Sep 1 2018

Atemberaubender Gipfel

von Karl

 

Der Wind steigt aus der Tiefe des Tals entlang des Berghangs nach oben. Auf einer unsichtbaren Höhengrenze beginnt er milchig zu werden. Als wenn etwas Milch ins Wasser gerät. Doch was sich vor mir, direkt am Berghang sitzend, auf Augenhöhe und zum Greifen nah abspielt, ist, dass sich eine neue Wolke bildet. Immer mehr und mehr weiße Watte bildet sich und gerne würde ich in die Watte greifen und mit ihr aufsteigen. Gebannt schaue ich auf das Naturschauspiel und merke die Zeit nicht mehr.

Eben bin ich den Sandhang vom Gipfel hinunter geschlittert. Die letzten hundert Höhenmeter zum Rucu Pichincha musste ich aufwärts ein Sandfeld umklettern, was aber abwärts es umso leichter macht. Die allerletzten Meter sind allerdings felsig und es muss mit allen Vieren geklettert werden. Jede Bewegung nach oben, jeder Schwenk mit dem Kopf von unten nach oben oder zurück, verursacht schon massives Herzrasen. Mit der Seilbahn bin ich aus Quito auf knapp 4000m Höhe gefahren. Von diesem Erlebnis und vielen weiteren Highlights in Quito habe ich schon vor Wochen berichtet, als wir gen Norden unterwegs waren. Von der Bergstation aus führt ein Weg, mal steil, mal gemächlich zum Fuße des Rucu Pichincha. Dann eine Weile parallel zu seinen Felsen, vorbei an Höhlen, bis dann der besagte steile Anstieg erfolgt. Schon dort sind schnelle Bewegungen zu viel. Wenn ich das übertreibe, werde ich benommen und merke wie mir das Bewusstsein entgleitet. Also mache ich langsam. Diese Höhen sind neu für meinen Körper und Akklimatisierung braucht seine Zeit.

Als dann der letzte Meter überwunden wurde bestaune ich erst das Schild mit den 4690m. Das ist vielleicht der Höchste Punkt an dem ich auf dieser Reise komme. Zumindest bewusst. Aber dann erfolgt das zweite Mal, dass mir fast der Atem weg bleibt. Ein gigantischer 360Grad-Blick eröffnet sich mir. Lediglich der etwas höhere Brudergipfel Guagua Pichincha unterbricht den fantastischen Ausblick. Vor mir breitet sich die Millionen-Metropole Quito aus. Die gesamte Länge dieser unfassbar langgezogenen Großstadt ist gut zu erkennen. Nachbarortschaften inklusive. Flugzeuge sind kaum zu erkennen und fliegen tiefer als ich. Die Gebirgskette hinter Quito liegt in Wolken und wird unterbrochen von drei weißen Kegeln. Den Cayambe, den Antisana und den Cotopaxi. Die Vulkane heben sich nur durch ihre Form von den weißen Wolken ab. Immer wieder werden sie verdeckt, um wenig später wieder frei zu stehen. Es ist ein grandioser Anblick und insbesondere der Höchste der drei, der Cotopaxi, erstrahlt in seiner ganzen Schönheit. Ein alleinstehender Vulkankegel der weit über die 5000m hinausgeht.

Hinten der Cotopaxi, vorne Quito

Er gilt als technisch einfach zu besteigen und gilt als meist-bestiegener Berg Südamerikas. Wenn das mal nicht nach einer meisterbaren Herausforderung klingt. Ich mach mich also in Quito ans Werk: online wie offline lege ich viele Meter hinter mir und frage unzählige Agenturen und Leute. Ich brauche ein gutes Angebot inklusive der ganzen Sachen die für einen Bergbesteigung nötig sind. Anerkannte*r Bergführer*in, Gletscherausrüstung, Wintersachen, Transport, Verpflegung, etc. Auch die Familie, die mich aufnimmt nutzt ihre Kontakte und telephoniere mit deren Telephon mit der Freundin der Mutter. Doch gute Angebote sind Fehlanzeige, weil ich alleine bin. Die Preise schwanken zwischen 6 und 900 USDollar. Ich suche eine Agentur, wo zufällig gerade noch ein*e andere*r allein anfragt und wir so den Preis halbieren können.

Ich muss euch noch die Familie vorstellen. Eingeladen hat mich Camila, PR-Studentin im letzten Semester, die mir ihrer Familie vor einem Jahrzehnt aus Bogotá nach Quito kam. Wir quatschen viel, wenn es die Zeit zulässt. Über Sexismus in den beiden Ländern. Z.B. dass Schulen Mädchen verpflichten kurze Röcke und hohe Schuhe als Schuluniformen zu tragen, die äußerst unpraktisch sind. Sprüche und Übergriffe in Bussen. In allen Bussen und Haltestellen ist eine Hotline ausgehängt, bei der sexualisierte Übergriffe gemeldet werden können. Dass Clubs an ihren Eingängen die Menschen nach ihren Aussehen bemessen und daraufhin die Preise festlegen. Hübsche Frauen kommen oft kostenlos rein. Wer nicht ins Raster passt, zahlt mehr. Sie erzählt auch vom Erdbeben 2016. Viele Menschen kamen ums Leben, auch weil die Bevölkerung nicht geschult ist, was sie im Ernstfall tun sollte. Die Armensiedlungen entstehen meist informell und gebaut wird je nach Einkommenslage. Viele der Randsiedlungen Quitos würden einem Erdbeben kaum stand halten. Selbst Erdbeben unterscheiden zwischen Arm und Reich. Eine*n Architekt*in, der ein erdbebensicheres Haus konstruiert, muss mensch sich halt leisten können.

Aber auch Musikempfehlungen teilen wir. Die Familie würde mich auch rund um die Uhr mit allen Mahlzeiten versorgen. Oder schaut neugierig auf mein Teller, wenn ich mal essen mache. Ich probiere Tacso- bzw. Curubá-Saft. Eine Frucht die geschmacklich der Maracuja nahe kommt. Die kolumbianische Heiße Schokolade mit Käse als Topping nennt der Vater „Chocolate Santa Fereño“. Der Bruder von Camila, Miguel, hat sogar sein Zimmer geräumt und ist zur Schwester gezogen, damit ich ein Zimmer habe. Ich fühle mich aufgenommen und fast schon zu sehr umsorgt. Ich will was zurückgeben und mache Eierkuchen für alle. Als sie freudig schmatzend am Tisch sitzen, erzählen sie von ihrer Lieblingsspeise: Arepa mit Käse. Mich verführt der Maisfladen nicht so sehr. Als ich erkläre, dass Eierkuchen eigentlich in allen Ländern gibt (Pancake, Crepe, Palatschinken, …) und mit allen möglichen gegessen werden können – ich habe frischen Apfelmus mit Zimt und Rosinen serviert – kommt auch schon eine typisch kolumbianische Süßspeise auf den Eierkuchen: (aufmerksame Leser*innen können‘s sich denken) Käse. Vielleicht ist das eine Marktlücke … süßer Eierkuchen mit Käse in Kolumbien verkaufen …

Bevor ich aber zur Camila kam, verbrauchte ich meine Zeit bei Nancy. Dazu muss ich sagen, dass ich auch viel Zeit im Bus verbrachte. Quitos Bussystem begann ich zu hassen, nachdem ich öfters 3 oder mehr Stunden verbracht habe um von einem zum anderen Ort zu kommen. Da sind selbst die BVG schnell. Gegen 17 Uhr werden schon erste Hauptverkehrsachsen dicht gemacht. Busse außerhalb der drei Achsen fehlt jede Information, damit Nicht-Einheimische sich vorstellen können wohin der Bus vielleicht fährt. Es mag zwar günstig sein, mit 25 Centavos, aber wenn ich diese 6mal am Tag zahle, wird’s langsam teurer. Busse in Vororte fahren teils von benachbarten Terminals ab und haben eigene Preise. Auch mein Umzug von Nancy zu Camila war von vier Stunden geprägt. Im falschen Stadtteil angekommen, wurde mir mehrmals gesagt: Ja, hier ist Condado, aber Condado liegt weiter unten. Etwas ist hier und gleichzeitig wo anders. Dieses Rätsel grenzt an philosophischem Wahnsinn. Sollte mein trainiertes Öffis-Können auch da versagt haben, so kam der berühmte Funken Glück ins Spiel und ich fand doch noch das Ziel.

Nancy ist 50 Jahre und hat zwei Kinder die in Deutschland oder Österreich studieren oder dies anstreben. Da sie ihren Mann rausgeschmissen hat, bewohnt sie ihre große Wohnung alleine. Die Kinder sind gerade auf Urlaub in Ecuador, aber kamen erst an meinen letzten Abend. Die Oma und die Schwester leben noch auf dem Grundstück. Abends saßen wir bei Kaffee zusammen und unterhielten uns lange. Ja, Kaffee wird in Ecuador und Kolumbien gern und zu jede*r Uhrzeit getrunken. Es wird eher wie Tee gehandhabt. Als sie den alten Kaffee mit etwas Wasser verdünnt und dann in der Mikrowelle erhitzt, werden alte WG-Erinnerungen wach. Sie brachte uns auch heimisches Abendbrot mit, allerdings trifft auch das nicht meine vollste Begeisterung: Mais-Käse-Teig in Maisblättern eingewickelt oder einfach nur Mais zum Abknabbern mit Salz und Frischkäse. Dabei meine ich nicht den in Deutschland üblichen Mais, sondern immer den weichen weißen großen Mais. Sie erzählt von ihren Vater, der schon seit über 39 Jahren Tod ist, aber in offiziellen Registern als lebend geführt wird. An vergangenen Abstimmungen hat er laut Register teilgenommen – obwohl er Tod ist. So geht Wahlmanipulation in Ecuador. Auch meinte sie, dass für das Wählen Gehen sie Dokumente erhält, die sie für größere Käufe oder Auslandsreisen benötigt. Diese anderweitig zu bekommen bedeutet lange bürokratische Umwege. Deswegen gehen viele lieber wählen.

Eine Agentur hat mittlerweile mich mit einem zweiten Menschen verbunden. Uns ist das aber zu teuer und wir vereinbaren gemeinsam weiter zu schauen. Mehrere Agenturen geben als Standort Machachi an, einen kleinen Ort eine Stunde südlich von Quito. Ich mach mich also dran, dorthin zu reisen um dort meine Recherchen fortzuführen. Vorher muss ich aber verlängern, weil Camilla mich noch zu ihrer vorgezogenen Geburtstagsfeier einlädt. Mit einigen Freund*innen von ihr gehen wir erst Vorglühen. Shots sind die Mittel der Wahl. Im Anschluss dann in den Club mit moderner lokaler Musik. Sie schwankt zwischen beliebten Salsa-Hits, Reggaeton und europäischer Disko-Musik. So klingt „Quito II“ für mich aus und ich finde den Weg über das Terminal Quitumbe nach Machachi.

PS.: im Bus in Quito habe ich gleich zu Beginn mein Handy verloren. Vielleicht wurde es auch geklaut, aber das lässt sich nicht zweifellos feststellen. Klar ist nur: Da ist es nicht mehr.


Jul 28 2018

Vivir mi Vida – Lebe mein Leben

von Karl, Medellín, 22. Juli 2018

 

 

Liebe Leser*innen. Bitte, bitte dreht die Musik laut auf, öffnet den Link in einen neuen Fenster und versucht mitzusingen. Vivir mi Vida, d.h. Lebe mein Leben. Bevor ich mehr von der Hauptstadt des Salsas erzähle, braucht ihr das Gefühl und Leben von Salsa. Also jetzt hier klicken, dann nach dem Lied etwas leiser drehen und zurück auf diese Seite kehren!

Vivir mi Vida – Marc Anthony

Willkommen in Cali, der Hauptstadt des Salsas. Natürlich waren wir weg. Ein riesiger Schuppen am Rande der Stadt. Luftig aufgebaut mit tausenden Tischen und kleinen Tanzflächen. Verteilt in den verschiedenen Bereichen. Wieder wird ein Salsa-Klassiker aufgelegt und gemächlich erheben sich die Menschen von den bunten Plastiktischen und beginnen Salsa zu tanzen, als wenn es das normalste auf der Welt ist. Für mich allerdings eine Herausforderung, nicht so auszusehen, wie all die anderen Backpacker. Die sich nicht darum scheren wie viel Platz sie nehmen und wie weit weg es vom eigentlichen Salsa ist. Rosa dagegen zeigt sich professionell. Getanzt wird nur paarweise.

Kurz möchte ich also etwas Tanzmusik erklären:

Salsa

Salsa heißt als spanisches Wort „Soße“. Entstanden ist es unter den lateinamerikanischen Immigrant*innen in den USA und ist heute sehr verbreitet im spanischsprachigen Lateinamerika. In verschiedenen Salsa-Hochburgen haben sich über die Jahrzehnte verschiedene Spielarten ausgebildet. Z.B. in Kuba oder Puerto Rico. In Cali wird traditionell sehr schnell getanzt. So schnell, dass es schwer ist den Füßen der Könnenden zu folgen.

Bachata

Bachata begann seinen Siegeszug erst in den 60er Jahren in der Dominikanischen Republik. Es ist meist langsamer als Salsa, etwas romantischer. Die Schrittfolge ist sehr leicht und besteht vor allem darin zwei Schritte nach rechts und wieder zwei Schritte nach links zu machen. und so klingt’s (einfach drauf klicken)

Merengue

Merengue stammt von der Landbevölkerung der Dominikanischen Republik und hat auch einen einfachen Tanzstil. Bei jedem Takt wird einfach ein Schritt nach vorn, zur Seite oder nach hinten gemacht. Alle drei Tänze haben gemein, dass der Hüftschwung sehr ausgeprägt ist, und dadurch die Schultern eigentlich gar nicht bewegt werden. und so klingt’s

SalsaChoke

SalsaChoke ist eine neue Mischung aus Salsa und Reggaeton, die gerade die Tanzflächen erobert hat. Reggaeton ist vor allem in der Karibik und damit auch in Kolumbien beliebte Musikrichtung, die sich aus Reggae, R&B, Hip-Hop, Rap und auch europäischer Disko-Musik entwickelt hat. und so klingt SalsaChoke und so Reggaeton

Thematisch geht es in vielen Liedern um die verlorene Liebe. Die oder der Angebete möchte meist nicht, wie der oder die Sänger*in. Auch etwas europäischer Elektro wurde an dem Abend gespielt. Letzteres wird natürlich nicht mehr paarweise getanzt. Sondern im klassischen Disco-Kreis. Wichtig ist vermutlich, einfach keine Angst zu haben. Wie hat schon Marc Anthony in Vivir mi Vida gesungen:

Manchmal kommt der Regen
Um die Wunden zu reinigen
Manchmal nur ein Tropfen
Kann die Dürre überwinden
Und warum weinen?
Wenn ein Schmerz schmerzt, vergiss es
Und warum leiden?
Wenn das die Lebensweise ist, musst du es leben

Da unserer Mutti immer wieder die Augen zufallen, entscheiden wir uns, den Heimweg anzutreten. Ja, ihr lest richtig, wir waren nicht mit der Couchsurferin unterwegs, sondern mit ihrer Mutti. Sie hat sich extra etwas schick gemacht und wir sind zu dritt losgezogen. Die Mutti hat uns auch so behandelt, als wenn wir ihre Kinder wären. Bis dahin, dass sie einmal Rosas Shirt gerade gezupft hat. Begonnen hat sie damit, dass sie uns bis zur Bushaltestelle gebracht hat, um dann zu schauen, dass wir auch wirklich in den richtigen Bus einsteigen. Ansonsten waren wir natürlich bestens umsorgt und sind dankbar, dass sie das Sofa in ihrer kleinen Wohnung mit uns geteilt haben.

Cali selbst liegt in einem Tal mit schicken Fluss. Durch die vergleichbar geringe Höhe (1000m über NullNull), ist es auch sehr warm. Busse verkehren auf eigenen Busspuren und bringen einen rasend schnell überall hin. Es gibt neuere große Fußgänger*innen-Zonen und viele Hochhäuser. Manche gleichen dem Baustil „sozialistischer Realismus“ und könnten so auch in Osteuropa oder Ostberlin stehen. An anderen Stellen finden sich sehr lebhafte und enge Straßen mit Verkaufsständen aller Art.

Cali ist berühmt geworden mit einem von zwei Drogen-Kartellen, dem Cali-Kartell, welche den Großteil des weltweiten Kokain-Handels ausmachten. Das Gramm Kokain kann in Kolumbien schon für 3 Dollar produziert werden, während ist in den USA 3000 Dollar wert ist. und dann wird es in der Regel noch auf 30% gestreckt. Mittlerweile hat der Krieg gegen die Drogen seine Spuren hinterlassen und die aktuellen Händler*innen gelten als „invisibles“ (Unsichtbare). Kein Prunk, kein Palast, kein fettes Auto mehr. Das Geschäft aber geht weiter.

Direkt an Cali drann liegt ein Berg mit drei großen weißen Kreuzen, die auch nachts leuchten. Wir machen uns auf, diesen Berg zu beklimmen. Jedoch gleicht es streckenweise einer felsigen Kletterpartie, als dem gemütlichen Wandern. Nach mindestens einer Stunde starken Schwitzens lassen wir uns auf die Bank unter den Kreuzen fallen. Als wenn das kein Training genug ist, gibt es hier noch einige Trainingsgeräte im Freien. Zu unseren Erstaunen, sind auch einige sportlich dabei und nicht nur dass, einige joggen sogar auf den Berg. Verrückt!

Was soll ich noch dazu sagen? oder um es nochmal mit Marc Anthony zu sagen:

Ich werde lachen, ich werde tanzen
Was soll ich weinen? Warum leiden?
Fang an zu träumen, zu lachen
Ich werde lachen, ich werde tanzen
Fühlen und tanzen und genießen
Dieses Leben ist eins
Ich werde lachen, ich werde tanzen
Lebe, folge, immer weiter, schau nicht zurück
Das!
Meine Leute, das Leben ist eins
Ich werde lachen, ich werde tanzen
Lebe mein Leben – Vivir mi Vida!

PS.: das sind unsere ersten Orte in Kolumbien: