Nov 21 2018

11 um 5, Tee statt Schnaps und das pünktlich

Von Karl

 

Es ist wieder mal ein Zug der mich antreibt in eine Stadt zu kommen. Auch in Chile gibt es kaum mehr Bahnverbindungen. Bis auf ein wenig Metro in Santiago und Valparaiso. Doch eine Verbindung fährt noch täglich zwei Mal: Santiago ←→ Chillán. Die halbe Strecke wird noch häufiger bedient durch eine Art Vorort-Zug. Deswegen weist der Fahrplan auch nie Santiago oder Hauptbahnhof Santiago aus, obwohl er tatsächlich so heißt (estacion central). Sondern Alameda nennt sich der Start- und Endpunkt, wie bei einer Straßenbahn.

Chillán

Äußerlich und Innerlich unterscheidet sich der graue Zug mit drei Waggons kaum von einer Regionalbahn in Deutschland. Gut, die Fahrscheine werden beim Einstieg kontrolliert und größeres Gepäck kann vorher abgegeben werden gegen eine Gebühr. Während der Zug die ersten Meter macht geht dann der Schaffner im schicken langen schwarzen Mantel durch und erklärt jede*n persönlich wo das Bordrestaurant und die Klos sind. Die Leute vom Bordrestaurant bringen die Sachen dann an den Platz.

Sobald Santiago lichter und grüner wird, erscheinen die weiten grünen Felder. Über ihnen schwebt noch der kühle Morgennebel, der nach einem Nickerchen aber auch verschwunden ist. Der erste Zug fährt um halb Neun ab und ist dann mit Verspätung gegen Mittag da.

Gedenktafel an die Opfer der Militärdiktatur in Chillán

Chillán lässt sich komplett erlaufen. Ich nutze den angefangenen Tag um mir ein Bild von der Stadt zu machen, die aber über keine Sonderlichkeiten verfügt. Bis auf die moderne Kirche. Ein grüner Park im Zentrum, ein paar Fußgänger*innen-Zonen. das war’s.

So vor mich hin schlendernd spricht mich eine alte Frau auf Englisch an und fragt mich ob ich ihr helfen kann mit ihrem Handy. Wir kommen ins Gespräch und laufen dann zurück zum Park. Eine Weile finde ich es spannend. Sie verkauft Sopaipillas und Empanadas aus ihrer Tasche heraus, in dem sie durch die Straßen geht und diese rufend anbietet. Sie schenkt mir sogar ein Sopaipilla, dass mir aber nicht besonders zusagt. Audi, so heißt die Frau, erzählt mir auch von ihrem Zuhause in einem Dorf bei Chillán und dass ihre Schwester heute kommt. Als sie mich wiederholt einlädt bei ihr zu wohnen, reift der Wunsch doch das Gespräch zu beenden. Ich lehne weitere Angebote ab und schau ihr beim Arbeiten zu, trau mich aber nicht in der Zeit abzusetzen. Ich weiß nicht mehr, ob sie was unangenehmes im Schilde führt, oder einfach nur super nett ist. Blöde Situation.

Tatsächlich wird es schwer, sich von ihr zu trennen. Irgendwann muss sie dann Zutaten kaufen gehen, für den Verkauf der Empanadas und Sopaipillas am nächsten Tag. Gut, nun endlich meine Chance abzuhauen.

Später geh ich dann zu meinem Couchsurfer. Heber erscheint pünktlich um 18:45 im Eingang des Hochhauses in dem er eine kleine Wohnung hat. Sogar ein kleines Zimmer für mich ist dabei. Heber ist Psychologe an der lokalen Uni und ich erfahre, dass sie den Rorschach-Test anwenden. Davon hab ich vorher noch nie was gehört, aber tatsächlich ist es eine interessante Methode. Als Kinder haben wir Tintenklekse in gefalteten Papier gemacht und dann die skurrilen Flecken phantasievoll interpretiert. Heber hört also Patient*innen zu, was diese in den Flecken sehen und leitet daraus irgendwelche Ergebnisse ab. Das ist tatsächlich kein Hokuspokus sondern Wissenschaft.

Heber nimmt mich mit zum Laufen, sodass ich dankbar seit längerem wieder zu Sport komme. Etwas dass ich vermisse und leider nur schwerlich umsetze während der Reise. Danach gehen wir immer einen Trinken und treffen einen Freund und seinen Bruder. In einer traditionellen und urigen Kneipe probiere ich nochmals Chicha und wieder trifft es nicht mein Geschmack. Chicha ist mir schon mehrfach auf der Reise begegnet und meint ein irgendeiner Weise vergorenes Getränk. Meist Mais. Es ist also eine Art Bier, doch sehr trüb und je nach Region aus verschiedenen Sachen hergestellt. Ein wenig erinnert es an die jugendlichen Experimente mit Früchten in Plastikflaschen.

Die Kneipe ist komplett aus Holz gebaut. Sogar die Hocker, auf denen wir sitzen sind nur Baumscheiben. In Chile ist es übrigens üblich 10% Trinkgeld zu geben und manchmal steht es schon auf der Rechnung. Nur wenn es Fast Food auf die Hand ist oder das Essen oder die Bedienung schlecht war, kann man das Trinkgeld reduzieren. Während wir so sitzen singt der Besitzer mit seiner Gitarre im Arm alte chilenische Schlager. Meist traurig, aber irgendwie auch kraftvoll. Meine Getränkegenossen singen immer wieder ergriffen mit.

Sie lehren mich auch in chilenischen Spanisch. Also Begriffe die vor allem ausschließlich in Chile verwandt werden. Pacos für die Carabineros hatte ich ja schon erwähnt. Die PDI wird auch Ratis genannt. Beides sollte man ihnen nicht direkt ins Gesicht sagen. Besonders verbreitet ist „Weyon“, was so viel wie Kumpel*ine oder Freund*in meint. Es wird in etwas so verwandt: „Hey Weyon, noch nen Bier?“ oder „Hey Weyon, lass mal eine Rauchen gehen“. Es ist lässig informelle Sprache. Dazu zählt auch „weviar“. Dies ist nur der Infinitiv und muss entsprechend gebeugt werden. Das Verb ist wohl das am schwierigsten zu lernende, weil es absolut Kontext-abhängig ist. Je nach dem wann oder wie ich das nutze kann es alles bedeuten. Es kann ein Kompliment oder eine Beleidigung sein. So kann die Aufforderung, ein Bier trinken zu gehen ungefähr so lauten: „Hey Weyon, lass mal weviar“ (¡Hola Weyon!, ¿vamos weviar?)

Am nächsten Tag waren wir in einer moderneren Kneipe, die dann auch modernere Live-Musik hatte. Doch dies und Holz-Nutzung scheint sich fortzusetzen.

Once

Unsere gemeinsamen Abende begannen aber immer zu Hause mit einem „Once“. Zu deutsch die Zahl „Elf“ und wird gegen fünf Uhr nachmittags begangen. Eine Tradition in Chile und entspricht in etwa dem britischen Nachmittags-Tee. Dazu gibt es – zumindest bei Heber – nix süßes sondern eher Brot mit Käse und Tomate. Der Name leitet sich von Zeiten ab, als es verboten war „Aguardiente“, also Schnaps, zu trinken. Aguardiente hat elf Buchstaben, deswegen hat man sich auf „Elf“ getroffen und vorgegeben Tee oder Kaffee zu trinken.

Was die Zeit betrifft bildet Heber (mal wieder) eine großartige Ausnahme. Er ist immer pünktlich. Ich komm leider nicht sehr gut klar damit, dass eine oder mehr Stunden später als vereinbart völlig normal sind, für viele denen ich bislang begegnet bin. Umso entspannter, mal nicht warten zu müssen.

Wieder gegen fünf Uhr, aber frühs, verlasse ich Heber und mit dem Sonnenaufgang Chillán. Das Laufen hat seine Spuren hinterlassen und der Rucksack drückt doppelt (-;

PS.: … und da liegt Chillán …