt er bei allen öffentlichen Auftritten sein Chompa, eine Art indigener Pullover. Da dieser aus teurer Vicuña-Wolle gefertigt ist, ist er vergleichbar mit teuren Anzügen der westlichen Welt. Darüber trägt er dann eine Chamarra, eine Art traditionelle Lederjacke. Die Bilder, wo er anderen Staatspräsident*innen mit Pulli und Lederjacke die Hand gab, gingen um die Welt. Grund dafür, ist seine Betonung der indigenen Rechte und seiner indigenen Herkunft.

Morales stammt aus ärmsten Verhältnissen. Teils gab es nur Maissuppe zu essen. Er hat kaum die Schule besucht. Seine politische Karriere begann er im Sindicato, eine Art Dorfversammlung. Neben den offiziellen Strukturen, gibt es oft indigene Strukturen, die eine Selbstverwaltung und Selbstorganisierung darstellen. Insbesondere als durch den Druck der USA der Koka-Anbau bedrängt wurde, bekam der nun Anführer der Koka-Bäuer*innen-Bewegung gewordene Morales, Auftrieb. Seine Politik gilt als populistisch, anti-USA und anti-imperalistisch. Mittlerweile soll er bei den Indigenen und Koka-Bäuer*innen wieder an Rückhalt verlieren.

Als wir in La Paz an einer Führung teilnahmen, endete diese in einem Hinterzimmer eines Restaurants. Grund dafür ist, dass wir so leichter über Politik reden können. Das Land ist gespalten und stark politisiert. Für oder gegen Morales ist auch eine emotionale Frage. Öffentlich über Politik zu reden, kann dazu führen, dass schnell mal jemand wutentbrannt dazwischengeht. Zudem wird er teils als „Trump Boliviens“ bezeichnet. Seine Art sei es wohl, kaum nachzudenken und einfach Sachen öffentlich zu sagen. Einmal meinte er, dass Coca-Cola und Hühnchen schwul machen und ein paar Tage drauf wurde er dann mit Cola und Hühnchen photographiert. Danach musste er zurückrudern. Beispiele für diese unüberlegten Äußerungen gibt es viele. Auch ist er ein Befürworter der Kinderarbeit als kulturelle Eigenheit Boliviens. Kinderarbeit ist tatsächlich weit verbreitet in Bolivien, aber auch in anderen Anden-Staaten, weswegen es aber nicht gut sein muss. An vielen Verkaufsständen beispielsweise begegnen einen Kinder.

Gleichwohl hat er viel für Bildung, Sport und Gesundheit, insbesondere im ländlichen Bereich getan und die Rechte der Indigenen gestärkt. Auch was Diskriminierung als solches betrifft, gab es Fortschritte. Neben der offiziellen bolivianischen Flagge ist auch die indigenen Flagge offizielle Staatssymbolik und jede*r Soldat*in trägt diese auf der Uniform. Zudem auch die blaue Seekriegs-Flagge, die den Anspruch auf einem Zugang zum Pazifik unterstreicht.

Von der Macht wieder lassen, kann er allerdings nicht. Normalerweise können nur maximal zwei Amtszeiten für einen Präsidenten möglich sein, aber durch eine Verfassungsänderung wurde Bolivien von „Republik Bolivien“ in „Plurinationaler Staat Bolivien“ umbenannt, wodurch Morales argumentiert, dass ja ein neuer Staat entstanden sei und neu gezählt werden müsse. Noch macht er nicht den Anschein, dass er pünktlich aufhören wird. Auch bei den Seilbahnen in La Paz und El Alto hatte Morales mitgewirkt und verkauft das Projekt als sein Erfolg, sodass er omnipräsent von einigen Großflächenplakaten winkt.

Am zentralen Platz der Stadt steht auch das Kongressgebäude. Dessen Uhr läuft linksrum. Grund dafür ist, darauf aufmerksam zu machen, dass das Land auf der Südhalbkugel liegt. Uhren laufen rechtsrum, weil eine Sonnenuhr auch rechtsrum läuft. Allerdings nur auf der Nordhalbkugel. Auf der südlichen Hemisphere läuft sie linksrum, deswegen ist diese Uhr linksrum, also gespiegelt.

Flohmarkt

Unsere Zeit in La Paz haben wir genossen. Ein guter Grund nach El Alto mit der Seilbahn zu fahren ist der zwei Mal die Woche stattfindende Flohmarkt. Direkt an der oberen Endhaltestelle der roten Seilbahn. Hier gibt es alles. Diesmal übertreibe ich nicht. Soweit das Auge blicken kann, reihen sich Stände aneinander und es kann wirklich alles erstanden werden. Zu unglaublich günstigen Preisen sogar. Bezahle ich normalerweise ca. 1 Euro pro Gigabyte, wenn ich eine Mini-SD-Speicherkarte kaufen würde. Hier habe ich eine 128 GB Speicherkarte für 100 Bolivianos erstanden. Das sind 12 Euros. Wir sind glotzend durch die Reihen gewandert, für Stunden, ohne wirklich ein Ende zu finden. Ein großes Glas frisch gepresster Orangen-Saft zum sofort austrinken: 1,5 Bolivianos (18 Cent).

Damit endete auch unsere Zeit in La Paz und wir sind zurück zum Busbahnhof gekehrt. Über Nacht geht es weiter nach Süden!