Apr 1 2019

Die Größte

Von Karl

São Paulo, Brasilien

 

Willkommen

Heute darf ich euch Samuel alias Samant und Isabel vorstellen. Isabel hat noch Familie in Nicaragua, aber da grad der olle Diktator nicht gehen will und das Land terrorisiert, zog sie es vor in den USA bzw. jetzt in Brasilien zu wohnen. Sie unterrichtet Englisch und lernt portugiesisch, was ihr leichter fällt, da sie ja Spanisch als Muttersprache hat. Anders als Samant, der Englisch als Muttersprache hat und aus Ghana nach Brasilien kam, nachdem er auf einer halben Weltreise Isabel kennenlernte. Ein ziemlich interessantes Pärchen, mit dem wir dann auch mal zum Bäcker gegangen sind.

Jups, ihr lest richtig, zum Bäcker. Die Kuriosität daran ist, dass es ein Plastikkarten-System gibt. Die Karten sind allerdings deutlich größer als gewöhnlich und kommen aus einer Vorrichtung die dann das Drehkreuz freigibt wenn mensch sich eine gezogen hat. Neben der klassischen Möglichkeit Brote und Süßwaren zu kaufen oder zu schlemmen, gibt es auch eine Art Restaurant oder Bar oder Kiosk. Irgendwie ist ein wenig von allem dabei. Manche sitzen beim Feierabend-Bierchen zusammen und anderen haben ein Menü bestellt. Andere ziehen mit einer Tüte Pão de Queijo ab.

Pão de Queijo heißt so viel wie „Käsebrot“ und meint Kugeln oder Kügelchen, die im Prinzip wie Käse schmecken. Der Käse ist dem Maniok-Mehl dazu gegeben worden, bevor es gebacken wurde. Es ist super lecker insbesondere, wenn es frisch zubereitet wurde. In Porto Alegre gab es sogar welche mit flüssigem Käse in der Mitte. Om-nom-nom.

Samant erzählt uns noch von seinem musikalischen Projekt und wenn ihr mal reinhören wollt schaut nach „Samant ID“. Isabel und Samant sind unsere Gastgeber*innen in São Paulo der größten Metropole Latein– und Südamerikas, sowie der zweitgrößten auf der Südhalbkugel; nur Jakarta ist größer. 21 Millionen sollen in der Metropole wohnen, also eine schier endlose Stadt. Entsprechend viele Seiten beherbergt sie und hat einen entsprechend enormen Stellenwert in Brasilien.

Ihren Aufstieg fußt auf der Industrie. Auch deutsche Konzerne lassen Unmengen in der Stadt produzieren und ist wohl eine der größten deutschen Industriestandorte. Sie ist die Stadt in der gearbeitet wird, so heißt es. 60 Prozent des brasilianischen Stromverbrauchs entfällt auf São Paulo. Ein Drittel des brasilianischen Exports kommt aus São Paulo. Dazu gehört die nahe Hafenstadt Santos, die den größten Hafen Lateinamerikas betreibt. São Paulo ist auch der Schoß der berühmten Arbeiterpartei PT, die den ehemaligen Präsidenten Lula da Silva stellte. Selbst international ist der Prozess um Lula berühmt geworden. Noch im Amt wurde nach Ermittlungen unter anderem ihm der Prozess wegen Korruption gemacht und er wanderte ins Gefängnis. Es steht allerdings zu vermuten, dass es politisch motiviert war, denn neben all den Mittäter*innen ist nur er eingewandert. Das hat schlussendlich auch den Rechtsaußen-Populisten Bolsonaro geholfen 2018 an die Macht zu kommen. Lula verfolgte eine sozialistische Politik, die Armut und Hunger verringern konnte. Dass Politik sehr korrupt ist in Brasilien, das, so höre ich mehrfach, scheint eher normal zu sein, nichtsdestotrotz etwas was viele ärgert.

Fast zwangsläufig hat eine solch große Stadt ein Problem mit der Luftverschmutzung. Aber auch die Bodenversiegelung schlägt hier zu. Bei den tropischen Regenfällen die manchmal in die Metropole gelangen kommt es schnell zu lokalen Hochwassern und Verkehrschaos.

Das Rückgrat des öffentlichen Personenverkehrs bildet die Metro mit knapp zwei Dutzend Linien. Eine Fahrt vom Zentrum an den Rand kann entsprechend lange dauern. Arbeiter*innen brauchen im Schnitt zweieinhalb Stunden pro Fahrtstrecke in São Paulo. Die Metro ist auf einigen Strecken sehr modern und gilt als drittleistungsfähigste der Welt. Im Abstand von 100 Sekunden fahren Züge ab.

Unterschrift und Stempel

Wie schon auf der Überfahrt nach Südamerika, so auch auf der Rückfahrt beabsichtige mit dem Containerschiff zu fahren und dies bedarf leider ein paar Dokumenten. Das allerletzte dass ich nun besorgen muss, ist ein medizinisches Zertifikat, welches beweist, dass ich gesund genug bin auf einem Schiff mitzufahren. Gesagt, getan, ich beginne also die Suche nach entsprechenden Adressen. Die us-amerikanische Botschaft bietet beispielsweise ein Liste an Krankenhäusern, die vermutlich auch englisch sprechen. Was schon mal gut ist, weil mein Dokument in englisch gehalten ist.

Samant berichtet mir aber auch von seinem Arzt und dieser würde auch englisch sprechen. Samant selbst tut sich noch schwer mit portugiesisch. Portugiesisch ist tatsächlich ziemlich herausfordernd, wenn mensch jetzt nicht grad Profi in Spanisch ist. So ist es schwierig zu erlernen, das „ã“ richtig auszusprechen. Manchmal klingt das „t“ wie ein „sch“, das „r“ wie ein „h“ und das „l“ wie ein „u“. Sie schreibt sich Brasilien in portugiesisch „Brasil“, aber wird in etwa wie „Brasiu“ ausgesprochen.

Auf dem Weg zu seiner Anschrift, kommen wir an einem Ärztinnen- und Ärztehaus vorbei. Sie haben leider nur Spezialist*innen, finden aber eine Krankenpflegerin, die auch spanisch spricht und uns eine Brief auf portugiesisch verfasst. Gegenüber, 100 Meter bergan, gibt es aber einen Gesundheitsposten, wo wir hingeschickt werden und den Brief abgeben. Der kleine Anmeldebereich ist voll mit Menschen. Vielleicht fünfzig warten und es ist das bunte Potpourri an Problemchen.

Ich werde im System aufgenommen und mit einer grünen Karte ausgestattet.

Anders als im Spanischen kommt der mütterliche Nachname an erste Stelle und es werden auch die mütterlichen Nachnamen an die Kinder weitergegeben. Weil ich das nicht gerafft habe, blieb das Feld „Name der Mutter“ frei. Hinzu kommt, dass „Nachname“ auf Spanisch „Spitzname“ auf Portugiesisch heißt und umgekehrt. Nachdem wir aber all dies überwunden hatten, begannen wir damit zu warten. Entgegen meiner Annahme nun zig Stunden warten zu müssen, weil wir offensichtlich bei einem offiziellen Gesundheitsposten des Gesundheitsministeriums sind, werde ich schon nach einer halben Stunde in ein kleines Zimmer geführt und ein paar wenige Tests gemacht. Blutdruck und Herzfrequenz und was sonst noch schnell geht.

Vorab waren wir bei einer privaten Praxis die einen Betrag verlangte, dass wir lieber weitersuchten. Ich kann nun im nächsten Stockwerk warten und auch hier sitzen schon einige. Aber es geht Schlag auf Schlag. Mindestens sechs Sprechzimmer sind auf dem Gang, vielleicht auch zehn. Keine zwanzig Minuten später sitze ich vor einem Arzt am Besprechungstisch und der packt sein fließendes us-amerikanisches Englisch aus. Er geht kurz den Bogen mit mir durch, wir unterhalten uns kurz, dann haut er Stempel und Unterschrift drauf und ich kann das Zimmer wieder verlassen. Bevor ich aber die Klinke in die Hand nehme, frage ich noch, wo und wie ich denn die Leistung bezahlen muss. Nicht ohne Stolz bemerkt er, dass die Gesundheitsversorgung in Brasilien kostenlos ist. Ich sag ihm, dass ich das gut finde, und hebe nun meine grüne brasilianische Gesundheitskarte auf.

Tokio und London

São Paulo ist über die Jahrzehnte auch Ziel von Zuwanderung aus der ganzen Welt gewesen und wohl auch deswegen gilt es als größte japanische Stadt außerhalb von Japan. Ein entsprechender Stadtteil zeugt von dem japanischen Einfluss. Ampeln sind mit entsprechenden Schrift-Zeichen versehen, Straßenzüge haben speziell geformte Laternen und Läden sind in japanischem Stil gestaltet. Unsere Entdeckungstour endet aber, als ein unglaublicher Wasserfall über der Stadt sich ergießt, kombiniert mit Windböen, die die Fallrichtung um 90 Grad von vertikal auf horizontal ändern. Wir müssen also in einem asiatischen Restaurant zuschlagen. Hilft alles nichts.

Am nächsten Tag wollen wir einen Ausblick über die Stadt wagen und kommen in das Geschäftsviertel der Stadt. Breite Fußgänger*innen-Zonen, Geschäftsleute, Kanzleien, Hochhäuser, … ja einiges erinnert ziemlich an London.

Das Hochhaus mit der besuchbaren Ausblicksebene breitet den Teppich aus wie ein Fünf-Sterne-Hotel und verlangt gutes Geld für ein wenig Aufzug. Naja, der Ausblick ist gut, aber nicht der höchste. Eine Ansammlung an Hochhäusern durchzogen von großen Straßennetzen und das soweit das Auge reicht. Auch an anderer Stelle finden wir eine breite Straße vor, die sich schnurstracks bis ins unendlich verliert, die zwar Fahrradspuren und moderne Busse hat, anders als in unserer Gegend, aber die Angebote rundherum sind nicht für unseren Geldbeutel gemacht.

Dann doch lieber unsere Gegend, die mir einfach und bodenständig erscheint. Im Selbstbedienungs-Restaurant um die Ecke gibt es lecker Feijoada. Das ist eine Art Bohneneintopf. Meist wohl mit dunkelroten Bohnen, aber es gibt auch einen mit schwarzen Bohnen. Vielleicht heißt einer von beiden nicht Feijoada, aber egal, von mir gibt es eine absolute Essempfehlung. Aufgepasst, manchmal ist es mit Fleisch angereichert. Auch frisch gepresster Orangensaft kommt auf unseren täglichen Speiseplan, hier „Suco de Laranja“ genannt.

Wer erneut einen Abstecher in die Bäckerei wagt, sollte auch mal Brigadeiros probieren. Aufgepasst, Diabetes-Gefahr. Brigadeiros sind Kugeln aus Kakao-Masse mit Schokostreuseln und gehören zur Familie der Trüffelpralinen. Gibt es an vielen Ecken.

Nach einer herzlichen Verabschiedung von Samant und Isabel klappern wir nochmal all unsere Lieblingsplätze ab, bevor es mit der Metro wieder zurück zum größten Busbahnhof Lateinamerikas geht.


Mrz 18 2019

Fran, Chaco und Erdnuss

Von Karl

Filadelfia

 

Auf dem Weg nach Filadelfia

Gerade habe ich die Grenzkontrolle samt Sonnenaufgang hinter mir gelassen. Der Bus ruckelt nun ins Innere Paraguays vor. Die Grenzkontrolle war außergewöhnlich skeptisch. Jede*r einzelne musste mit ihren*seinen gesamten Gepäck sich einer intensiven Kontrolle unterziehen. In Reihen mussten wir uns aufstellen mit dem Gepäck vor uns.

Die Landschaft ist stark vom Chaco geprägt. Der Chaco ist eine trockene Naturlandschaft die am ehesten einer Savanne ähnelt. Mein erster Eindruck in Paraguays Natur ist die Vielfalt an Schmetterlingen. Sie schwirren am Straßenrand in großen Gruppen umher.

Die unerbittliche Sonne sorgt in dieser Region für die höchsten Temperaturen des Kontinentes und nun ist ja auch noch zu allen Überdruss Sommer. Was aber auch bedeutet, dass es Regenzeit ist und deshalb alles grün spriest. Später werden mir Bilder gezeigt, dass die Landschaft im Winter auch gelb sein kann.

Paraguays einzige Straße quer durch den eigenen Westen zur bolivianischen Grenze wurde irgendwann mal in den 60ern gebaut. Entsprechend ist die Ruta 9 oder Trans-Chaco genannt teils auch eher Sandpiste mit Asphaltinseln, um die der Bus dann bedächtig zirkelt. Der Bus entwickelt sich langsam zum Treibhaus. Hinzu kommt, dass der Bus immer mal hält, weil irgendwas mit dem Bus nicht stimmt und nun auch noch der Motor raucht, der bei diesem Modell noch neben dem Fahrer ist. Sie suchen offensichtlich eine Möglichkeit etwas zu reparieren.

Wir gelangen an einen weiteren Kontrollposten der Polizei und müssen erneut alle aussteigen und unser Gepäck aufreihen. Hinter dem Gepäck stehen wir und warten, dass die Pässe erneut kontrolliert werden. Erst kommt der Drogenhund, der aber nichts findet. Als dann jede*r durchwühlt wurde, warten wir dass der Bus zurückkehrt von der Werkstatt. Hier im nirgendwo lebt ja so gut wie niemand und die nächsten Siedlungen sind ziemlich weit entfernt. Hier sind mehrere Stunden Abstand die Normalität. Nach unzähliger Zeit kommt das altersmüde Monster doch wieder angerollt und es geht weiter. Der Bus wird unzählige weitere Male von der Polizei angehalten und kontrolliert. Nie haben sie was gefunden und wenn ich Drogen-Schmuggler wäre, ich würde nicht den Bus nutzen. Hintergrund ist wohl, dass Paraguay der größte Cannabis-Produzent Südamerikas ist. 90 % kommen von hier. In manchen Ecken lebt die Bevölkerung überwiegend vom Anbau und ist das ärmste und schwächste Glied in der Kette. Reich damit werden andere.

Ich spreche nochmal den Fahrer an, dass ich ja in Filadelfia aussteigen möchte. Anders als noch in Santa Cruz mir versichert wurde, wollen sie doch nicht nach Fildadelfia hineinfahren. Das wäre zu weit abseits der Straße. Kaum verwunderlich aber ärgerlich. An einem Abzweig lässt mich der Bus dann raus. Mitten in der Hitze des Tages. Selten habe ich so stark den Hitzedruck der Sonne gespürt.

Ein paar Jugendliche am Straßenrand meinen dass von hier nichts in die Stadt fährt. Gut, hier an der Kreuzung ist ja auch nicht viel. Ein paar kleine Häuser und Läden. Nun also der Daumen, mein alter Freund und Feind. Etwas über 10 km, vielleicht 15 km, muss ich überwinden. Zu spät bin ich eh schon.

Ich bekomme tatsächlich das ein oder andere Angebot, aber nach Filadelfia rein fährt niemand. Ein Pärchen meint dann, dass es mich zu einer besseren Stelle bringen könne. Der Haupteinfallsstraße nach Filadelfia. Das ist schon mal ziemlich nett.

Schnell wird klar, dass der Mann deutsch spricht und wir kommen ins Gespräch, wenn auch wegen der Kürze der Strecke, auch nicht lange. Er meint, viele sprechen hier deutsch, es gibt viele Mennonit*innen. Einige habe ich schon in Santa Cruz, auf der Straße und im Bus gesehen. Manche tragen noch Klamotten wie vor hundert Jahren, andere nehmen sich ganz modern aus. Mein Fahrer ist doch eher moderner. Seine Frau Venezolanerin.

An der Hauptstraße lässt er mich dann wieder raus und wir wuchten meinen Rucksack von der Ladefläche des Geländewagens. Tatsächlich ist die Straße etwas größer ausgebaut. Keine halbe Stunde später sitze ich in einem ähnlichem Fahrzeug. Mit so viele Gastfreundlichkeit hätte ich ja nicht gerechnet. Es fährt Hans, oder so ähnlich, ein alter weißer Mann, der mir auf fast perfekten Deutsch ungefragt alles mögliche über Filadelfia und die Mennonit*innen erzählt. Er sei der einzige registrierte Fremdenführer und hätte schon dem NDR hier alles gezeigt, als die mal zu Besuch waren. Grund ist, dass die Mennoniten untereinander Plautdietsch sprechen, ein ziemlich schwer zu verstehender Dialekt, der am ehesten mit dem Niederdeutschen verwandt ist. Ich hab mal ein Textbeispiel für euch photographiert. Stammt aus einem kleinen Magazin, welches sie rausgeben.

Filadelfia

Die geographisch Fitten unter euch werden vielleicht etwas stutzig sein über den Namen dieser Stadt. Gewöhnlich kennen wir die Schreibweise „Philadelphia“ und die wohl bekannteste Namensträgerin ist eine Millionenstadt an der Ostküste der USA. Damit aber die spanischsprechende Bevölkerung Paraguays die Stadt „richtig“ ausspricht, wurde der Name eingespanischt.

Filadelfia liegt so ziemlich im Zentrum von Paraguays Westen. Paraguay ist in verschiedener Hinsicht in einen West- und einen Ostteil geteilt dessen Grenze der Rio Paraguay ist, der wohl auch der Namensgeber ist. Die beiden Teile sind in etwa gleich groß, doch lediglich 10% leben in der Westhälfte. So ziemlich alles liegt im Osten. Nur ein paar Mennonit*innen und Indigene besiedeln den Westen, der gemeinhin einfach als Chaco bezeichnet wird. Es soll sogar noch unkontaktierte indigene Gemeinschaften geben.

Filadelfia ist Zentrum der größten mennonitischen Siedlung, welche sich in Kooperativen zusammen schlossen und so ihre Arbeit organisieren. Die Kooperative um die sich Filadelfia entwickelt, nennt sich Fernheim.

Auf den Weg in die Stadt fällt auf, dass es unzählige Monumente gibt, die alle zehn Jahre aufgestellt worden sind, um an die Erstbesiedlung zu erinnern. Paraguay und Bolivien stritten sich damals um den Chaco, vielleicht auch, weil eine Ölfirma Erdöl dort vermutete. Paraguay bot günstig Siedlungsland und die Mennonit*innen, die ursprünglich aus Deutschland nach Russland siedelten, verließen grad Russland aus Angst vor Stalin. So versuchte Paraguay das Land für sich zu vereinnahmen. Kurz darauf kam es zum Chaco-Krieg den Paraguay für sich entscheiden konnte. Später hat Paraguay dann doch kein Öl vorfinden können.

Die Stadt ist im Schachbrett angeordnet mit teilenden Strukturen. Die nördliche Hälfte wird von großen mennonitischen Villen belegt. Der Südwesten von vier verschiedenen indigenen Gruppen, die alle in Comunidades zusammenleben und zum Teil extrem ärmliche Behausungen haben. Die vier Gruppen heißen Enhlet, Avoreo, Nivaclé und Guaraní. Im Südosten der Stadt leben die Paraguayos in einfachen Häusern.

Altenheim

Hans hatte mich ein Block von der zentralen Kreuzung entfernt rausgelassen und so konnte ich zu Fuß mein Ziel erreichen. Die Apotheke im Zentrum. Gut, die Stadt ist nicht allzu groß, sodass Stradtrand und Zentrum keine 5 Minuten bei Auto auseinander liegen. Ich versuche es erstmal mit Warten und entdecke unzählige Plakate und Schilder, die in Deutsch gehalten sind. Äußerst kurios. Die Apotheke macht grad aber Siesta. Eigentlich sollte ich mich mit der Mitbewohnerin von Fran, meinem Gastgeber treffen, aber das war vor drei Stunden. Aus vielerlei Gründen bin ich ziemlich spät dran.

Hinter der Apotheke frage ich im Krankenhaus nach ihr. Sie habe mal in der Apotheke gearbeitet, nun wäre sie aber im Altenheim beschäftigt. Ich habe übrigens noch nie in Südamerika ein Altenheim gesehen. Etwas verwundert, laufe ich einen Block weiter und tatsächlich, da steht Altenheim, sogar in Deutsch, dran.

Es ist schwer dort jemand zu finden, bis ich dann Pfleger*innen im Aufenthaltsraum antreffe. Yenni habe grad keine Schicht. Eine Pflegerin versucht ihre Telephonnummer herauszufinden. Währenddessen betrachte ich verwundert das Dutzend altersschwache*r Rollstuhlfahrer*innen an. Mit spanischen Akzent spricht eine Pflegerin einen alten Mann sehr laut auf deutsch an. Erst versteht er nicht, dann sagt er nur „ja, ja“. Ganz wie in Deutschland, denke ich. Die anderen sind allesamt dem Fernseher zugedreht, wo eine ziemlich klischeegeladene Doku über die Bergwelt Perus läuft. Auch auf deutsch. Total ungewohnt, dass alles verständlich ist, nur die einheimische Bevölkerung bevorzugt mit mir spanisch zu sprechen.

Schlussendlich kann ich dann ein Treffen mit Yenni an der Hauptkreuzung organisieren und auf dem Rücksitz des Rollers geht‘s an den Ortsrand. Mitten auf der grünen Wiese des Nachbarn wurde aus roten Backsteinen ein Häuschen für zwei Personen gebaut. Fran und Yenni sind Mitbewohner*innen und teilen das meiste. Oft sitzen sie gemütlich auf der überdachten Terrasse. Besonders Yenni ist eine Freundin des gemütlichen Lebens. Wir trinken Bier, Rauchen, genießen die Natur. Es ist nun mal auch ein einmaliger Ausblick, denn kaum ein Ort liegt so abgelegen.

Später treffe ich Fran, ein weltoffener und immer freundlicher Mensch. Er zeigt ein sehr hohes Vertrauen und gibt mir den Schlüssel zu seinem Cross-Motorrad. Nach einer kurzen Fahrt gemeinsam.

Sie machen mich auch gleich mit zwei paraguayische Spezialitäten vertraut, die sich ziemlich ähneln. Sie bestehen größtenteils aus Mais, sind herzhaft und sehen aus wie gelber Rührkuchen. Das lustige ist, dass das eine den Namen „Sopa“, zu deutsch „Suppe“, trägt. Paraguay, so meinen sie, ist das einzige Land, dass eine feste, also nicht-flüssige, Suppe auf dem Speiseplan hat. Hauptbestandteil soll Maismehl sein. „Chipawasu“ dagegen wird aus ganzen Mais, Zwiebeln und Käse gemacht. Übrigens auch lecker.

Was besonders für die Region ist, dass es kein Wasserverteilsystem gibt und es auch im Allgemeinen kaum Regenwasser gibt. Deswegen wird jeder Quadratmeter Dachfläche genutzt um Wasser in einer Zisterne zu sammeln. Ab und zu schaltet er die Pumpe an, damit das Wasser in ein Dachbehälter fließt, womit dann geduscht und alles mögliche ganz gewöhnlich gemacht werden kann. In der Trockenzeit wird es wohl manchmal kritisch. Das entsalzte Grundwasser, welches die Mennonit*innen anbieten soll sehr teuer sein.

Erdnuss

Mit Bier und guter Unterhaltung verbringen wir den Abend auf der Terrasse. Mir wird nun erst richtig bewusst wie laut die Natur in meiner Umgebung hier ist. Ein massives Zirpen kommt aus den dichten Gras- und Baumlandschaften in der Nähe und machen auch noch in der Nacht ein extremes Konzert. Wären wir so dem Naturkonzert lauschen, geht der Mond auf. Es ist tatsächlich eines der schönsten Momente, denn der Mond scheint erst ein Feuer am Horizont zu sein, dass mitten in der dunkelsten Nacht ausgebrochen ist und reiht sich dann zwischen die Millionen Sterne ein, die schon den Himmel besprenkeln. Irgendwann muss ich aber auch von den vielen fliegenden Blutsaugern flüchten.

Fran ist Chef der Apotheke und vielleicht auch deswegen gut vernetzt. Er sprach von einer Erdnussfabrik und sofort wurde ich hellhörig. Am nächsten Tag schwinge ich mich wieder aufs Motorrad und fahre dorthin. Eine Mennonitin ist Chefin der Laborabteilung und nimmt mich in Empfang. Sie zeigt mir die verschiedenen Teile der Untersuchungsabteilungen, die zum einen die eigenen Produkte auf Unbedenklichkeit prüfen, als auch mit neuen Ideen experimentieren. Hinzu kommt, dass eine kleine Menge Erdnüsse gesalzen und geröstet in der Umgebung verkauft wird.

Leider ist gerade nicht die Saison, aber sie zeigt mir die Lagerhallen und Abfertigungsanlagen trotzdem. Teils sind sie so groß wie Hochhäuser und es unvorstellbar, dass sie auch schon an ihre Grenzen kamen. Es gab aber auch schon Dürren, wo kaum Erdnüsse zu verkaufen waren.

Die Bäuerinnen und Bauern sind auch Teil der Kooperative Fernheim. Lediglich in großen verpackten Säcken, teils nur noch mit dem Gabelstapler zu bewegen, lagern noch Erdnüsse auf dem Gelände. Lange Zeit waren Erdnussschalen ein Problem gewesen, meinte sie, denn es ist Müll der in großen Mengen anfällt und weggeschafft werden muss. Mittlerweile können sie ihn aber als Tierfutter verkaufen. Ohne Schale können mehr Erdnüsse pro Container verkauft werden. Die Haut von der Erdnuss wird je nach Kunde oder Kundin entfernt. Werden die Erdnüsse später mit Schokolade glasiert, so bleibt die Haut dran, weil die Schokolade daran besser haftet.

Der Absatz von Erdnüssen aus Paraguay ist dabei ziemlich beschwerlich, weil der Ankauf der Produkte meist erst im Hafen in Europa stattfindet. D.h. der Transport bis dahin muss im Preis enthalten sein. Die Erdnüsse aus Filadelfia müssen erst nach Asunción, dann weiter via Fluss oder Straße nach Buenos Aires und dann über’n Atlantik. Die argentinischen Produzent*innen haben jedoch viel größere Produktionsanlagen und haben deutlich geringere Transportkosten. Dies bedeutet für die die paraguayischen Erdnüsse, dass sie den Standortnachteil zusätzlich kompensieren müssen.

Zurück in ihrem Büro erklärt sie mir noch an einer Tafel die Kooperative Fernheim. Zu dieser gehört im Prinzip alles in Filadelfia. Der Supermarkt, das Altenheim, die Apotheke von Fran, das Hotel, das Krankenhaus, die Straßen, das Stromkraftwerk, Grundwasserentsalzungsanlage, und so weiter und so fort. Dabei wird in Wirtschaftsbetriebe und Soziales unterschieden. Was die einen erwirtschaften können die anderen als Wohltätigkeit ausgeben. Sie bietet mir an eine Stadtführung zu geben und wir verabreden uns für später.

Hygiene

Mit Fran besuche ich das Heimatmuseum. Ja, was eine gute deutsche Stadt halt immer braucht, ist eine deutschtümelndes Heimatmuseum. Allerlei Gegenstände aus den Anfängen in Filadelfia beziehungsweise der Flucht aus Russland, die wohl oft über einen deutschen Hafen ging. Empfehlen kann ich da eher das Naturkundemuseum, dass eine fulminante Sammlung der hiesigen Tier- und Pflanzenwelt hat. So gibt es Gürteltiere, Nabelschweine, Hirsche, Tapire, Guanakos, Jaguare, Pumas, Ozelots, Füchse, Wild- und Waldhunde und Wölfe. Aber auch die kleineren Vertreter sind ziemlich groß. Käfer und Mücken von der Größe einer Maus können durch die Luft schwirren.

Der wohl beeindruckenste Baum ist der Florettseidenbaum. Er hat die Form eines übergroßen Tropfens. Unten sehr bauchig und läuft dann auf 10 bis 15 Meter nach oben zusammen.

Da grad Regenzeit ist saugt sich der Baum weiter voll und ist entsprechend dick. In der Trockenzeit soll er nicht mal grün sein, aber zu meiner Zeit ist er es. Auf seinen dicken Bauch hat er Stacheln angebracht. Im Naturkundemuseum bekomme ich ein Stück Stamm in die Hand gedrückt. Im Vergleich zu den harten Hölzern der anderen Bäume, die extrem schwer sind, ist dieser sehr leicht. Ungewöhnlich leicht. An dem Holzscheit sind die Kammern gut zu erkennen in dem er Wasser sammeln kann.

Zu guter Letzt wird mir noch die Missionsarbeit gezeigt, was bis heute durchgeführt wird. Ich dachte, dass wäre irgendwann mal im Mittelalter gewesen, aber tatsächlich versuchen die Mennonit*innen heute noch die Indigenen vom Christentum zu überzeugen und dann zu taufen. Gut ist wer sich bekehren lässt. Noch sind sie dabei für die letzte indigene Sprache die Bibel zu übersetzen. Etwas ungläubig brechen wir an der Stelle ab und Fran und ich verschwinden.

Die gute Frau aus der Erdnussfabrik erwartet mich schon pünktlich vorm Supermarkt, der – so wie er ist – auch gut und gerne in Deutschland hätte stehen können und viele Produkte von dort enthält. Sie erklärt mir, dass die Mitarbeitenden und Mitglieder der Kooperative in allen eigenen Geschäften mittels einer Nummer einkaufen, sodass das Geld direkt von ihren Konto abgezogen wird. Jedes Mal als ich einkaufen war, bekam ich auch einen A5-Zettel mit Rechnungsübersicht.

Wir fahren einmal durch alle Viertel und sie erklärt lose vor sich hin. Dabei sind ihre Erzählungen über die verschiedenen Ethnien angereichert durch ihre rassistische Weltsicht. Sie erklärt mir, welche Gruppen für welche Arbeiten in ihren Fabriken, Feldern oder zu Hause geeignet wären. Das die einen nicht sauber machen könnten und die anderen gut sind um Felder zu vermessen. Als wir dann zu allen Überdruss noch in eine sehr enge Comunidad fahren, die nur aus ein paar Bretterverschlägen besteht möchte ich in dem Sitz versinken. Eigentlich spielten gerade ein paar Kinder Fußball, aber sie wendet mitten auf deren kleinen Platz. Sie dreht mit ihren übergroßen SUV mitten in der Siedlung und erklärt mir, dass „die noch nicht hygienisch“ genug seien.

Unterm Strich möchte auch sie keine Rassistin sein, aber es gab mir schwer zu denken. Sie meinte, dass es auch schon erste Indigene in den Kooperativen gäbe, aber die müssten halt den Aufnahmeprozess bestehen und das heißt im wesentlichen wohl so zu sein wie die Mennonit*innen. Sie hörte nicht auf mir weitere „ethnologische“ Erklärungen zu liefern. Eigentlich stellt sie die Mennonit*innen als die großen Heilsbringer dar. So hätten sie der einen Gruppe einen betonierten Mehrsport-Platz überdacht und mit großen Zisternen zur Wassergewinnung ausgestattet. Doch die Zisternen werden nicht genutzt. Sie seien halt nicht klug genug schon an morgen zu denken, sondern täten alle nur ans heute denken und wären dann überrascht wenn am nächsten Tag nicht genug da ist. An morgen täten halt nur die Mennonit*innen denken.

Schon in der Fabrik sprach sie davon, dass auch Frauen und Indigene beschäftigt werden, aber deren Arbeitsplätze sind schlussendlich wohl nicht gleichzusetzen. Während die einen wie Lebensmittel-Ingenieure in klimatisierten Räumen in aller Seelenruhe Proben nehmen, stehen die anderen an den lauten Maschinen in einem kleinen Raum und kontrollieren die durchlaufenden Erdnüsse.

Schlussendlich seien ihrer Meinung nach wohl viele Indigene auch nach Filadelfia gekommen weil sie sich Arbeit erhoffen. Das sah sie auch als ihre Aufgabe in Zukunft mehr Arbeit zu schaffen. Filadelfia sei im Wachstum begriffen. Leider wäre es dadurch nicht mehr so sicher wie vor ein paar Jahren. Da habe niemand den Autoschlüssel abgezogen oder die Haustür verschlossen. Auch die Stadtverwaltung gäbe es erst sein wenigen Jahren. Vorher war die Stadt komplett von der Kooperative verwaltet. Einige Sachen wollen sie nicht zurück geben, weil sie glauben, das besser machen zu können. Zum Beispiel den Straßenbau.

Wer an dem Kraftwerk vorbei kommt und weiß, dass auf der anderen Seite das paraguayische Kraftwerk steht, wird unweigerlich überlegen ob nicht der NDR nochmal mit Extra3 vorbeikommen sollte. Es gibt im Prinzip alles nochmal in mennonitischer Hand. Bis hin zu einer eigenen Post. Nachdem ich nun weiß, was der paraguayische Staat alles nicht perfekt macht und warum die anderen Gruppen nicht so gut sind, wie die deutschen Mennonit*innen, zeigt sie mir noch die großen Anwesen auf der Nordhälfte. Hier wohnen viel weniger Menschen in viel größeren Häusern. Es sind die Besitzenden und sogar Paraguay-weit dominieren die Mennonit*innen einige Wirtschaftszweige, insbesondere in der Landwirtschaft.

Guaraní

Zurück bei Fran bin ich auch irgendwie froh, nicht bei Mennonit*innen zu wohnen. Sie können mir auch bestätigen, dass viele Mennonit*innen klare rassistische und überlegene Weltbilder haben. Natürlich nicht alle. Fernheim ist vergleichsweise modern. Es gibt andere Kooperativen und die deutlich verschlossener sind und noch gefühlt im Mittelalter leben. Fran meint, dass die Indigenen in vielerlei Hinsicht respektiert und unterstützt werden. In keinem anderen Land Südamerika wurde das mit Anerkennung einer indigenen Sprache als Amtssprache so ernst genommen wie in Paraguay. Nun lernen alle in der Schule auch Guaraní und eine deutliche Mehrheit spricht diese Sprache. Guaraní bezeichnet sowohl eine indigene Gruppe, als auch ihre Sprache, sowie die paraguayische Währung und noch einiges mehr.

Besonders ärmere bevorzugen Guaraní und unterm Strich sprechen die meisten einen Spanisch-Guaraní-Mix. Je gehobener desto mehr Spanisch. Für euch ein paar Wörter in Guaraní:

mba‘eichapa = Hallo! Wie geht‘s?

Porá ha nde? = Gut, und dir?

Jaha = Auf geht’s!

Ja‘u = Lass uns was essen/trinken

„Danke“ lässt sich nur schwer übersetzen, weil es je nach Kontext verschiedene Wörter gibt. Deshalb hat sich da das spanische „Gracias“ durchgesetzt. Tatsächlich konnte ich zuhören wie sich Fran mit seiner Mitbewohnerin in Guaraní unterhielt, obwohl sie beide keine Guaraní-Indigene sind. Hier ein Hörbeispiel, extra für euch aufgenommen.

In den Argentinien-Texten habe ich euch von der Mate-Tradition berichtet. In Paraguay gibt es diese Tradition auch, allerdings mit kalten Wasser, meist sogar mit Eiswürfeln. Diese Variante nennt sich dann Tereré. Ich finde diese auch deutlich leckerer, weil es viel besser zu den heißen Wetter passt. An einem Tag habe ich mehrfach das Thermometer beobachtet und es verharrte bei durchgehend 39 Grad. Da ist es eine Wohltat mit Fran während der Spätschicht in der Apotheke Tereré zu trinken. Die Thermosbehälter sind in Paraguay größer. In manchen Läden können riesige Bottiche gekauft werden, so groß wie ein kleiner Kühlschrank. Das Tereré-Trinken ist auch ein sozialer Aspekt, da gemeinsam getrunken wird und nur dann allein, wenn mensch wirklich ganz allein ist. Eine Person gilt dabei als Ausschencker*in, d.h. zu der geht das Gefäß immer wieder zurück und sie füllt auf.

Auf den Weg zum Bus lies mich Fran sein Auto fahren, denn er genoss es einen Chauffeur zu haben. Da die Wege, bis auf die Hauptstraßen im Zentrum, nur aus Sand bestehen, verwandelten diese sich nach einem heftigen Regenschauer in Schlammpisten. Aber nicht nur das. Nach dem Regenschauer, wenn die Sonne die Wiesen trocknet schwillt das Naturkonzert, das Zirpen, so stark an, dass ich tatsächlich ins innere des Hauses flüchtete. Es ist schwer zu glauben, wenn mensch es nicht erlebt hat. Hier ein Hörbeispiel, für euch aufgenommen.

Nun, auf dem Weg zur Haltestelle, bin ich etwas von der Mitte abgekommen und da es sehr rutschig und zu den Seiten abfällig ist, rutschte sein Auto direkt in den Seitengraben, der sich zu einen Wasserkanal entwickelt hatte. Ich sah vor meinem inneren Auge schon, dass das Auto hinüber ist, doch Fran blieb ziemlich gelassen. Er rief einen Freund an, aber schon der zweite Geländewagen hatte ein Seil dabei und band dies um das Hinterrad. Dann zog er das Auto in der spektakulären Aktion den Graben entlang, während der Geländewagen selbst ausrutschte und zur anderen Seite strebte. An der nächsten Kreuzung hievte er aber Frans Auto aus dem Graben. Der lies es einfach an und wir fuhren weiter. Was für mich ein halber Schock war, scheint für ihn so oder so ähnlich öfters mal vorzukommen.

Ich hab die Tage bei Fran wirklich genießen können. Er hat ein sehr großes Herz und half mir in jeder Hinsicht. Eine echt außergewöhnliche Gastfreundschaft. Umso falscher fühlte es sich wieder an, in den Bus nach Asunción zu steigen. Er hat mir sogar ein zu Hause in meinem nächsten Ort organisiert.


Dez 17 2018

Deine Augen verbunden, deine Hände gefesselt, du wirst gefoltert und niemand weiß wo du bist …

Córdoba, Argentinien

Von Karl

 

Córdoba ist Argentiniens zweitgrößte Stadt und bekannt für ihre Kultur und Universitäten. Auf dem ersten Blick fallen auch die vielen weißen und gut erhaltenen Gebäude auf. Architekt*innen haben sich bestimmt große Mühe gegeben und deshalb wurde die Front einiger Gebäude auch nochmal im Boden nachgezeichnet, wie eine Art Schatten. Vielleicht damit die Leute die den Boden absuchen, auch die historischen Gebäude finden.

Die Universitäten Córdobas sind landesweit bekannt und verleihen der Stadt den Beinamen „La Docta“, also „die Doktorin“. Viele Gelehrte wohnen und leben hier. Nicht nur einmal habe ich gehört, dass Menschen zum studieren nach Argentinien gehen, weil es dort kostenlos sei. Selbst die Verpflegung in der Kantine alias Mensa ist selbst für arme Argentinier*innen noch sehr günstig. Hunderttausende Studierende bevölkern die Millionen-Metropole.

Als lokale Spezialität werden handgemachte Alfajor angepriesen. Die Leser*innen hier sind aber klüger, denn es gibt sie in ganz Chile und Argentinien. In verschiedenen Varianten. Ganz einfach mit Dulce de Leche zwischen zwei Kekshälften, oder teilweise mit mehreren Schichten und Schokoglasur. Mal abgepackt im Supermarkt, dann wieder in feinen Boxen zum Verschenken oder in speziellen Feinkostläden, die die wohl im Hinterzimmer per Hand machen.

Synagoge Córdoba

Als ich in Córdoba ankomme ist es noch frühs und in dem Hostel kann ich mir noch was vom feinen Frühstück nehmen. Was ich allerdings zum ersten Mal in Argentinien gesehen habe ist Kaffee in Tee-Beuteln. Eigentlich gar nicht so doof.

Nicht ganz so überragend wie in Mendoza, aber auch wunderschön sind die Parks der Stadt. Weitläufig, grün, Teiche, Inseln, Liebespaare, hohe Bäume mit viel Schatten, … Auch gäbe es ein hervorragendes Freibad, wenn es nur Wasser hätte. Eine alte Brücke überspannt das lange Becken.

Auf einem Platz im Zentrum steht eine übergroße gelbe Ente. Daneben werden kleine Badeenten verkauft. Dahinter steht eine soziale Initiative die Essen und Kleidung sammelt und verteilt.

Die soziale Ader kommt auch am Mittwoch zum Tragen. Da sind alle Museen und Gedenkstätten kostenlos. Mal eine Gelegenheit sich moderne Kunst anzutun. Leider muss ich kurz mit dem Kopf schütteln, da die vergangene Fußballweltmeisterschaft schon mit Farbe auf Leinwand gebracht worden ist. Ein großer Raum voll mit Spielern die gegen Bälle treten und darunter die Spielergebnisse.

An manchen Stellen in der Stadt, aber auch schon auf den letzten Stationen meiner Reise bin ich der Forderung begegnet: „Respekt, Freiheit und Wahrheit für Santiago Maldonado“. Wie ich nun herausgefunden habe, handelte es sich um einen Aktivisten aus der Provinz Buenos Aires (nicht der Hauptstadt), der sich dem Kampf der Mapuche verschrieben hatte. Genauso wie in Chile, gibt es, vor allem in Patagonien, noch Gebiete die von ihnen bewohnt werden und die sie gegen die Vertreibung verteidigen. Sie fordern weiterhin die Rückgabe ihrer Gebiete und die Autonomie auf diesen. Doch mit der konservativen Regierung unter Mauricio Macri ist keine Verhandlung in Sicht. Santiago Maldonado beteiligte sich an Protesten in Cushamen (Provinz Chubut), währenddessen Straßenblockaden errichtet wurden. Nach der Auflösung dieser war er tagelang vermisst und dann als Wasserleiche geborgen worden. Es ist unklar warum er gestorben ist. Die Protestbewegung wirft der Polizei den Mord vor.

Mich interessiert noch mehr von der aktuellen Politik und nehme die Gedenkstätte „La Perla“ in meinen Tagesplan. Es stellt sich schnell heraus, dass sie außerhalb der Stadt liegt und ich muss den entsprechenden Bus finden. Im neu errichteten Terminal 2 findet sich auch der entsprechende Bus. Er muss nämlich nach Villa Carlos Paz fahren, einen Nachbarort Córdobas, aber in Malagueño, einem Vorort, halten. Als der Bus dann aber nicht abfährt für Malagueño, zeige ich dem Busfahrer nochmal mein Ticket mit dem Zielort „La Perla“. Er fängt an zu schimpfen und lässt mich auf der Autobahn raus. Ich war einer von drei Fahrgästen und hatte ihm ja beim Einstieg mein Ticket gezeigt. Da es mir immer noch vergönnt ist, das „r“ nicht so auszusprechen, wie es die Einheimischen können, versteht mich leider niemand wenn ich „La Perla“ sage. Mehrmals habe ich z.B. beim Ticketkauf „La Perla“ gesagt, aber es wurde nicht verstanden. Erst als ich es als Gedenkstätte erläutert habe die bei Malagueño liegt, meinten sie „La Perla?“. Da denke ich auch: Was zum Teufel habe ich zehn Mal zu dir gesagt?

Tatsächlich liegt Malagueño südlich der Autobahn und La Perla nördlich, sodass ich jetzt nur noch einen Kilometer zu laufen habe. Eigentlich ist das ganze Gebiet Sperrgebiet, aber hier gibt es einen Weg zur Gedenkstätte. Als erstes passiere ich einen heruntergekommenen Checkpoint und kann mir schon vorstellen, wie hier die Militärfahrzeuge in den 70er Jahren an die Schranke ranfuhren, die sich dann öffnete und salutierend den Laster hinterherschauten.

Zur gleichen Zeit kommt ein älterer Mann in das Gelände und wir erscheinen quasi zeitgleich bei der Rezeption. Die ganze restliche Zeit sehe ich keine weitere Person. Das Areal ist eine ehemalige kleine Kaserne mit Tor, Wachtürmen und verschiedenen Hallen. Ich unterhalte mich mit der jungen Frau, die für uns zuständig zu sein scheint. Während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 sind über 30.000 Menschen verschwunden. Meist Linke oder Menschen denen es unterstellt wurde. Sie wurden tagelang gefoltert und ermordet. Ohne dass es Aufzeichnungen gibt. Deswegen wird die Methode „verschwinden lassen“ genannt. Es war brutaler Staatsterror, der noch aufgearbeitet wird. Die Familien wissen oft bis heute nicht, was mit ihren Angehörigen passiert ist. Ob sie vielleicht ins Exil gegangen sind, Glück hatten und überlebten oder einfach per Flugzeug über dem Atlantik rausgeworfen worden. Das faschistische Regime hat seine Methoden unter anderem von der „Schule der Amerikas“ in Panama, den französischen Doktrin, die entwickelt wurden um die Aufständigen in Algerien niederzuschlagen, und den Erfahrungen der eingewanderten deutschen Nazis im Rahmen des Holocaust.

Ich beginne meinen Rundgang und beginne zu begreifen. Für viele ist die Suche nach ihren Angehörigen schwerlich. Kunstwerke in der ehemaligen Fahrzeughalle zeugen von ihren Willen und Hoffnungen auf Frieden. In anderen Räumen, die als Auswahl oder Folterkammern genutzt wurden, hängen Steckbriefe der Täter. Viele sind unbestraft davon gekommen. Die heutigen Rechten und Sympathisant*innen der Militärdiktatur versuchen immer wieder die Ereignisse zu relativieren. Irgendwie kommt mir das bekannt vor.

die Täter, viele unbestraft

Gezeigt wird auch der Kampf der „Mütter vom Platz des Mais“. Der Platz des Mais oder Mai-Platz ist der zentrale Platz in Buenos Aires und noch während der Diktatur begannen sie für Aufklärung zu demonstrieren. Sie trugen alle weiße Kopftücher und dieses wurde zum Symbol. Noch heute gibt es in allen Städten weiße Kopftuch-Graffiti auf den Gehwegen. Noch heute wird demonstriert. Da auch einige schwangere Frauen verschwunden sind, gibt es nun auch die Bewegung der „Großmütter vom Platz des Mais“, die wissen wollen wo ihre Enkel*innen abgeblieben sind. Die Militärs sollen die Neugeborenen an regimetreue Familien abgegeben haben. So mancher Mensch in Argentinien, der vielleicht 50 Jahre alt ist, ist womöglich kein Kind seiner Eltern. Bei Vermutungen können kostenlos Tests gemacht werden.

In La Perla ist auch der Raum zu besichtigen in denen die Gefangenen eingesperrt waren. Wie in alten Kasernen-Zeiten waren Doppel-Stock-Metall-Betten in unzähligen Reihen aufgestellt. Die Demütigung ging bis zum Stuhlgang und Duschen. Mit grausamer Freude wurden die Gefangenen gefoltert und entwürdigt. Berühmtestes deutsches Opfer ist Elisabeth Käsemann, die nach mehreren Tagen Folter getötet wurde. Unter anderem wegen ihr gab es dann auch Gerichtsverfahren in Deutschland, aber Argentinien hat die Täter nicht ausgeliefert.

Das Museum stellt die Ereignisse auch mit dem „Plan Condor“ der USA in Verbindung. Dabei handelt es sich um direkte Unterstützung und Intervention der USA in Lateinamerika von anti-kommunistischen Regierungen, Parteien, Milizen, Bewegungen, etc. Sie behaupteten, wenn ein Land sich dem Ostblock anschließen würde, dann fallen alle anderen Länder wie im Domino (Domino-Theorie). Deswegen wurde mit aller Macht versucht dies in allen Ländern Amerikas zu verhindern. Somit war die USA auch Freund des argentinischen faschistischen Militärregimes.

Besonders einprägend im Museum war ein Buch mit Zeichnungen eines ehemaligen Häftlings. Es sind Menschen zu sehen die mit verbundenen Augen auf dem Boden liegen. Wächter die mit Schlagstöcken unterwegs sind. Brutale Foltermethoden. Foltermethoden Made in Europe.

Ich bin schwer beeindruckt und noch in Gedanken versunken, als ich die Autobahn zu Fuß überquere um in Malagueño einen Bus zurück nach Córdoba zu finden.

Dort angekommen sehe ich in einer Nebenstraße des Hauptplatzes, dass hunderte Bilder aufgehängt worden sind. Bilder von Angehörigen, die vermisst werden. Quer über den Weg, von einer zu anderen Seite. Es hat Argentinien noch lange nicht losgelassen. Ein bisschen ist Argentinien Gefangene der eigenen Geschichte. Immer noch halten einige die Augen geschlossen, sind unfähig etwas zu unternehmen, viele tragen das tiefe Leid in sich und wissen nicht wo sie suchen sollen.


Nov 11 2018

Kupfer-Stadt

Von Karl

 

Ein ungeheuerlich großes graues Loch eröffnet sich vor mir. Über vier Kilometer breit und über ein Kilometer tief erstreckt sich ein Schlund in Form eines gestuften Trichters. Grauer Nebel hängt in der Grube. An den Rändern sind scheinbar willkürlich Wege angebracht die im Zickzack oder rund um den Trichter sich in die Höhe schrauben. Hellgraue Wege auf dunkelgrauen Boden. Wind in der Grube trägt immer eine Wolke grauen Nebels mit sich. Staub. Die oberen Ränder gehen in ein Gebirge über. Ein ganz normales bergiges Gelände, dass so sonst nicht beachtenswert ist. Trocken und steinig.

Wo ich hier stehe ist die Aussichtsplattform vor einem der größten Kupfer-Bergwerke der Welt. Im Tagebau baut hier die staatliche Kupfer-Firma CODELCO Tonnen an Kupfer ab. Das Kupfer liegt natürlich nicht einfach so rum, sondern ist nur 1,5% des Gesteins, sodass Tonnen an Erde abgebaggert und verladen werden. Der Bagger sieht von meiner Plattform sehr klein aus, doch neben der Aussichtsplattform steht ein weiterer und seine imposante Größe verrät, dass der aktive Bagger einfach sehr weit weg ist. Den Reisebus überragt der Bagger um ein Vielfaches.

Auch die LKWs sind riesig und entsprechen denen von Cerrejon in Kolumbien. Hinter uns passieren alle paar Minuten weitere dieser monströsen Fahrzeuge, vollgeladen mit Abraum aus dem Tagebau. Gemäß der Förderleistung ist Chuquicamata das zweitgrößte Kupferbergwerk der Welt. In der Region gibt es noch ein weiteres, welches noch größer ist. Der Kupferbergbau ist seit längerem das wichtigste chilenische Exportgut. Wir schauen also auch in die Herzkammer der chilenischen Wirtschaft, denn steigende und fallende Kupferpreise beeinflussen Chile umgehend. Seit dem China verstärkt Kupfer kauft, profitiert Chile insbesondere.

Geschichte Chiles

In Chile sind private Firmen im Geschäft tätig, aber auch die staatliche CODELCO, die ins Leben trat als der Sozialist Salvador Allende an die Macht kam und anfing Schlüsselindustrien zu verstaatlichen. Chuquicamata war vormals eine US-Amerikanische Firma. Die rechte Diktatur nach Allende hat vieles Rückgängig gemacht, aber eben nicht alles. So dass es CODELCO heute noch gibt.

Salvador Allende ist in den 1970er berühmt geworden, weil er als Sozialist an die Macht gewählt wurde und den „südamerikanischen Dritten Weg“ präferierte. Er begann schnell mit der Planwirtschaft. Viele Firmen aus dem globalen Norden verloren ihre chilenischen Töchter. Das gefiel im Kalten Krieg u.a. den USA nicht und so begannen sie starken Einfluss zu nehmen. 1973 endete die Auseinandersetzung im Lande mit dem Putsch der Armee gegen Allende. Der begang dabei Suizid. Diktator war nun der General Pinochet, der sein Land nun neoliberal umgestaltete. Chilenische Wirtschaftswissenschaftler, die sogenannten Chicago Boys, begannen mit neoliberalen Reformen, die aber schlussendlich nicht den erwünschten wirtschaftlichen Erfolg erzielten. Unter der Diktatur Pinochets wurden Linke verfolgt, verschwanden, gefoltert oder flüchteten ins Ausland.

1990 lies Pinochet dann abstimmen und da sich die Mehrheit für eine Demokratie aussprach, kam es zu ersten Wahlen. Er hatte aber die Verfassung schon so verändert, dass er selbst bis zu seinem Tode nichts zu befürchten hatte. Noch heute ist das Land in Befürworter*innen und Gegner*innen von Pinochet bzw. Allende gespalten.

Geisterstadt

Neben der Grube gibt es noch weitläufige Anlagen zur Kupferverarbeitung und weiterer Gesteine, die mit gefördert werden. In Chuquicamata arbeiten auch tausende Menschen, die bis 2004 im benachbarten gleichnamigen Örtchen gewohnt haben. Sie verdienen extrem gut. 9000 US-Dollar im Monat wurde uns mal gesagt. Dabei wurden ihnen noch Wohnung und einiges mehr gestellt. Dafür dass Chuquicamata nicht mehr bewohnt wird gibt es zwei Gründe: Die Staubbelastung durch die Mine ist zu stark, sodass die Siedlung geschlossen wurde. und unter Chuqicamata liegt Kupfer, dass CODELCO abbauen möchte. Wir werden von einer betriebseigenen Tour auch in das Dorf geführt, was an seinem Rande schon verschüttet wird. Die Geisterstadt wäre optimal für ein Western-Film, da noch alles so steht, wie vor wenigen Jahren verlassen. Nur ganz wenige Häuser werden als Büros genutzt. Neue Zäune versperren die Zugänge und passen so nicht in das Bild der Geisterstadt. Es gab ein Theater, ein Veranstaltungshaus und ein Stadion, nur halt ohne Gras.

Der Abraum frisst die Geisterstadt

Chuquicamata liegt in der Atacama-Wüste, wie schon Arica, und hat praktisch nie Niederschlag. In der Grube fahren Fahrzeuge die den Weg benetzen um den Staub etwas zu binden. Deswegen gibt es auch weit und breit keine natürliche Vegetation. Außer es kommt durch den El Niño ausnahmsweise doch zum Erblühen der Wüste. Das kurze Phänomen soll aber nur alle sechs bis zehn Jahre stattfinden.

Umso interessanter ist da der Hauptplatz der Geisterstadt. Hier gibt es noch die grünen Bäume und Wiesen in der Mitte. Dass sie grün sind, verdanken sie, der ständigen Bewässerung. Wir glauben unseren Augen erst nicht, aber als wir dann den Arbeiter und den Tanklaster mit der Aufschrift „Trinkwasser“ sehen, müssen wir es glauben: In der Geisterstadt wird der zentrale Platz weiter bewässert. Nix ungewöhnliches an solch trockenen Orten, aber wenn hier doch keiner lebt?

Trinkwasser für einen Platz in der Geisterstadt

Calama

Die Menschen die hier arbeiten leben und wohnen mittlerweile im wenige Kilometer entfernten Calama. Einer Kleinstadt und Verkehrsknoten in der Wüste. Auch hier ist der Kupferreichtum angekommen, sodass schwerlich Unterkünfte zu finden sind. Die Firmen zahlen den Arbeiter*innen oft die Unterkunft, sodass die Preise verdorben sind. Die Stadt wächst und es entstehen moderne Mehrgeschosser. Fast jede*r soll hier irgendwie mit dem Bergbau verbunden sein. Etwas besonderes gibt es in der Stadt aber sonst nicht.

Calama

Auch die Schattenseiten der Arbeiter*innen-Kolonnen werden uns nicht verschwiegen. Nicht wenige sollen dem Alkoholismus anheim gefallen sein und einige Kneipen bieten neben Bier auch Prostitution im Hinterzimmer.

Berlines

Wir entdecken später in der Bäckerei „Berlines“. Deutsche Einwanderung hat seine Spuren in Chile gelassen und so ist Bier trinken und Kuchen essen weit verbreitet. Deutsche Namen und Begriffe kommen uns hier immer wieder unter.

Ein weiteres neues Phänomen entdecken wir: In vielen der bereisten Länder sind Kleinbusse auf festen Routen mit Schilder ihrer Route normal. Dass diese aber mit Taxis kombiniert werden, ist neu. In Chile aber üblich, dass viele Taxen auf unzähligen Routen durch die Stadt fahren. Meist erst, wenn sie voll sind oder zumindest die meisten Plätze besetzt sind.

Zug mit Kupfer-Platten in Calama

Kurz vor Ende unseres Aufenthalts in Calama schließt sich der Kreis und ein Zug mit dem Exportgut in Reinform rollt an uns vorbei. Endlos lang liegen zig Kupferplatten für die Weiterverarbeitung auf den Waggons und fahren in die beginnende Nacht.


Nov 1 2018

Eine Stadt mit Seilbahn und Tal – Ein Land mit Pulli und Lederjacke

Von Karl

 

La Paz, El Alto, Bolivien

Nun bin ich also in Bolivien und unser erster Aufenthalt ist gleich La Paz, in dem sich auch der höchstgelegene Regierungssitz der Welt befindet. Die Hauptstadt allerdings ist Sucre, die größte Stadt, die sich mehr im Zentrum des Landes befindet. La Paz liegt im Westen und ist durch seine Tal-Lage geprägt. Zwischen 3200 und 4100m befindet sich das Stadtgebiet, das am oberen Tal-Rand fließend in das angrenzende El Alto übergeht. Der Name sagt es schon, denn El Alto heißt so viel wie „die Hohe“, El Alto liegt hoch und ist nochmal größer als La Paz selbst. Eigentlich könnten beide auch eine Stadt sein und dann wäre es auch die größte Boliviens. Knapp 2 Millionen Menschen lebten in dieser. Auf dem Weg nach La Paz muss mensch fast immer durch El Alto fahren, sodass auch wir am Übergang der beiden Städte einen kurzen spektakulären Ausblick vom Tal-Rand aus auf La Paz bekamen.

Hauptverkehrsstraße in El Alto

Die Höhe wirkt sich auf das Klima aus, und damit auf die Einkommensverteilung. In La Paz‘ Süden lebt es sich wärmer, tiefer und moderner. Einfamilienhäuser, fast wie in Westeuropa. Sogar Supermärkte, was in Bolivien tatsächlich etwas ungewöhnliches ist, weil schon in La Paz‘ höheren Norden sind die Straßen voll mit Verkaufsständen, Regierungsgebäuden, ärmer und auch touristischer. Weiter nördlich und westlich schließt sich dann El Alto an. Hier geht es im Winter (Juli) schon in den Minus-Bereich. El Alto, aber auch Bolivien als solches, ist durch Indigene Gruppen geprägt. So leben in El Alto drei Viertel Aymara-Sprechende. Auch ist Bolivien eines der ärmsten Länder Südamerikas. Über 50 Prozent der Bevölkerung El Altos sind unter 20 Jahre, was auch an der hohen Landflucht liegt. 70 Prozent leben unter der Armutsgrenze und die meisten Haushalte haben weder Strom- noch Wasseranschluss.

El Alto ist in gewisser Hinsicht also das Armenhaus zu La Paz‘ Reichtum. Boliviens Besucher*innen landen größtenteils im Zentrum von La Paz‘, was aufgrund der einzigen Ausdehnungsmöglichkeit nach Süden, im Norden liegt. Auch wir haben unsere Unterkunft nahe der touristischen Hauptroute bezogen und sind froh als wir in dieser gebirgigen Stadt unsere Rucksäcke ablegen können.

Blick auf La Paz

Hexenmarkt

Noch des Abends machen wir einen Rundgang durch unsere Gegend und zum ersten Mal erleben wir, dass so gut wie alles an der Straße verkauft wird. Offizielle Geschäfte gibt es nicht. Zufällig biegen wir auch in den Hexenmarkt ein, der als touristisches Highlight angepriesen wird. Aber an sich hat er eine ernste Funktion. Der Markt verkauft vieles von dem, was für indigene Rituale gebraucht wird. So wird oft Pachamama („Mutter Erde“) gehuldigt in dem ihr Sachen gespendet werden und sie mag wohl gerne Geschenke und am liebsten Alkohol. Insbesondere beim Hausbau wird auf gutem Segen vertraut und deshalb wird ein totes Baby-Lama oder –Alpaka im Fundament mit eingegraben. Dafür werden nicht extra welche gezüchtet, sondern Halter*innen verkaufen ihre, die beispielsweise durch Krankheiten, Kälte oder Unfälle gestorben sind. Als wir aber an den Ständen des Hexenmarktes vorbei liefen, ist es doch etwas unheimlich, dass unzählige tote ausgetrocknete Baby-Lamas über der Laden-Theke baumeln.

Wir erfahren auch, dass für größere Bauvorhaben auch größere Opfer erbracht werden müssen. So werden obdachlose Alkoholiker*innen befragt, um herauszufinden, ob sie von jemanden vermisst werden, bevor sie dann völlig betrunken, aber lebend begraben werden. Das Leben muss nämlich Pachamama ihnen nehmen. Sollte das Ritual unterbleiben, so werden Tote beim Bau oder im Haus später darauf zurückgeführt, dass die Pachamama sich ihre Opfergabe holt. Wir haben uns lieber während unseres Aufenthaltes in La Paz vom Alkohol fern gehalten. Sicher ist sicher.

Das indigene Leben spiegelt sich vielfach in den Straßen wieder. Besonders die Frauen tragen weite mehrlagige Röcke, verschiedenste Hüte, von denen manche der neuste Schick im 20sten Jahrhundert waren, feine Sandaletten und oft Schürzen oder gestrickte Pullover. Die langen Haare zu zwei Zöpfen gemacht und mit gestrickten Bommeln verlängert. Auf dem Markt gibt‘s die Haarverlängerungen zwischen den Wollsachen zu kaufen. Auf dem Rücken werden in bunten Decken, die vorne verknotet werden, allerlei Sachen transportiert. Der Einkauf, die Auslage für den Markt, das eigene Kind oder was auch immer zu transportieren ist.

Auf den Märkten sind vor allem die indigenen Frauen, die die Sachen verkaufen. Zum Teil entwickeln Käufer*innen und Verkäuferinnen eine enge Bindung, das heißt, menschen gehen immer zur selben – also zu ihrer – Verkäuferin. In Marktgesprächen weiß die Verkäuferin dann nicht nur was mensch kaufen möchte, sondern in etwa so viel wie die eigene Mutter, oder gar noch mehr. Mensch kann also auch mal sein Herz ausschütten, Bestätigung finden oder was sonst noch los ist. Es gehört wohl zum bolivianischen Leben dazu, seine Verkäuferin des Vertrauens zu finden, wo mensch jedes Mal die Sachen kaufen geht und einen Schnack hält.

Männer dagegen tragen weniger oder kaum traditionelle Kleidung. Der indigene Schick ist zwar in Bolivien deutlich zu sehen, ist aber auch beispielsweise in Peru anzutreffen und variiert deutlich von Region zu Region.

Minibusse bestimmen den Stadtverkehr (wie hier in El Alto)

Seilbahn

Zwischen den ganzen Märkten, die unglaublich lang und weitläufig sind, schlängeln sich die vielen kleinen Micros bzw. Kleinbusse. Neun-Sitzer mit einer Nummer und lauter Schildern in der Windschutzscheibe, wo es überall hingeht. Sie sind fast die einzigen Fahrzeuge in La Paz und El Alto. Die hellen kleinen Busse fahren auf festen Routen durch die Stadt und halten, wenn mensch sie ranwinkt oder wenn mensch grad aussteigen will. Haltestellen gibt es nicht beziehungsweise sind so gut wie überflüssig. Ein System was weit über La Paz hinaus seine Anwendung findet. In La Paz gibt es einige hundert Routen, sodass Nachfragen ob dort oder wo der Bus hinfährt, der Standard ist.

Ein weiteres öffentliches Verkehrsmittel sind die Seilbahnen, die zum Teil noch im Bau sind. Von Stationen aus geht es mit einem Schwung schnell in luftige Höhen. Eine gute Möglichkeit einen Blick über die Stadt zu bekommen, ist die rote Linie, die am alten Bahnhof von La Paz auf 3800m startet und dann am Rande von El Alto auf 4100m endet. Direkt schließt sich die blaue Linie in El Alto an, die dann tief nach El Alto hineinführt.

Besonders auf der blauen Linie wird Propaganda für einen Zugang Boliviens zur Pazifikküste betrieben. Schon im 19. Jahrhundert (Salpeterkrieg) verlor Bolivien den Zugang zum Pazifik, was wirtschaftlich ungünstig ist. Neben Paraguay ist Bolivien das einzige Land Südamerikas ohne Zugang zu einem Ozean. Die ehemals bolivianische Pazifikküste ist schon länger Teil von Chile, aber Bolivien und auch Evo Morales fordern weiterhin einen eigenen Zugang.

Evo Morales

Evo Morales ist aktueller und berühmtgewordener Präsident des Landes. Seit Amtsantritt trägt er bei allen öffentlichen Auftritten sein Chompa, eine Art indigener Pullover. Da dieser aus teurer Vicuña-Wolle gefertigt ist, ist er vergleichbar mit teuren Anzügen der westlichen Welt. Darüber trägt er dann eine Chamarra, eine Art traditionelle Lederjacke. Die Bilder, wo er anderen Staatspräsident*innen mit Pulli und Lederjacke die Hand gab, gingen um die Welt. Grund dafür, ist seine Betonung der indigenen Rechte und seiner indigenen Herkunft.

Morales stammt aus ärmsten Verhältnissen. Teils gab es nur Maissuppe zu essen. Er hat kaum die Schule besucht. Seine politische Karriere begann er im Sindicato, eine Art Dorfversammlung. Neben den offiziellen Strukturen, gibt es oft indigene Strukturen, die eine Selbstverwaltung und Selbstorganisierung darstellen. Insbesondere als durch den Druck der USA der Koka-Anbau bedrängt wurde, bekam der nun Anführer der Koka-Bäuer*innen-Bewegung gewordene Morales, Auftrieb. Seine Politik gilt als populistisch, anti-USA und anti-imperalistisch. Mittlerweile soll er bei den Indigenen und Koka-Bäuer*innen wieder an Rückhalt verlieren.

Als wir in La Paz an einer Führung teilnahmen, endete diese in einem Hinterzimmer eines Restaurants. Grund dafür ist, dass wir so leichter über Politik reden können. Das Land ist gespalten und stark politisiert. Für oder gegen Morales ist auch eine emotionale Frage. Öffentlich über Politik zu reden, kann dazu führen, dass schnell mal jemand wutentbrannt dazwischengeht. Zudem wird er teils als „Trump Boliviens“ bezeichnet. Seine Art sei es wohl, kaum nachzudenken und einfach Sachen öffentlich zu sagen. Einmal meinte er, dass Coca-Cola und Hühnchen schwul machen und ein paar Tage drauf wurde er dann mit Cola und Hühnchen photographiert. Danach musste er zurückrudern. Beispiele für diese unüberlegten Äußerungen gibt es viele. Auch ist er ein Befürworter der Kinderarbeit als kulturelle Eigenheit Boliviens. Kinderarbeit ist tatsächlich weit verbreitet in Bolivien, aber auch in anderen Anden-Staaten, weswegen es aber nicht gut sein muss. An vielen Verkaufsständen beispielsweise begegnen einen Kinder.

Gleichwohl hat er viel für Bildung, Sport und Gesundheit, insbesondere im ländlichen Bereich getan und die Rechte der Indigenen gestärkt. Auch was Diskriminierung als solches betrifft, gab es Fortschritte. Neben der offiziellen bolivianischen Flagge ist auch die indigenen Flagge offizielle Staatssymbolik und jede*r Soldat*in trägt diese auf der Uniform. Zudem auch die blaue Seekriegs-Flagge, die den Anspruch auf einem Zugang zum Pazifik unterstreicht.

Von der Macht wieder lassen, kann er allerdings nicht. Normalerweise können nur maximal zwei Amtszeiten für einen Präsidenten möglich sein, aber durch eine Verfassungsänderung wurde Bolivien von „Republik Bolivien“ in „Plurinationaler Staat Bolivien“ umbenannt, wodurch Morales argumentiert, dass ja ein neuer Staat entstanden sei und neu gezählt werden müsse. Noch macht er nicht den Anschein, dass er pünktlich aufhören wird. Auch bei den Seilbahnen in La Paz und El Alto hatte Morales mitgewirkt und verkauft das Projekt als sein Erfolg, sodass er omnipräsent von einigen Großflächenplakaten winkt.

Am zentralen Platz der Stadt steht auch das Kongressgebäude. Dessen Uhr läuft linksrum. Grund dafür ist, darauf aufmerksam zu machen, dass das Land auf der Südhalbkugel liegt. Uhren laufen rechtsrum, weil eine Sonnenuhr auch rechtsrum läuft. Allerdings nur auf der Nordhalbkugel. Auf der südlichen Hemisphere läuft sie linksrum, deswegen ist diese Uhr linksrum, also gespiegelt.

Flohmarkt

Unsere Zeit in La Paz haben wir genossen. Ein guter Grund nach El Alto mit der Seilbahn zu fahren ist der zwei Mal die Woche stattfindende Flohmarkt. Direkt an der oberen Endhaltestelle der roten Seilbahn. Hier gibt es alles. Diesmal übertreibe ich nicht. Soweit das Auge blicken kann, reihen sich Stände aneinander und es kann wirklich alles erstanden werden. Zu unglaublich günstigen Preisen sogar. Bezahle ich normalerweise ca. 1 Euro pro Gigabyte, wenn ich eine Mini-SD-Speicherkarte kaufen würde. Hier habe ich eine 128 GB Speicherkarte für 100 Bolivianos erstanden. Das sind 12 Euros. Wir sind glotzend durch die Reihen gewandert, für Stunden, ohne wirklich ein Ende zu finden. Ein großes Glas frisch gepresster Orangen-Saft zum sofort austrinken: 1,5 Bolivianos (18 Cent).

Damit endete auch unsere Zeit in La Paz und wir sind zurück zum Busbahnhof gekehrt. Über Nacht geht es weiter nach Süden!


Aug 28 2018

Bogotá im Zeichen des aufkommenden Friedens

von Karl

 

In keiner Stadt habe ich wohl so viel Zeit verbracht, wie in Bogotá, der Hauptstadt Kolumbiens. Mit ihren 7 Millionen Menschen eine der größeren. Als ich aus dem Bus ausstieg erwartete mich schon ihr kalt-nasses Wetter. Nicht, dass es tagsüber auch mal T-Shirt-warm werden kann, es kann auch regnen und Sonne scheinen im selben Moment.

Sicherheit und Geschichte des bewaffneten Konflikts bis heute in Kolumbien

gesamte Geschichte Kolumbiens

Bogotá ist eine Stadt die auch viel über aktuelle und vergangene Politik verrät. Kolumbien befindet sich an einem Wendepunkt zwischen bewaffneten Auseinandersetzungen und Frieden. Wie schon in anderen Städten Kolumbiens wird uns gedankt, dass wir als Touris gekommen sind, damit wir ein friedliches Bild Kolumbiens nach außen senden können.

Bis vor wenigen Jahren noch, war es sehr gefährlich, sodass selbst Einheimische kaum ihre Städte verlassen haben. Bus fahren war zu gefährlich und Fliegen ist in Kolumbien teuer. Aber selbst das Fliegen wurde teils durch paramilitärische oder Guerilla-Armeen unterbunden. Busse überfallen oder zumindest eine Passagen-Gebühr genommen. Paramilitärs galten als besonders brutal, d.h. sie töteten gleich die ganze Familie, wenn Menschen im Verdacht standen mit Guerillas zu kooperieren, während Guerillas Geiseln nahmen und Lösegeld forderten. Auch die Armee begang Menschenrechtsverbrechen. Bekannt sind z.B. die vielen „Falsos Positivos“. Im „Plan Colombia“ hat die US-Regierung mehrere Milliarden an Rüstungshilfe im Kampf gegen die Drogen bereit gestellt. Das Geld floss über Umwege zurück an US-Waffenhersteller. Umwege, weil laut UN-Vorgaben, Länder nicht anderen Geld geben dürfen, damit sie eigene Waffen kaufen. Es gibt aber private US-Sicherheitsdienste die dann zu Mittelsleute werden. Nicht nur der Kampf gegen Drogen stand im Interesse der USA, auch die Guerillas, die als links gelten, kamen ins Fadenkreuz. In dieser Zeit wurde das Geld auch eingesetzt um Kopfpauschalen für ermordete Guerilleros an Soldaten zu zahlen. Die Folge war dass Bäuer*innen und mit falschen Versprechen angeworbene in Guerilla-Uniformen gesteckt wurden, um sie dann zu töten und abzurechnen. Diese Zahl geht in die Tausende und werden „Falsche Positive“ also „Falsos Positivos“ genannt.

Die Paramilitärs entstanden als Reaktion auf die Guerillas und der Unfähigkeit des Staates diese zu bekämpfen. Großgrundbesitzer aus dem Norden Kolumbiens gründeten und finanzierten die paramilitärischen Kämpfer*innen. Paramilitärs gelten als rechts außen.

Guerillas

Ähnlich wie paramilitärische Verbände gibt es eine Vielzahl Guerilla-Armeen. Die berühmtesten sind wohl die FARC-EP, ELN und M-19. Die FARC begann als leninistisch-marxistische Gruppe in den 1960er Jahren in Folge der Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Konservativen in Kolumbien. Liberal meinte da noch links-progressive Ideen und nicht was heute unter neoliberal verstanden wird. Die Konservativen, vielleicht unter zur Hilfenahme der CIA, haben liberale Präsidentschaftskandidaten ermordet und so deren Machtübernahme verhindert. Als das in Straßenschlachten in Bogotá mündete, begann eine brutale und verdeckte Verfolgung der Liberalen. Zu Hause oder auf offener Straße wurden sie erschossen. Das radikalisierte Gruppen und mündete in Guerillas a la FARC. Mit der Zeit musste sich die FARC finanzieren, wodurch sie auch im Drogenhandel aktiv wurde. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion fiel auch diese Unterstützerin weg. 2016 schlossen FARC und Regierung mit Unterstützung von Norwegen und Kuba einen Friedensvertrag. Die FARC gibt die Waffen ab und firmiert als neue Partei. Sie hat nun für einige Jahre 10 feste Sitze im Parlament. Die Regierung ist verpflichtet die ländlichen Gegenden, in denen die FARC aktiv ist, zu unterstützen. In einer Volksabstimmung Ende 2016 stimmten allerdings 50,22% der Bevölkerung gegen das Friedensabkommen. Nur wenige Wochen vor der Abstimmung wurde der 300seitige Vertrag veröffentlicht. Viele befürchten, dass die Guerillas für ihre Menschenrechtsverbrechen nicht ausreichend bestraft werden.

Justizministerium, am Tag vor Duques Amtseinführung

Der erst am 7. August das Amt übernommene Präsident Ivan Duque steht auf der Seite der Kritiker. Dem rechten Politiker der konservativen Partei konnten Verbindungen zu Paramilitärs nachgewiesen werden, aber Morde an Zeugen verhindern Gerichtsverfahren. Mit ihm wird eine Rückkehr zur Gewalt befürchtet. Das kurz vor dem Abschluss stehende Friedensabkommen mit der ELN, der zweitgrößten Guerilla-Gruppe, wurde abgebrochen und wird von Duque nicht fortgeführt. Die stalinistische ELN operiert noch, u.a. im Nordosten. Als ich dort unterwegs war, sind mir die unzähligen Straßenkontrollen durch die Armee und Polizei aufgefallen. Teilweise im Zehn Minuten Takt sind wir in eine Kontrolle geraten. Es bleibt abzuwarten, wie die ELN, die sich auf Frieden eingesetellt hatte, darauf reagieren wird.

Am zentralen Platz der Stadt, dem Plaza Bolivar, wurde Duque vereidigt. In der Platzmitte steht Kolumbiens wichtigster Befreier von den spanischen Besatzer*innen: Simon Bolivar. Sein wichtigster Mitstreiter war Francisco de Paula Santander. Allerdings verstritten sich beide nach Erlangen der Unabhängigkeit. Bolivar war für eine Diktatur unter seiner Führung, während Santander Demokratie befürwortete. Am selben Platz steht das Justizministerium mit einem Zitat von Santander. Selbiges Gebäude ist Symbol einer M-19-Aktion. M-19 ist aus akademischen Kreisen in Bogotá entstanden und hat einen Bruch durchgemacht, als sie anfing mit den Drogen-Kartellen zusammenzuarbeiten. In den 1980er stürmten sie das Justizgebäude und nahmen zig Geiseln. Im Nachgang fehlten Beweisunterlagen für Prozesse gegen Drogen-Kartelle. Auch die Armee zeigte sich nicht kooperative und beschoss das Gebäude rücksichtslos teils mit Panzern, dass es im Nachgang komplett neu aufgebaut werden musste.

indigene Frauen protestieren während Duques Amtseinführung gegen dessen politischen Kurs

Mathilde, Laura und Isabelle

Meine ersten Tage waren dadurch geprägt die politische Auseinandersetzungen zu verfolgen, die durch die Amtseinführung Duques nochmal präsenter waren. Für zwei Nächte hatte ich allerdings das Glück bei Mathilde übernachten zu dürfen. Eine Couchsurferin die durch hartes Arbeiten sich bekannt machte. Die geborene Französin lebte schon einige Jahre in verschiedenen Ländern und macht nun ihren Abschluss in Bogotá. Mit BBC lernten wir am ersten Abend ein sehr leckeres und lokales Bier intensiv kennen.

Sie sprach mir aus dem Herz, was ich bei vielen Backpackern vermisse: Das Bewusstsein über die eigenen Privilegien. Viele kommen nach Kolumbien und freuen sich, welch tolles Land das ist. Das aber vieles darauf beruht, dass sie hier wegen der schwachen Währung finanziell gut ausgestattet sind, wird gern ausgeblendet. Für einige in Kolumbien ist selbst der Bus zu teuer, der umgerechnet ca. 0,70 Euro kostet. Durchschnittseinkommen liegt wohl bei 200 Euro im Monat. Da ist ein 150-Euro-Zimmer in Bogotá, wie es Mathilde bewohnt, nicht mal eben zu haben. Wer im Hostel im Touri-Viertel abhängt und Touren bucht, wird wohl kaum hinter den Vorhang schauen. Am nächsten Tag lerne ich noch ihre bolivianische Mitbewohnerin kennen, die auch sehr freundlich und hilfsbereit ist.

Dank Mathilde bekomme ich später Kontakt zu Isabelle. Isabelle ist kanadische Menschenrechtsanwältin, arbeitet aber schon seit einigen Monaten in Bogotá. Ab und zu fährt sie in ländliche Gegenden und trifft Frauen. Frauen die unter dem bewaffneten Konflikt litten und deren Stimme sie in den Friedensprozess einfließen lässt. Isabelle schreibt nach den Gesprächen Berichte, die Teile einer Sonderjustiz sind, die Rahmen des Friedensabkommens Verbrechen von FARC und Armee aufarbeiten. Erst seit einem guten Monat laufen die ersten Verhandlungen vor der JEP. Isabelle erzählte uns bei guten Kaffee voller Energie von ihren Erlebnissen. Sie strotzt voller Stolz und Energie, wenn sie von ihrer Arbeit erzählt. Ich dagegen schweige und staune. Eine starke Arbeit, die sie da leistet und das direkt im historischen Weg Kolumbiens. Sie erzählt von lokalen Initiativen die Erfolge für die Unabhängigkeit der Frauen feiern. Oft ist die ökonomische Abhängigkeit vom eigenen Mann, ist oft ein Problem um sich effektiv gegen häusliche Gewalt zu wehren. Aber auch die Folgen des Konflikts werfen ihre Schatten. Vergewaltigungen haben alle bewaffneten Gruppen eingesetzt um ihre Region zu kontrollieren. Zugeben mag es nur niemand. Dann lieber zugeben, dass sie einen Mann getötet haben. Sie erzählt von einer Frau, die von einem Paramiltär vergewaltigt worden war und später darüber sprach. Das war traumatisierend auch für die Tochter, weil die nun Begriff wer ihr Vater ist. Viele trauen sich nicht offen darüber zu sprechen und da kann Isabelle mit Anonymität und vertrauensvollen Gesprächen trotzdem helfen.

Über Isabelle kommen wir in Kontakt mit ihrer Kollegin: Laura. Sie arbeitet auch für „Humanas“ und kümmert sich mehr um den Friedensaufbau. Besonders in Kontakt mit Paramilitärs im Nordwesten. Wir diskutieren wie sie mit Menschen umgehen muss, die grausamste Taten begangen haben. Wie sie Paramilitärs und Guerillas für gemeinsames Fußball-Schauen gewinnen konnte. Eine, die selbst Opfer von Paramilitärs wurde, meinte mal zu ihr: „Wir sind keine Opfer und Täter. Wir sind überlebende des Konfliktes.“ Verzeihen zu können scheint ihr wichtig zu sein, aber natürlich müssen sie ihre Taten zugeben und bei Aufklärung helfen. Laura spricht von ihren Job nicht als Job. Es ist ihr Leben. Ich frage sie, wie sie das Problem lösen möchte, da Kokain immer noch stark nachgefragt wird. Besonders Nordamerika und Europa konsumieren, während Länder wie Kolumbien produzieren. Sie spricht von Legalisierung und welche Folgen der Koka-Anbau hat. Ja da hängt Blut dran und es wird mir klar, dass auch hier die neokoloniale Ausbeutung zu finden ist. Die Folgen des Konsums im globalen Norden, trägt der globale Süden.

Als positives Beispiel führt sie das Café an, indem wir uns verabredet hatten. „Cantera Café Work“ setzt ausschließlich auf Regionalität. Selbst die Kaffeemaschinen sind aus Kolumbien. Eingestellt werden ehemalige FARC-Kämpfer*innen. So wird ihnen ein Weg vom/von der Soldat*in hinüber ins zivile Leben ermöglicht. Da das Mittag und der Kaffee ausgezeichnet sind, möchte ich allen Bogotá-Reisenden diese Location unbedingt ans Herz legen.

Noch Stunden nach dem Treffen bin ich schwer beeindruckt von Laura und ihrer Arbeit. Rosa und ich unterhalten uns noch länger über sie und hoffen, dass ihre Arbeit fruchtbar sein wird.

Grün und Bunt

Eine Region die Guerillas und Regierung nicht beherrschen, sind die Smaragd-Abbaugebiete. Kolumbien ist der größte Smaragd-Produzent der Welt. In der Innenstadt Bogotás bietet jede*r Schmuckhändler*in Smaragde und Smaragd-Schmuck an. An einer unscheinbaren Stelle im Zentrum können auch illegal die Edelsteine erworben werden. Immer zwei bis drei Männer stehen zusammen. Bei einer hinteren Gruppe konnte ich beobachten wie einer mit einem speziellen Lupen-Gerät seine Serviette untersuchte. Ich vermute mal, dass in der halboffen gehaltenen Serviette das grüne Gold schlummerte.

Wer nicht nur auf grün steht, sollte einfach mit offenen Auge durch die Stadt gehen. Auch unter Brücken, an Straßenrändern und Hausfasaden sind zig große und besonders gute Graffiti zu bestaunen. Auch wenn die Stadtpolitik das eingrenzen will, so sind viele Wände besonders kunstvoll gestaltet. Allein aus dem Fenster der Buslinien 6 und 1 konnte ich einiges sehen. Vögel sind oft gesprüht worden, weil sie auf die besonders hohe Biodiversität Kolumbiens verweisen. Kolumbien hat Naturschutzgebiete, die größer sind als die Niederlande.

Besonders bunt ging es auch am Sonntag los, als der 480te Stadtgeburtstag nachgefeiert wurde. Sonntags ist generell Ciclovia in Bogotá, d.h. viele Hauptstraßen werden für den Motorverkehr gesperrt. Fahrräder, Spaziergänger*innen, Sportler*innen verschiedenster Art und alles was Rollen hat, erobert die Straßen. Die Stadtverwaltung bietet u.a. auch Reparaturservice an. Diese Ciclovia wurde um einen langen und bunten Umzug ergänzt. Kulturgruppen haben verschiedenste Themen in Szene gesetzt. Teils durch Choreographien, Tänze, Akrobatik oder/und kunstvolle Kostüme und Puppen. Gruppe um Gruppe zog an mir und vielen anderen Schaulustigen vorbei.

Wer einen schönen Ausblick in der Stadt sucht, dem sei Montserrate empfohlen. Ein Gipfel an der Ostseite ist über einen langen steilen Weg zu erreichen oder Zahnradbahn oder Seilbahn. Die Seilbahn ist Sonntags günstiger. Wenn das Wetter besser ist, soll ein traumhafter Sonnenuntergang zu sehen sein. Neben einen wunderschönen Rundblick sei darauf hingewiesen, dass das kühle Wetter und der Wind einen nicht vor Sonnenstich und Sonnenbrand schützen kann. Leider. Auch das Hochhaus der Colpatria-Bank bietet einen schicken Rundblick.

In den Straßen Bogotás, aber auch in vielen anderen Orten Kolumbiens, werden „Minutos“ also Minuten angeboten. Das sind quasi mobile private Telephonzellen. Menschen bieten da Telephonate, meist nach Venezuela, für günstige Preise an. Meist wird damit geworben, welche Funknetze abgedeckt werden.

Trennung und der Weg nach Süden

Nun geht auch die schönste Zeit irgendwann vorbei. Bogotá war besonders spannend und ich konnte viel lernen. Ich breche auf, lasse aber Rosa zurück. Beide erwarten wir Gäste, die uns auf der Reise begleiten werden, nur, dass ich dafür Anfang September in Lima und sie in knapp zwei Wochen in Ecuador sein muss. Ich hoffe unsere Wege führen danach wieder zusammen.

Um etwas Strecke zu machen bin ich mit dem Bus direkt bis an die ecuadorianische Grenze gefahren. 23 Stunden brauchte der Bus bis Ipiales und mit dem geteilten Taxi war ich noch rechtzeitig bei der Migrationsbehörde Kolumbiens. Nach ca. 2 Stunden hatte ich meinen Stempel. Anders geht es vielen Venezolaner*innen, die in einer eigenen Schlange anstehen müssen und wodurch gut hundert übernachten müssen auf der Straße bis am nächsten Morgen die Behörde ihre Schalter wieder öffnet. Alle anderen haben privilegierten Vorzug. Das Rote Kreuz ist nun am Start. Ecuador hat das eleganter gelöst. Gleich acht Schalter sind nun rund um die Uhr besetzt, sodass niemand warten muss. Dadurch bin ich schnell durch an der Grenze und hab auch gleich ein geteiltes Taxi zum Busbahnhof gefunden. Kaum angekommen fuhr schon 20 Minuten später der Bus ab. Gegen 3:15 stieg ich etwas gerädert an einem der Busbahnhofe in Quito aus …