Jun 26 2018

Der alte Mann und das Meer

von Rosa

Die letzten Stunden vor den Sommerferien vergingen immer besonders langsam. Zwar wurde nicht mehr viel gemacht, ein Film geschaut oder Bankrutschen gespielt, aber umso unnötiger kam mir die Wartezeit dann vor. Viel lieber wollte ich meinen Schulranzen in die Ecke schmeißen und den Koffer für den Urlaub packen. Endlich Sommer, Sonne, Strand und Meer!

Doch dann kam alles ganz anders. Stau auf der Autobahn, die Taucherbrille vergessen und an der Ostsee 19 Grad und Regen. So ähnlich ging es mir mit Trujillo, der am Pazifik gelegenen und größten Stadt Nordperus. Endlich wieder Strand nach zwei Monaten in Brasilien und Peru, endlich wieder Wärme nach vier Wochen im Hochland und endlich wieder Sonnenschein nach drei Tagen Miesepeter-Nieselwetter in Lima – dachte ich. Die Wetterapp versprach 34 Grad und keine Wolke am Himmel. Wie ich später herausfand, gibt es wohl mehrere Trujillos in dieser Welt. Nach der Busfahrt, seit der ich endlich weiß, wie sich Ölsardinen in einer Dose fühlen, war ich zwar froh aus dem Bus zu fallen und mich wieder bewegen zu können, aber ich fiel auch von meiner Traumwolke. Der Himmel über Trujillo in tiefstem grau, das Meer nicht zu sehen und höchstens 19 Grad Ostseewetter. Manche Tage fangen eben so an, wie der vorhergehende aufgehört hat. So wie die Suche nach einem Busticket am Vortag, gestaltete sich auch die Suche nach einem Hostel in Trujillo schwierig. Unsere Erfahrung einfach mal drauf loslaufen und spätestens nach 200 Metern findet sich eine Unterkunft sollte sich in Trujillo nicht bestätigen.

Bepackt mit unseren Rucksäcken machen wir uns auf Richtung mehr. Doch kein Schild mit „Hospedaje“ weit und breit zu sehen. Bis zum Meer schaffen es die Füße nicht. Entnervt geben wir auf und fahren mit dem Taxi zurück zum Hauptplatz der Stadt, der in Peru fast immer „Plaza de Armas“ heißt. Kein guter Start für uns in Trujillo. Für die peruanischen Fußballspieler bei der WM auch nicht. In den letzten Tagen haben wir zahlreiche Stände mit Fußballartikeln in rot-weiß gesehen. An diesem Morgen begegneten uns viele Menschen in Trikots und mit geschminkten Fahnen im Gesicht. Man war aufgeregt vor diesem ersten Spiel bei einer WM nach 36 Jahren. Fußball im Fernsehen, auf den Straßen und das Smalltalk-Thema Nummer Eins. In den Geschäften kleben die Menschen vor den Fernsehern, ab und zu dröhnt ein Raunen aus den Restaurants. Doch keiner jubelt. Auch wir haben wenig Grund zum Jubeln. Aus dem Taxi ausgestiegen, spricht uns ein Tourguide an, ob wir ein Hostel suchen. Wir trotten dem kleinen Mann hinterher. Das Zehnbettzimmer, was er uns anbietet, ist zu eng und seinen Preis nicht wert. Als wir unverrichteter Dinge gehen, tönt er uns hinterher, dass wir kein Zimmer unter 25 Euro finden werden. Wir finden eins, ein paar Straßen weiter. Vor unserem Hotel wird alles Mögliche verkauft. Der Fußweg wird als Verkaufsfläche genutzt. Langsam schlängelnd kommen wir zwischen den Menschenmassen voran. An verschiedenen Ständen türmen sich die gleichen Produkte. Nur ein Restaurant ist schwer zu finden. Wir wollen gerade um eine Ecke biegen, da spricht uns ein Kellner auf englisch an. Wir diskutieren eine Weile und er überzeugt uns mit „Arroz a la Cubana“ und frischem Saft. Der junge Mann mit roter Schürze und einnehmenden Lächeln heißt Marco und kommt aus Venezuela. Wie viele andere ist er hier um zu arbeiten und seiner Familie Geld zu schicken. Wie viele andere kann er nicht in seinem früheren Job arbeiten. Stolz zeigt er uns ein Foto von sich in schwarzer Robe und seinem Abschlusszeugnis. Er hat Jura studiert. Was macht ein Anwalt in Peru, der sich mit venezolanischem Recht auskennt? Er räumt Teller ab. Marco und ich sind beide in Peru, beide 25, haben beide unser Studium beendet. Ich lebe gerade meinen Traum, Marco kann es nicht. Ich versuche das schlechte Gefühl runterzuschlucken, doch genau wie der trockene Reis meines Mittagessens, bleibt ein Rest im Hals stecken.

Trotz des schlechten Wetters machen wir uns am nächsten Tag auf zum Strand. Dafür müssen wir allerdings in das 15 Kilometer entfernte Huanchaco fahren. Nach einiger Zeit finden wir den gelb-roten Bus, der uns für 50 Cent zum Badeort bringt. Auf den ersten Blick sieht es hier etwas verlassen aus. Ein mutiger Tourist hat sich bis zum Bauch ins Wasser getraut. Seine Begleiter nur bis zu den Füßen. Am Strand zwischen den Steinen laufen ein paar Einheimische. Die meisten Bars haben geschlossen. Die Badesaison geht erst in ein paar Monaten wieder los. Trotzdem gibt es in dem kleinen Fischerdorf einen Markt mit Kunsthandwerk und zahlreiche Restaurants, die Meeresfrüchte anbieten. Die kleine Seebrücke in der Mitte des Dorfes kostet Eintritt und ist wohl die Hauptattraktion hier. Ich ziehe die Schuhe aus, krempel meine Hose hoch und laufe auf die strandenden Wellen zu. Das Wasser ist kalt. Karl ist mutiger und springt mit Badehose und Taucherbrille in den Pazifik. Bei den ganzen Steinen und den Wellen, fällt das Schwimmen allerdings schwer. Mit Windjacke lege mich in den Sand. Ein schönes grau in grau. Wasser und Himmel. Aber mit Augen zu und Sand zwischen den Zehen fühlt es sich für ein paar Minuten wie Urlaub an. Dann kommt der Wind und es wird ungemütlich. Wie Ostsee eben.

Am Nachmittag sind wir mit Elder verabredet. Er will uns für eine Nacht aufnehmen. Elder ist Ende 30, hat kurzes braunes Haar, etwas stämmig und baut nach jedem Satz ein kurzes Lachen, bei dem seine großen Schneidezähne zum Vorschein treten, ins Gespräch ein. Wir fahren mit dem Taxi zum Haus seines Nachbarn, denn da sollen wir heute schlafen. Er selbst hat Besuch von seinem Schwager. Nur ist dieser Nachbar, der eigentlich 20 Minuten von ihm entfernt wohnt, nicht auffzufinden. Elder hat sein Handy vergessen und kann ihn nicht anrufen. Wir warten eine Weile vor dem Haus, bis Elder doch zu sich nach Hause geht, um sein Handy zu holen. Bis 18 Uhr will der Nachbar zurück sein, berichtet Elder als er schnaufend zurückkommt. Heute ist Vatertag in Peru und sein Nachbar wäre noch bei einer Feier. Auch um sieben Uhr ist noch nichts von dem Nachbarn, dessen Namen wir immer noch nicht kennen, zu sehen. Eine Frau, die mit ihm im Haus wohnt, erzählt uns, dass ein Freund bei ihr angerufen hätte und der ominöse Nachbar auf der Feier betrunken eingeschlafen sei. Elder ist kurz ratlos, nimmt uns dann aber mit zu sich nach Hause. Wir dürfen allerdings nicht ins Haus, sondern warten auf der Terrasse. Elder ruft seinen Cousin an, bei dem wir jetzt übernachten sollen. Die ganze Konstellation ist etwas seltsam, aber wir steigen wieder ins Taxi und fahren zum Haus des Cousins. Besagter Cousin ist ein freundlicher kleiner alter Mann in sportlicher Kleidung und heißt Guillermo. Er unterrichtet Englisch und ist leidenschaftlicher Sammler von antiken Keramiken der Inkas und anderen Urvölkern. Seine ältesten Stücke sind über 2000 Jahre alt. Teilweise gekauft von Grabräubern wie er offen zugibt. Wäre sein kleines Wohnzimmer nicht mit Bierkisten vollgestellt, könnte man es für einen Ausstellungsraum halten. Guillermo findet Deutsche generell clever und möchte das mit uns beim Schach auf die Probe stellen. Der Fall „was zu beweisen war“ tritt nicht ein und so wurde an diesem Abend ein weiteres Klischee widerlegt. Dafür sind wir gerne da. Guillermo ist nicht nur für Couchsurfer aus aller Welt da, sondern auch für seine Nachbarn und Freunde. Er verkauft Bier und Schnaps, wann immer sie es brauchen. Sozusagen ein kleiner Spätshop für Eingeweihte. Guillermo weiß wie man über die Runden kommt. Beim Abendessen fragen wir ihn, ob er glücklich ist. Er sagt: „ja, ich habe einen Job, ein Hobby und Freunde. Mehr brauche ich nicht um glücklich zu sein“. Wir glauben es dem alten Mann aufs Wort.