Mrz 12 2019

Santa Cruz #2

Der Markt (Mercado Florida)

Vielleicht hätten wir das mit dem Frühstück vorher machen sollen. Also vor der Blutspende und dann wäre sie wohl nicht umgekippt. Ein für Bolivien typischer kleiner Markt ist zum Glück auch nicht weit entfernt. Von der Reparatur über Mahlzeiten bis Obst wird alles angeboten. Das Highlight ist aber die Frühstücksecke. Je nach Wunsch wird ein bergähnlicher Fruchtsalat in einer Schüssel mit Joghurt, Müsli, Honig und Chia-Samen serviert. Für mich wird der Markt zum Muss und die eine Mitarbeiterin kennt mich dann schon und serviert „wie immer“.

Nicht nur hier zeigt sich, dass Santa Cruz einen gesunden und vegetarischen Lebensstil ermöglicht. Eine Kette, genannt „Sii-pi“, bietet an vielen Ecken Menüs an. Aber auch darüber hinaus gibt es vegetarische oder gar vegane Menüs, Vollkorn-Empanadas und Fruchtsäfte. Ein weiteres Muss wird ein frischer Orangensaft. Händlerinnen parken ihre kleinen grünen Wagen an den Straßenecken und bieten halbe Liter-Becher an, die sie dann frisch pressen, wenn bestellt wird. Natürlich gibt es Japa. In vielen Ländern ist es üblich, dass bei Straßengetränken ein kleiner Nachschlag kostenlos hinzugeben wird. Das heißt konkret: Wenn ich dabei bin den Becher zu leeren, halte ich den nochmal hin und bekomme einen weiteren großen Schluck eingeschenkt.

Die Bekannte Azuls, die Fruchtsalate verkauft, war zu Beginn meines Aufenthalts hochschwanger. Später dann bemerken wir, dass sie es nicht mehr ist und fragen nach. Tatsächlich hat sie bis zu den Tag der Geburt Leute für Fruchtsalate angeworben und ist dann am übernächsten Tag wieder zur Arbeit gekommen. Das Kind liegt im Kinderwagen hinter der Theke und wird während der Arbeit gestillt. Ich bin überrascht von der Realität. Ein Leben ohne Wohlfahrtsstaat.

An einem anderen Tag werde ich mit den Grampas vertraut. Das bezeichnet die Autokrallen mit denen die Polizei parkende Fahrzeuge festsetzt. Während wir frühstücken beginnen Marktleute „Grampa“ zu rufen und einige wenige springen auf. Sie wollen ihre Fahrzeuge noch schnell in Sicherheit bringen. Die Verkäufer*innen stellen sich dabei bewusst auf die Seite der Kund*innen. Geben diesen Hinweis weiter und beginnen Diskussionen mit den Polizist*innen um sie davon abzuhalten. Azul kommentiert das Geschehen mit „die Polizei hat Hunger“. Wenn sie anfangen Strafen in größeren Umfang zu kassieren oder gar zu erfinden, dann wohl auch weil sie selbst Geld brauchen. Es wäre wohl ein typischer Kommentar in der Bevölkerung. In Santa Cruz‘ Zentrum gilt Parkverbot auf der linken Seite und die meisten Straßen sind Einbahnstraßen. In diesen Tagen, kurz vor Weihnachten wurden aber auch rechtsseitig Autos mit Krallen versehen. Oft erreichen die Autobesitzer*innen den oder die Polizist*in und bitten das Problem vor Ort zu lösen. Der Polizist oder die Polizistin weißt dann meist auf das Strafmaß hin und das lange Procedere um die Kralle wieder zu entfernen. Wenn aber ungefähr der halbe Preis an den oder die Polizist*in direkt in Bar bezahlt wird, dann wird die Kralle auch wieder entfernt. Das Geld braucht der oder die Polizist*in um sein*ihr schlechtes Gehalt aufzubessern.

Die Tage in Santa Cruz vergehen für mich sehr schnell. Azul zeigt mir viele Seiten ihres Leben und ich sauge viele Erfahrungen wissbegierig in mich auf. Sie studiert Sprachen in den letzten Zügen und Englisch zu Lehren ist Teil der Ausbildung. Sie nimmt mich mit zu einer Unterrichtsstunde in der Universität. Das Wissenslevel der handvoll Schüler*innen ist sehr unterschiedlich und deshalb auch schwierig zu unterrichten.

Später fahren wir zum dritten Anillo, weil es dort einen sehr großen Straßenmarkt gibt, der nur gebrauchte Sachen verkauft und deswegen ziemlich günstig ist. Viele Händler*innen haben Verkaufsstände gebastelt und haben ein bestimmtes Sortiment erwählt, wie z.B. Schuhe. Oft sind die Auslagen Wühltische und die Händler*innen antworten automatengleich den Preis der Ware. Zum Beispiel „1 für 5″ oder „3 für 12“. Fast immer gibt es Mengenrabatt. Mindestens einmal sollte auch der Preis verhandelt werden, denn der oder die Händler*in geht dann nochmal 10 oder 20 % runter.

Die Musikerin

Azul erzählt mir von ihrer Arbeit. Sie ist Musikerin und spielt in einer Gruppe namens „Penumbra“, was wohl so viel wie „Dämmerung“ heißt. Hier könnt ihr’s euch anhören. Sie spielen traditionelle bolivianische Party-Musik und treten in verschiedenen Feiern auf, vor allem im Departamento ( Bundesland) Santa Cruz. Wir fahren gemeinsam zu einer offiziellen Feier die anlässlich des „Tages der Musiker*innen“ abgehalten wird. Irgendwo hinter dem 8ten Anillo, wo es schon ziemlich ländlich aussieht.

Diese Feiern finden mehr oder weniger im Freien statt beziehungsweise in sehr großen Hallen. Große runde Tische werden aufgestellt und mit lauter Plastikstühlen drumherum. Alles wird mit Tüchern fein dekoriert. Es gibt Bier und Essen für umsonst. Wer als Gruppe oder Familie zusammengehört nimmt sich einen Tisch. Bier wird immer geteilt und aus Bechern getrunken. Wie die Becher so auch das Essen wird mit Wegwerf-Plastik organisiert. Aufwaschen wird vermieden. Es gibt ein Gericht, meistens Reis mit Fleisch und Salat. Manchmal noch scharfe Soße, dem Aji.

Die Musik ist für mich immer noch ungewohnt und nur peripher mit der berühmten lateinamerikanischen Pop-Musik zu vergleichen. Zu Beginn klang irgendwie alles gleich. Neben Azuls Keyboards, sie spielt drei auf einmal, gibt es Gitarre, Bass, Schlagzeug und Gesang. Fast alle Positionen sind von ihren Brüdern besetzt. Der Vater singt. Ein Bekannter ist Einheizer und versucht die Leute zum Feiern zu motivieren. Drei Jugendliche sind als Show-Tänzer angestellt und tanzen vor der Gruppe. Penumbra steht dabei auf einer Bühne umrahmt von riesigen Lautsprechern. Für mich ist das zu laut eingestellt und die Boxen übersteuern bei fast jeden Schlag. Die Tische vibrieren und Unterhaltung ist nur schwerlich möglich. Zudem kann ich spanisch noch schlechter verstehen, wenn die Umgebung sehr laut ist.

Getanzt wird meist paarweise, aber nicht zwingend mit Berührung. Ganz anders als die oft zum Kuscheln genutzten Tänze Brasiliens oder Kolumbiens. Gleichzeitig kann auch weiter getrunken werden und je betrunkener die Menschen im Laufe des Abends werden, desto öfter muss ich mit jemanden anstoßen. Dabei merke ich, dass ich doch eigentlich schon genug getrunken habe, stoße aber weiter an um nicht unfreundlich zu wirken. Ich bin wohl auch der einzige weiße beziehungsweise Ausländer hier und falle entsprechend auf. Irgendwie werde ich wohl aus Freundlichkeit ziemlich betrunken. Betrunken wie schon lange nicht mehr.

Tage drauf fahren wir erneut aus dem Zentrum, nun bewährt mit vielen Geschenken, die die Walt-Disney– und Plastik-verarbeitende Industrie Made in China günstig anbietet. Die Tochter von Azuls Bruder feiert den Abschluss des ersten Schuljahres. Was allerdings eher noch Kindergarten war. Der Abschluss des ersten Jahres und dann wieder des letzten Schuljahres wird ausgiebig gefeiert. Auch heißen die Klassen des ersten Jahres „Kinder“. Tatsächlich so wie es hier geschrieben steht und nicht ins spanische übersetzt. So kommt es mir doch ein wenig merkwürdig vor, dass ständig dieses eine, für mich deutsche, Wort ständig aufkommt.

Bolivien kennt ein lineares Schulsystem, dass sich in mehrere Abschnitte aufteilt. Entscheidend in den einzelnen Jahren sind die Prüfungen am Ende. Wie in den meisten Ländern der Südhalbkugel ist die wichtigste Ferienzeit in den Monaten um den Jahreswechsel, weil dann Sommer ist. Das macht sich auch in den Buspreisen bemerkbar, da nun mehr Leute Reisen unternehmen können.

Die Feierlichkeiten für die „Gradation“ der kleinen Neffin sind auf den Sportplatz, der wie bei den meisten Schulen hier, direkt hinter den Gebäuden sind, oder gar von den Gebäuden umringt wird. Reihen von Plastikstühlen wurden aufgestellt und jede Familie hat drei Plätze. Deshalb stehen viele. Ein Gang zur Bühne bleibt frei und enthält einen Bogen, der irgendwie an eine Hochzeit erinnert. Die kleinen werden samt Eltern aufgerufen und durchschreiten feierlich unter Applaus und Photoapparaten den Bogen.

Die Kinder sammeln sich nach und nach auf der Bühne. Vorab wurden noch verschiedene Hymnen gesungen, wobei alle aufstanden. Die Boliviens und die vom Departamento Santa Cruz waren dabei. Anschließend ging es auf der Ladefläche zum Haus der Eltern der Graduierten und wir aßen und tranken noch ausgiebig.


Mrz 11 2019

Herzlich Willkommen bei Azul (Santa Cruz #1)

Von Karl, Natal, 10. Februar 2019

Santa Cruz de la Sierra

Der folgende Beitrag ist ziemlich ziemlich lang geworden. Deshalb habe ich mich entschieden ihn zu teilen und täglich zwei Kapitel zu posten. Es sind insgesamt 10 Kapitel.

Santa Cruz #1

Herzlich Willkommen …

… in Santa Cruz de la Sierra, der offiziell größten Stadt Boliviens. Gut, das zusammengewachsene Gebiet von La Paz und El Alto ist wohl etwas größer. Santa Cruz ist jedoch wirtschaftlich bedeutend und vergleichsweise wohlhabend. Sie liegt im bolivianischen Osten und nicht mehr in den Anden. Umgeben von Ackerland und klimatisch auf dem Übergang zwischen Regenwald und Chaco, einer Art Savanne. Santa Cruz beherbergt den wichtigsten internationalen Flughafen Boliviens und die zweitgrößten Erdgasvorkommen Südamerikas. Fast 1,5 Millionen Menschen beherbergt die Großstadt die sich von Innen nach Außen ringförmig ausbreitet. Die großen Ringstraßen heißen Anillos und sind neben den Ausfallstraßen die Herzschlagadern der Stadt. Sie dienen den Cruzeños, den Einheimischen Santa Cruzes, auch zur Orientierung. Hinter dem vierten Ring franst die Stadt langsam aus und die enge Bebauung und Asphaltierung nimmt ab. Insgesamt gibt es wohl aber – je nachdem wen mensch fragt – sieben bis über zehn Anillos..

Das Herz der Stadt bildet der Plaza 24 de Septiembre. Ein schöner übergrünter Platz der besonders nach Sonnenuntergang zum verweilen einlädt. An dessen Rand stehen mehr oder weniger wichtige Gebäude. Vom Kirchturm aus hat mensch einen lohnenden Ausblick.

Einen halben Block entfernt und ziemlich versteckt gibt es einen Souvenir-Händler-Hinterhof zwischen wunderbaren Bäumen.

Hinter der Kirche befindet sich ein weiterer Platz den einige Jugendliche nutzen um gemeinsam zu Rappen. In Gruppen stehen sie beisammen und geben zum besten, was sie können. Eine engagierte Frau, die das organisiert hat, springt zudem zwischen Ihnen herum.

Das Rückrat der Stadt bilden die vielen tausend Micros. Im Prinzip Klein-Busse mit Platz für ein Dutzend Menschen. Auf festen Linien flitzen sie durch die Straßen. Dabei ist sowohl Richtung, als auch Nummer und Farbe der Nummer oder des Schildes entscheidend. Bezahlt wird beim Einsteigen an die Fahrerin oder den Fahrer. 2 Bolivianos kostet einmal einsteigen, das sind circa 50 Eurocent. Wer weiter entferntere Ziele ansteuert muss die Abfahrtsorte der Trufis aufsuchen. Es sind im Prinzip die selben Fahrzeuge, aber deutlich höheren Distanzen. Colectivos dagegen meinen dann schon Reisebusse die Großstädte verbinden und auch über Grenzen hinweg fahren.

Azul

Mit einem eben dieser Colectivos bin ich noch sehr früh am morgen in Santa Cruz angekommen. Am relativ neuen Bus- und Zugbahnhof fahren viele Micros vorbei, sodass ich ruckzuck im Zentrum bin. Drei Blocks vom Plaza 24 de Septiembre entfernt logge ich mich wie abgemacht ins Wifi ein und setze eine Nachricht ab. 10 Minuten später werde ich begrüßt und kann eintreten. Azul heißt meine neue Gastgeberin. Sie ist relativ klein, hat schwarze Haare, die sie teils lila gefärbt hat. Das lächelnde Gesicht ist voller Neugier und Ungeduld. Sie bewohnt ein bescheidenes Zimmer ohne Küche und kleinem Bad. Sie ist ein tolles Beispiel, dass es nicht viel braucht um ein*e Gastgeber*in zu sein.

Wir kommen schnell ins Gespräch und sie erzählt mir, dass sie sogleich zur Blutspende gehen mag. Sofort möchte ich auch spenden und wir wagen den Versuch. Ein flaches Gebäude, ähnlich eines kleinen Krankenhauses, empfängt uns nebst vielen weiteren Spender*innen. Ich werde registriert und auch zugelassen. Anders als von Deutschland gewohnt spende ich nicht für irgendwen, sondern für eine bestimmte Person. Eine entfernte Bekannte in Oruro braucht wegen Krebs eine bestimmte Anzahl Spenden und deren Familie versucht nun viele Menschen zum Spenden zu motivieren. Ich werde befragt, gewogen, vermessen und Blutproben genommen. Auf einer Glasplatte wird mein Blut in Augenschein genommen und im letzten Schritt geht es dann zum Spenden. Für Azul ist es das erste Mal und tatsächlich wird ihr ziemlich schwindlig, aber wir überleben heil. Ein gutes Gefühl macht sich breit.

Endlich erhalte ich auch Gelegenheit jemanden nach der „21F-Bewegung“ beziehungsweise „Bolivia dijo no“ (zu deutsch: Bolivien sagte Nein; wahlweise auch mit Namen der jeweiligen Stadt) zu befragen. Auf dem Plaza 24 de Septiembre haben sich auch einige Hungerstreikende versammelt. Bald sind Wahlen in Bolivien und Santa Cruz ist traditionell im Widerspruch zu La Paz. Es wird das Ende der Demokratie beschworen. Tatsächlich versucht Evo Morales erneut Präsident zu werden und er spaltet das Land. Er kann leider nicht von der Macht lassen. Die armen Menschen unterstützen ihn aber, weil er in der Vergangenheit viel für sie geleistet hat. Keine einfache Situation. Deshalb ist die 21F-Kampagne auch eher eine der Wohlhabenderen. Ihre Verankerung in der Gesellschaft ist relativ gering, doch sie sind auf vielen Plätzen der größeren Städte lautstark vertreten. Leider ist das Kaufen von Protestierenden wohl nicht unüblich, meinte Azul. Es gibt viele arme Menschen, die für etwas Geld in den Straßen für Aufruhr sorgen. Ob überzeugte oder bezahlte auch für die Zerstörung der Glasfront einer Bank im Zentrum zuständig waren, ist mir nicht bekannt.

Proteste sind nicht selten und so verwundert es nicht, dass wir Tage drauf einem vergleichsweise großen Protestmarsch von Krankenhaus-Mitarbeitenden sehen. Sie machen einen relativ entschlossenen Eindruck und zum Repertoire gehört auch Pyrotechnik. Scheint eher normal als besonders zu sein. Polizei die sich darum kümmert, habe ich keine gesehen.