Dez 19 2018

Bautis Welt und Familie

Salta, Argentinien

Von Karl

 

Benicio Bautista

Ich stelle kleine Plastik-Dinosaurier auf. Das ist meine Aufgabe, sie wurde von Benicio bzw. Bautista für mich vorgesehen. Vielleicht fünfzig Stück. Große und kleine, ruhige und aggressive, ja die ganze Bandbreite der allgemein bekannten Dinos. Bautista ist vier Jahre und stellt Plastik-Soldaten auf. Die meisten direkt gegenüber und andere kreisförmig um meine Dinos herum. Als wir nun alle aus den Eimerchen ausgeschütteten Figuren auf den Teppich mit bunten Häusern und Straßen aufgestellt haben, stellt er sich daneben und imitiert Schussgeräusche. Nach und nach wirft er Dinos von mir um.

Ich find‘ ja Kriegsspiele nicht ganz so lustig und frage ihn warum er das macht. Hat er in einem Film gesehen, sagt er. Kurz hält er inne, aber dann geht‘s weiter. Nagut, denke ich, dann mach ich was anderes. Als er mir aber folgt, merke ich erneut, dass er gern mit mir spielen möchte. Vorher hatte er mir Spielzeugwaffen angeboten, aber auch die hatte ich schon nicht genommen. Er versteht nicht, dass ich nicht mag.

Der vierjährige Junge mit seinen kurzen schwarzen Haaren ist der Sohn von meiner Couchsurferin. Darf ich vorstellen: Daiana, Mitte 20zig, immer schick gekleidet, Kümmerin, liebevolle Mutter, gesprächig und für jeden Spaß zu haben. Sie haben mich in ihren geräumigen Haus aufgenommen. Gerade stellt sie einen Teller mit Spaghetti für jede*n auf den Tisch. Benicio isst nur ein wenig und springt schon wieder rum. Daiana nimmt das gelassen. Generell bin ich beeindruckt mit welcher Gelassenheit sie ihn lässt und liebt. Dagegen sind deutsche Stille-Sitzen-Befehle reinste Diktatur.

In Südamerikas Welt, so mein Eindruck, gibt es viele Regeln für Kinder nicht, die viele in Deutschland für absolut wichtig finden. Aufessen, um 8 im Bett, immer artig sein, etc. Die Menschen hier, die daraus werden und denen ich begegne sind trotzdem freundlich und zuvorkommend. Vielleicht weniger autoritätsgläubig. Es ist eine reine Vermutung von mir, dass die weniger autoritäre Erziehung auch zu mehr Selbstständigkeit führt. Beispiel: Polizist*innen werden als normale Menschen betrachtet und wenn mir die Anweisung nicht gefällt diskutiere ich halt und widersetze mich. Ganz normal eben. Wenn kein weiteres Auto an der Kreuzung steht, dann kann ich auch bei Rot fahren. Wo kein Richter da kein Henker. Mir gefällt‘s und ich frag mich, ob wir unsere deutsche Über-Strenge wirklich brauchen und wir nicht zu viele autoritäre Charaktere formen.

Nun kommt er mit Jenga an den Tisch und wir beginnen dieses Spiel. Doch nach 10 Minuten ist dafür die Konzentration weg. 20 Minuten später räumt Daiana es wieder zurück. Ich versuche es mit Kartentricks. Er scheint noch zu jung zu sein, wiederholt meinen Trick mit eigenwilliger Interpretation bei mir. Manchmal sind die bunten Bilder auf den Karten aber dann doch noch interessanter.

Benicio Bautista hat übrigens zwei Vor- und zwei Nachnamen (hispanoamerikanische Namensgebung). Das ist völlig üblich. Meist vergeben beide Elternteile je einen Vornamen und ihren ersten Nachnamen weiter. Für mich war es anfangs verwirrend, dass er sowohl Benicio als auch Bauti gerufen wurde. Gegen 14 Uhr muss er in die Kita, hat zwar erst kein Bock, aber dann gehen die beiden doch. Kurz darauf kehrt Daiana zurück und isst seine Spaghetti.

Daiana wohnt am Stadtrand von Salta, einer Großstadt im Norden Argentiniens und Hauptstadt der gleichnamigen Provinz. Halbe Million Menschen leben hier und machen Nachmittags Pflicht-Siesta. So wird sie mir vorgestellt. Am Wochenende ist Bauti bei seinem Vater und Daiana hat Zeit für sich. Sie zeigt mir viel und ist die Bilderbuch-Gastgeberin. Sie kennt mein Profil auswendig und nimmt sich viel Zeit mir ihre Stadt zu zeigen. Das ganze Wochenende. Zudem lerne ich einige Familienmitglieder kennen – ihrer Aussage nach nur einen kleinen Ausschnitt – für mich allerdings wäre es schon eine vollständige Familie. Dazu kommen einige Freund*innen, aber jetzt langsam und von vorn.

Daiana

Ich versuche zu ergründen was ihre Arbeit ist und öffne eine leidenschaftliche Seite von ihr. Körper-Ästhetik studiert sie. Jups, hab ich auch noch nie gehört. Ihr Ziel ist es, mal ein Studio aufzumachen, wo menschen hinkommen können und beraten werden, wie sie ihre Ästhetik-Vorstellungen an sich selbst umsetzen können. Ich bin naturgemäß skeptisch: Es gibt ja auch ein Bild von Schönheit in der Gesellschaft. Kommt es vor das Menschen mit Bildern von Stars kommen und genau so aussehen wollen?

Ja leider, meint sie, aber das wäre kein Ziel ihrer Arbeit. Viel mehr sei es entscheidend die persönlichen Vorstellungen und Möglichkeiten weiterzuentwickeln. Ansätze gibt es viele. Das kann auch einfach eine Ernährungsberatung sein.

Selbst ist sie übrigens weitgehend vegetarisch unterwegs, was mein Leben deutlich entspannt und wir gemeinsam kochen können.

Sie stärkt das Bild von einer individuellen Schönheit. Innerer Applaus brandet in mir auf und ich muss schmunzeln.

Gibt es Menschen, die gerne ihre Hautfarbe ändern möchten, dunkler zum Beispiel?

Ja, die gibt es. Die meisten möchten hellere Haut und greifen auf ätzende Cremes zurück. Das empfiehlt sie aber überhaupt nicht. Sie schaden mehr als dass sie helfen.

Unter der Woche geht sie zum Studieren. Gegen 17 Uhr geht‘s los und natürlich wird während des Unterricht gemeinsam Mate getrunken. Und Süßes gegessen. Ein Körper-Ästhetik-Seminar mit Süßigkeiten. Wie geil ist das denn!

Ihr Einkommen kommt aus einer Arbeit am Wochenende, wo sie Empanadas verkauft. Diese endet meist auch früher, weil wenn alle verkauft sind, dann macht der Laden dicht. Angeblich kommen auch schon frühs um 9 Uhr Menschen, die dann Empanadas und Wein ordern. Ich kann‘s mir nicht so richtig vorstellen.

Bäche und Ausblick

Im Nachbarhaus mit selben Eingang und gemeinsam genutzten Auto, wohnt die Schwester. Auch sie ist schwer interessiert an meinem Leben, und hat natürlich Mate dabei. Zu dritt fahren wir zu einem Hügel hinter dem Rand der Stadt. Pferde und Schafe stehen seelenruhig neben uns, während wir auf das ferne Salta und die grüne Hügellandschaften blicken. Hinter dem Berg beginnt die Sonne sich abzusenken. Ein einsam-schöner Ort.

hinten rechts: Salta, vorne rechts: Daiana

Dagegen ist der Flusslauf den sie mir dann zeigt etwas beliebter. Ruhig plätschert das Wasser dahin und wir setzen unsere Gespräche fort. und je länger sie andauern, desto stolzer bin ich, dass ich auf noch nicht eine Vokabel Englisch zurückgreifen musste. Die Mühen machen sich langsam bezahlt. Auch dass mein Spanisch verstanden wird baut mein Selbstbewusstsein auf.

Die Straßen Argentiniens sind gesäumt von einem lila-blühenden Baum. Irgendwie macht er jede Allee noch einen Tick schöner. Sein Name ist Jacaranda, wie ich nun herausfinden konnte. Als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist, fahren wir auf den Hügel San Bernardo. Für mich wäre es ein Berg, aber für Südamerikaner*innen nur ein Hügel. Daiana ist ganz verwundert, dass wir in Deutschland Berge schon ab 500m Höhe als Berge bezeichnen. Das ist hier allenfalls Strand oder Küste, höchstens ein Deich. Die Anden sind Berge und sie erklärt mir, dass es verwirrend findet, dass ich alles als Berge bezeichne, was wir sehen. Es seien nur Hügel. So auch der San Bernardo, der auch durch eine Gondelbahn erreichbar ist. Tags und – etwas schöner noch – Nachts bietet er einen wunderbaren Blick auf die Stadt Salta. Nachts wenn die Straßenlaternen ein Netz ausbreiten. Unzählige Lichterketten.

Tagsüber ist ein komplexes System an kleinen künstlichen Wasserfällen und Wasservorhängen auf dem Berg – äh sorry – Hügelchen zu bewundern. Wir unternehmen rein deswegen eine Fahrt mit der Gondel, die auch historischen Wert besitzt. Ein Fußweg führt durch den dichten Wald runter an den Rand der Stadt.

Salta

Die Innenstadt hat erneut einen Hauptplatz mit vielen Bäumen, umsäumt von kolonialen Gebäuden. An der Ecke gibt es die besten Empanadas, so Daiana, sodass unsere Mittagspause genau dort stattfindet. Klein aber fein, muss ich ihr recht geben, sie weg zu werfen müsste unter Strafe stehen. Drei Türen weiter gibt es das „Archäologische Museum des Hochgebirges“. Hauptattraktion sind die drei Kinder die als Mumien auf dem Vulkan Llullaillaco gefunden worden, der im Grenzgebiet zu Chile liegt. Gut fünfhundert Jahre sind die drei alt und wurden zusammen mit zahlreichen Beigaben geborgen und nach Salta ins Museum gebracht. Dort ist abwechselnd immer ein Kind zu sehen. Als ich drin war, ist grad der Junge ausgestellt. Tatsächlich ist die Mumie als zusammen gekauertes Kind gut zu erkennen, auch wenn er etwas geschrumpft ist. Es soll der archäologisch höchste Fund der Welt sein. Sogar Coca-Blätter hatten die drei dabei. Ihre Beigaben sind auch im Museum ausgestellt und umfassen vor allem kleine filigrane Puppen. Erst dachte ich, dass mich diese Ausstellung nicht so sehr interessiert, aber als ich dann der Mumie gegenüberstand, lief es mir schon kalt den Rücken runter. Nun kann ich mir vorstellen, warum Archäologie für manche so spannend ist.

Die angrenzenden Straßen zeugen dann nur vom normalen geschäftigen Leben einer Stadt und bieten keine Neuerungen. Für mich spannender ist das normale Leben am Rande der Stadt. Trotz Lage ist die Verbindung zum Zentrum sehr gut, weil Salta eines der besten Bussysteme hat. Es fahren viele Busse zu günstigen Preisen, und selbst in der Nacht kommt spätestens alle halbe Stunde ein Bus.

In ihren Viertel, Santa Ana, oder kurz Santana, sind die meisten Straßen nicht geteert und die Häuser noch nicht so alt. Die Gegend ist ruhig und in jeder dritten Straße gibt es einen kleinen Laden oder Stand mit allerlei Obst und Gemüse. Ein chinesischer Supermarkt liegt etwas weiter entfernt. Daiana ist Sparfüchsin und weiß wo es welches Angebot gibt. So verteilen sich unsere Einkäufe im Viertel.

Viertel Santa Ana, Salta

Nachtleben

Freitag ist Pizza-Tag. Da gibt es keine Ausnahme und natürlich holen wir den Fertig-Boden von der Oma ab. Sie mache die weltbeste Pizza, sagt Daiana. Die Oma kenne ich schon. Weil sie näher am Busbahnhof wohnt, haben wir uns bei ihr getroffen. Dort treffe ich auch die Tante, die mit der Oma das Haus teilt. Ich muss gestehen, die Oma hat‘s drauf. Wir haben zwei Pizzen zubereitet, sind randvoll, aber überlegen noch wegzugehen. Während ich kurz im Wohnzimmer warte, schlafe ich ein und träume, wie ich gegen das Einschlafen ankämpfe. Erst als Daiana mich weckt, stelle ich fest, dass ich nicht wirklich gegen das Einschlafen ankämpfe, sondern tatsächlich schlafe.

Nächster Tag, neuer Anlauf. Mit einer Reihe Freundinnen fahren wir in das entsprechende Ausgeh-Viertel. Ein paar Straßen werden des Nachts abgesperrt und sind dem Nachtleben vorbehalten. Wir stellen uns vor einen Schrank, der den Einlass regelt. Tröpfchenweise lässt er uns in die Dunklen Hallen treten. Einzig als Mann muss ich Eintritt bezahlen. Der Vorraum bietet noch ein Bierchen, und dann vorbei an den Lollipop-Verteilerinnen ab in die Zappel-Höhle. Der riesige Raum bietet allerdings noch nicht viele Tanzende und der VIP-Bereich bleibt noch leer. Es gibt tatsächlich eine Art übergroße Bühne für die VIP-Gäste. Wie vermutlich überall in der Welt sind in dem Bereich Kontakte immer wichtig. Daianas Freundin kennt irgendjemand der für alle günstig Getränke organisieren kann. So wird der Abend lustiger und so langsam kann gezappelt werden. Zu meiner Überraschung geht um 4 Uhr die Musik aus.

Saltas Polizei, so wird mir gesagt, ist wohl sehr hinterher, dass alle Bestimmungen eingehalten werden. Bislang war Argentiniens Nachtleben eher dafür bekannt, dass es spät losgeht und lange andauert. Es gibt Bars und Schuppen die Anschlussangebote machen und in manchen Städten kann bis 14 Uhr weiter gefeiert werden (kein Scherz!).

Ich nehme den Bus nach Santa Ana und als ich am Eingangstor bin, flüchte ich vor dem Sonnenaufgang in das dunkle Zimmer und mein Bett.

Am Sonntag abend kommt Benicio zurück. Wir sind zu einer Bar gefahren, wo es handgebraute Biere gibt, aber Daiana verabschiedet sich schnell um ihren Sohn in Empfang zu nehmen. Ich verbleibe mit ihren Freund*innen in der Bar und wir gönnen uns weitere leckere Biere. Parallel spielen wir Riesen-Jenga. In einer Runde schaffen wir es soweit, dass wir auf den Stuhl klettern müssen, um oben die Steine erneut abzulegen.

Dann fahren wir noch zu einem der Freunde nach Hause und beginnen zu diskutieren und Bier aus Plastikflaschen zu trinken. Santiago Maldonado, Fußball, Jair Bolsonado, Merkel und das argentinische Schulsystem, wir lassen kaum was aus. Dann packt es mich wieder und ich muss stänkern.

Ich verstehe nicht warum Argentinien glaubt die Falkland-Inseln seien ihre, sag ich und schon ist die Bombe gezündet. Ich hoffe insgeheim, das besser verstehen zu können. Meine beiden Gesprächspartner*innen wollen am liebsten beide sofort kontern. Aus linker Perspektive sei die Rückgewinnung ein Kampf gegen den Kolonialismus. Das erschließt sich mir leider nicht. Ich bringe die Abstimmung an, doch hier wird eingewandt, dass Großbritannien ja viel Geld investiere und die Stimmen im Prinzip gekauft seien. Ganz so einfach sehe ich das zwar nicht, aber nun gut, ich will mich nicht absolut unbeliebt machen. Ich wende ein, dass die Inseln dem erdgeschichtlichen Ursprung nach von Südafrika kommen und nie Teil Südamerikas waren. Dem gegenüber steht eine Entscheidung einer UN-Kommission, die festgestellt hat, dass die Inseln noch innerhalb des argentinischen Festlandsockels lägen und damit deren Hoheitsgebiet entsprächen. Naja, wir werden‘s niemals erfahren, wer recht hat.

Der 50-argentinische-Pesos-Schein zeigt die Falkland-Inseln

Als ich ziemlich spät an Daianas Haus ankomme, muss ich, da mein Klopfen vergeblich ist, einen Weg nach Innen finden. Da aber das Fenster einfach aufzuschieben geht, brauche ich keine zehn Minuten um ins Bett zu fallen.

Abschied

Da mein Bus um Mitternacht abfährt, verbringe ich den Abend im Kreise der Familie bei der Oma und Tante. Sie hat Tortilla gemacht, dass heißt eine Riesen-Pfanne mit Ei, Kartoffeln und allerlei Gemüse. Dazu Rotwein und selbstgemachte Empanadas. Ein Schlemmen und nun lerne ich noch den Onkel vom Theater kennen.

Ich erfahre von Daiana einiges über die Weihnachts– und Neujahrs-Traditionen, die beides Mal im großen Kreis der Familie mit viel Essen und Trinken stattfinden. Vorsingrituale, Geschenke unter Erwachsenen, den Nikolaus oder Weihnachtsmann, das gibt es alles nicht. Es sind zwei Familienfeste. Die Unterhaltung schließt mit der ernsten Einladung mein Weihnachten bei Ihnen zu verbringen. Ich bin etwas gerührt und sage nur, dass ich ja weiterreisen werde, aber wenn es nicht schön ist, dann komm ich einfach zurück.

Der Onkel bringt mich noch zum Bus – und wie es hier üblich ist – nur kurz vor knapp. Sechs Minuten vor der Abfahrt verabschiede ich mich vom Onkel und später noch sehr herzlich von Bauti und Daiana.

Es sind die Abschiede auf der Reise, die immer wieder kommen, wo ich hilflos dastehe und mich frage, was habe ich ihnen eigentlich gegeben und wie kann ich – verdammt nochmal – angemessen klar machen, wie dankbar ich doch bin.

Ich schaffe es wieder nicht und sitze traurig im Bus. Traurig, dass ich Salta verlasse, aber auch traurig, dass ich nicht angemessen Danke gesagt habe.


Aug 28 2018

Bogotá im Zeichen des aufkommenden Friedens

von Karl

 

In keiner Stadt habe ich wohl so viel Zeit verbracht, wie in Bogotá, der Hauptstadt Kolumbiens. Mit ihren 7 Millionen Menschen eine der größeren. Als ich aus dem Bus ausstieg erwartete mich schon ihr kalt-nasses Wetter. Nicht, dass es tagsüber auch mal T-Shirt-warm werden kann, es kann auch regnen und Sonne scheinen im selben Moment.

Sicherheit und Geschichte des bewaffneten Konflikts bis heute in Kolumbien

gesamte Geschichte Kolumbiens

Bogotá ist eine Stadt die auch viel über aktuelle und vergangene Politik verrät. Kolumbien befindet sich an einem Wendepunkt zwischen bewaffneten Auseinandersetzungen und Frieden. Wie schon in anderen Städten Kolumbiens wird uns gedankt, dass wir als Touris gekommen sind, damit wir ein friedliches Bild Kolumbiens nach außen senden können.

Bis vor wenigen Jahren noch, war es sehr gefährlich, sodass selbst Einheimische kaum ihre Städte verlassen haben. Bus fahren war zu gefährlich und Fliegen ist in Kolumbien teuer. Aber selbst das Fliegen wurde teils durch paramilitärische oder Guerilla-Armeen unterbunden. Busse überfallen oder zumindest eine Passagen-Gebühr genommen. Paramilitärs galten als besonders brutal, d.h. sie töteten gleich die ganze Familie, wenn Menschen im Verdacht standen mit Guerillas zu kooperieren, während Guerillas Geiseln nahmen und Lösegeld forderten. Auch die Armee begang Menschenrechtsverbrechen. Bekannt sind z.B. die vielen „Falsos Positivos“. Im „Plan Colombia“ hat die US-Regierung mehrere Milliarden an Rüstungshilfe im Kampf gegen die Drogen bereit gestellt. Das Geld floss über Umwege zurück an US-Waffenhersteller. Umwege, weil laut UN-Vorgaben, Länder nicht anderen Geld geben dürfen, damit sie eigene Waffen kaufen. Es gibt aber private US-Sicherheitsdienste die dann zu Mittelsleute werden. Nicht nur der Kampf gegen Drogen stand im Interesse der USA, auch die Guerillas, die als links gelten, kamen ins Fadenkreuz. In dieser Zeit wurde das Geld auch eingesetzt um Kopfpauschalen für ermordete Guerilleros an Soldaten zu zahlen. Die Folge war dass Bäuer*innen und mit falschen Versprechen angeworbene in Guerilla-Uniformen gesteckt wurden, um sie dann zu töten und abzurechnen. Diese Zahl geht in die Tausende und werden „Falsche Positive“ also „Falsos Positivos“ genannt.

Die Paramilitärs entstanden als Reaktion auf die Guerillas und der Unfähigkeit des Staates diese zu bekämpfen. Großgrundbesitzer aus dem Norden Kolumbiens gründeten und finanzierten die paramilitärischen Kämpfer*innen. Paramilitärs gelten als rechts außen.

Guerillas

Ähnlich wie paramilitärische Verbände gibt es eine Vielzahl Guerilla-Armeen. Die berühmtesten sind wohl die FARC-EP, ELN und M-19. Die FARC begann als leninistisch-marxistische Gruppe in den 1960er Jahren in Folge der Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Konservativen in Kolumbien. Liberal meinte da noch links-progressive Ideen und nicht was heute unter neoliberal verstanden wird. Die Konservativen, vielleicht unter zur Hilfenahme der CIA, haben liberale Präsidentschaftskandidaten ermordet und so deren Machtübernahme verhindert. Als das in Straßenschlachten in Bogotá mündete, begann eine brutale und verdeckte Verfolgung der Liberalen. Zu Hause oder auf offener Straße wurden sie erschossen. Das radikalisierte Gruppen und mündete in Guerillas a la FARC. Mit der Zeit musste sich die FARC finanzieren, wodurch sie auch im Drogenhandel aktiv wurde. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion fiel auch diese Unterstützerin weg. 2016 schlossen FARC und Regierung mit Unterstützung von Norwegen und Kuba einen Friedensvertrag. Die FARC gibt die Waffen ab und firmiert als neue Partei. Sie hat nun für einige Jahre 10 feste Sitze im Parlament. Die Regierung ist verpflichtet die ländlichen Gegenden, in denen die FARC aktiv ist, zu unterstützen. In einer Volksabstimmung Ende 2016 stimmten allerdings 50,22% der Bevölkerung gegen das Friedensabkommen. Nur wenige Wochen vor der Abstimmung wurde der 300seitige Vertrag veröffentlicht. Viele befürchten, dass die Guerillas für ihre Menschenrechtsverbrechen nicht ausreichend bestraft werden.

Justizministerium, am Tag vor Duques Amtseinführung

Der erst am 7. August das Amt übernommene Präsident Ivan Duque steht auf der Seite der Kritiker. Dem rechten Politiker der konservativen Partei konnten Verbindungen zu Paramilitärs nachgewiesen werden, aber Morde an Zeugen verhindern Gerichtsverfahren. Mit ihm wird eine Rückkehr zur Gewalt befürchtet. Das kurz vor dem Abschluss stehende Friedensabkommen mit der ELN, der zweitgrößten Guerilla-Gruppe, wurde abgebrochen und wird von Duque nicht fortgeführt. Die stalinistische ELN operiert noch, u.a. im Nordosten. Als ich dort unterwegs war, sind mir die unzähligen Straßenkontrollen durch die Armee und Polizei aufgefallen. Teilweise im Zehn Minuten Takt sind wir in eine Kontrolle geraten. Es bleibt abzuwarten, wie die ELN, die sich auf Frieden eingesetellt hatte, darauf reagieren wird.

Am zentralen Platz der Stadt, dem Plaza Bolivar, wurde Duque vereidigt. In der Platzmitte steht Kolumbiens wichtigster Befreier von den spanischen Besatzer*innen: Simon Bolivar. Sein wichtigster Mitstreiter war Francisco de Paula Santander. Allerdings verstritten sich beide nach Erlangen der Unabhängigkeit. Bolivar war für eine Diktatur unter seiner Führung, während Santander Demokratie befürwortete. Am selben Platz steht das Justizministerium mit einem Zitat von Santander. Selbiges Gebäude ist Symbol einer M-19-Aktion. M-19 ist aus akademischen Kreisen in Bogotá entstanden und hat einen Bruch durchgemacht, als sie anfing mit den Drogen-Kartellen zusammenzuarbeiten. In den 1980er stürmten sie das Justizgebäude und nahmen zig Geiseln. Im Nachgang fehlten Beweisunterlagen für Prozesse gegen Drogen-Kartelle. Auch die Armee zeigte sich nicht kooperative und beschoss das Gebäude rücksichtslos teils mit Panzern, dass es im Nachgang komplett neu aufgebaut werden musste.

indigene Frauen protestieren während Duques Amtseinführung gegen dessen politischen Kurs

Mathilde, Laura und Isabelle

Meine ersten Tage waren dadurch geprägt die politische Auseinandersetzungen zu verfolgen, die durch die Amtseinführung Duques nochmal präsenter waren. Für zwei Nächte hatte ich allerdings das Glück bei Mathilde übernachten zu dürfen. Eine Couchsurferin die durch hartes Arbeiten sich bekannt machte. Die geborene Französin lebte schon einige Jahre in verschiedenen Ländern und macht nun ihren Abschluss in Bogotá. Mit BBC lernten wir am ersten Abend ein sehr leckeres und lokales Bier intensiv kennen.

Sie sprach mir aus dem Herz, was ich bei vielen Backpackern vermisse: Das Bewusstsein über die eigenen Privilegien. Viele kommen nach Kolumbien und freuen sich, welch tolles Land das ist. Das aber vieles darauf beruht, dass sie hier wegen der schwachen Währung finanziell gut ausgestattet sind, wird gern ausgeblendet. Für einige in Kolumbien ist selbst der Bus zu teuer, der umgerechnet ca. 0,70 Euro kostet. Durchschnittseinkommen liegt wohl bei 200 Euro im Monat. Da ist ein 150-Euro-Zimmer in Bogotá, wie es Mathilde bewohnt, nicht mal eben zu haben. Wer im Hostel im Touri-Viertel abhängt und Touren bucht, wird wohl kaum hinter den Vorhang schauen. Am nächsten Tag lerne ich noch ihre bolivianische Mitbewohnerin kennen, die auch sehr freundlich und hilfsbereit ist.

Dank Mathilde bekomme ich später Kontakt zu Isabelle. Isabelle ist kanadische Menschenrechtsanwältin, arbeitet aber schon seit einigen Monaten in Bogotá. Ab und zu fährt sie in ländliche Gegenden und trifft Frauen. Frauen die unter dem bewaffneten Konflikt litten und deren Stimme sie in den Friedensprozess einfließen lässt. Isabelle schreibt nach den Gesprächen Berichte, die Teile einer Sonderjustiz sind, die Rahmen des Friedensabkommens Verbrechen von FARC und Armee aufarbeiten. Erst seit einem guten Monat laufen die ersten Verhandlungen vor der JEP. Isabelle erzählte uns bei guten Kaffee voller Energie von ihren Erlebnissen. Sie strotzt voller Stolz und Energie, wenn sie von ihrer Arbeit erzählt. Ich dagegen schweige und staune. Eine starke Arbeit, die sie da leistet und das direkt im historischen Weg Kolumbiens. Sie erzählt von lokalen Initiativen die Erfolge für die Unabhängigkeit der Frauen feiern. Oft ist die ökonomische Abhängigkeit vom eigenen Mann, ist oft ein Problem um sich effektiv gegen häusliche Gewalt zu wehren. Aber auch die Folgen des Konflikts werfen ihre Schatten. Vergewaltigungen haben alle bewaffneten Gruppen eingesetzt um ihre Region zu kontrollieren. Zugeben mag es nur niemand. Dann lieber zugeben, dass sie einen Mann getötet haben. Sie erzählt von einer Frau, die von einem Paramiltär vergewaltigt worden war und später darüber sprach. Das war traumatisierend auch für die Tochter, weil die nun Begriff wer ihr Vater ist. Viele trauen sich nicht offen darüber zu sprechen und da kann Isabelle mit Anonymität und vertrauensvollen Gesprächen trotzdem helfen.

Über Isabelle kommen wir in Kontakt mit ihrer Kollegin: Laura. Sie arbeitet auch für „Humanas“ und kümmert sich mehr um den Friedensaufbau. Besonders in Kontakt mit Paramilitärs im Nordwesten. Wir diskutieren wie sie mit Menschen umgehen muss, die grausamste Taten begangen haben. Wie sie Paramilitärs und Guerillas für gemeinsames Fußball-Schauen gewinnen konnte. Eine, die selbst Opfer von Paramilitärs wurde, meinte mal zu ihr: „Wir sind keine Opfer und Täter. Wir sind überlebende des Konfliktes.“ Verzeihen zu können scheint ihr wichtig zu sein, aber natürlich müssen sie ihre Taten zugeben und bei Aufklärung helfen. Laura spricht von ihren Job nicht als Job. Es ist ihr Leben. Ich frage sie, wie sie das Problem lösen möchte, da Kokain immer noch stark nachgefragt wird. Besonders Nordamerika und Europa konsumieren, während Länder wie Kolumbien produzieren. Sie spricht von Legalisierung und welche Folgen der Koka-Anbau hat. Ja da hängt Blut dran und es wird mir klar, dass auch hier die neokoloniale Ausbeutung zu finden ist. Die Folgen des Konsums im globalen Norden, trägt der globale Süden.

Als positives Beispiel führt sie das Café an, indem wir uns verabredet hatten. „Cantera Café Work“ setzt ausschließlich auf Regionalität. Selbst die Kaffeemaschinen sind aus Kolumbien. Eingestellt werden ehemalige FARC-Kämpfer*innen. So wird ihnen ein Weg vom/von der Soldat*in hinüber ins zivile Leben ermöglicht. Da das Mittag und der Kaffee ausgezeichnet sind, möchte ich allen Bogotá-Reisenden diese Location unbedingt ans Herz legen.

Noch Stunden nach dem Treffen bin ich schwer beeindruckt von Laura und ihrer Arbeit. Rosa und ich unterhalten uns noch länger über sie und hoffen, dass ihre Arbeit fruchtbar sein wird.

Grün und Bunt

Eine Region die Guerillas und Regierung nicht beherrschen, sind die Smaragd-Abbaugebiete. Kolumbien ist der größte Smaragd-Produzent der Welt. In der Innenstadt Bogotás bietet jede*r Schmuckhändler*in Smaragde und Smaragd-Schmuck an. An einer unscheinbaren Stelle im Zentrum können auch illegal die Edelsteine erworben werden. Immer zwei bis drei Männer stehen zusammen. Bei einer hinteren Gruppe konnte ich beobachten wie einer mit einem speziellen Lupen-Gerät seine Serviette untersuchte. Ich vermute mal, dass in der halboffen gehaltenen Serviette das grüne Gold schlummerte.

Wer nicht nur auf grün steht, sollte einfach mit offenen Auge durch die Stadt gehen. Auch unter Brücken, an Straßenrändern und Hausfasaden sind zig große und besonders gute Graffiti zu bestaunen. Auch wenn die Stadtpolitik das eingrenzen will, so sind viele Wände besonders kunstvoll gestaltet. Allein aus dem Fenster der Buslinien 6 und 1 konnte ich einiges sehen. Vögel sind oft gesprüht worden, weil sie auf die besonders hohe Biodiversität Kolumbiens verweisen. Kolumbien hat Naturschutzgebiete, die größer sind als die Niederlande.

Besonders bunt ging es auch am Sonntag los, als der 480te Stadtgeburtstag nachgefeiert wurde. Sonntags ist generell Ciclovia in Bogotá, d.h. viele Hauptstraßen werden für den Motorverkehr gesperrt. Fahrräder, Spaziergänger*innen, Sportler*innen verschiedenster Art und alles was Rollen hat, erobert die Straßen. Die Stadtverwaltung bietet u.a. auch Reparaturservice an. Diese Ciclovia wurde um einen langen und bunten Umzug ergänzt. Kulturgruppen haben verschiedenste Themen in Szene gesetzt. Teils durch Choreographien, Tänze, Akrobatik oder/und kunstvolle Kostüme und Puppen. Gruppe um Gruppe zog an mir und vielen anderen Schaulustigen vorbei.

Wer einen schönen Ausblick in der Stadt sucht, dem sei Montserrate empfohlen. Ein Gipfel an der Ostseite ist über einen langen steilen Weg zu erreichen oder Zahnradbahn oder Seilbahn. Die Seilbahn ist Sonntags günstiger. Wenn das Wetter besser ist, soll ein traumhafter Sonnenuntergang zu sehen sein. Neben einen wunderschönen Rundblick sei darauf hingewiesen, dass das kühle Wetter und der Wind einen nicht vor Sonnenstich und Sonnenbrand schützen kann. Leider. Auch das Hochhaus der Colpatria-Bank bietet einen schicken Rundblick.

In den Straßen Bogotás, aber auch in vielen anderen Orten Kolumbiens, werden „Minutos“ also Minuten angeboten. Das sind quasi mobile private Telephonzellen. Menschen bieten da Telephonate, meist nach Venezuela, für günstige Preise an. Meist wird damit geworben, welche Funknetze abgedeckt werden.

Trennung und der Weg nach Süden

Nun geht auch die schönste Zeit irgendwann vorbei. Bogotá war besonders spannend und ich konnte viel lernen. Ich breche auf, lasse aber Rosa zurück. Beide erwarten wir Gäste, die uns auf der Reise begleiten werden, nur, dass ich dafür Anfang September in Lima und sie in knapp zwei Wochen in Ecuador sein muss. Ich hoffe unsere Wege führen danach wieder zusammen.

Um etwas Strecke zu machen bin ich mit dem Bus direkt bis an die ecuadorianische Grenze gefahren. 23 Stunden brauchte der Bus bis Ipiales und mit dem geteilten Taxi war ich noch rechtzeitig bei der Migrationsbehörde Kolumbiens. Nach ca. 2 Stunden hatte ich meinen Stempel. Anders geht es vielen Venezolaner*innen, die in einer eigenen Schlange anstehen müssen und wodurch gut hundert übernachten müssen auf der Straße bis am nächsten Morgen die Behörde ihre Schalter wieder öffnet. Alle anderen haben privilegierten Vorzug. Das Rote Kreuz ist nun am Start. Ecuador hat das eleganter gelöst. Gleich acht Schalter sind nun rund um die Uhr besetzt, sodass niemand warten muss. Dadurch bin ich schnell durch an der Grenze und hab auch gleich ein geteiltes Taxi zum Busbahnhof gefunden. Kaum angekommen fuhr schon 20 Minuten später der Bus ab. Gegen 3:15 stieg ich etwas gerädert an einem der Busbahnhofe in Quito aus …