Apr 1 2019

Die Größte

Von Karl

São Paulo, Brasilien

 

Willkommen

Heute darf ich euch Samuel alias Samant und Isabel vorstellen. Isabel hat noch Familie in Nicaragua, aber da grad der olle Diktator nicht gehen will und das Land terrorisiert, zog sie es vor in den USA bzw. jetzt in Brasilien zu wohnen. Sie unterrichtet Englisch und lernt portugiesisch, was ihr leichter fällt, da sie ja Spanisch als Muttersprache hat. Anders als Samant, der Englisch als Muttersprache hat und aus Ghana nach Brasilien kam, nachdem er auf einer halben Weltreise Isabel kennenlernte. Ein ziemlich interessantes Pärchen, mit dem wir dann auch mal zum Bäcker gegangen sind.

Jups, ihr lest richtig, zum Bäcker. Die Kuriosität daran ist, dass es ein Plastikkarten-System gibt. Die Karten sind allerdings deutlich größer als gewöhnlich und kommen aus einer Vorrichtung die dann das Drehkreuz freigibt wenn mensch sich eine gezogen hat. Neben der klassischen Möglichkeit Brote und Süßwaren zu kaufen oder zu schlemmen, gibt es auch eine Art Restaurant oder Bar oder Kiosk. Irgendwie ist ein wenig von allem dabei. Manche sitzen beim Feierabend-Bierchen zusammen und anderen haben ein Menü bestellt. Andere ziehen mit einer Tüte Pão de Queijo ab.

Pão de Queijo heißt so viel wie „Käsebrot“ und meint Kugeln oder Kügelchen, die im Prinzip wie Käse schmecken. Der Käse ist dem Maniok-Mehl dazu gegeben worden, bevor es gebacken wurde. Es ist super lecker insbesondere, wenn es frisch zubereitet wurde. In Porto Alegre gab es sogar welche mit flüssigem Käse in der Mitte. Om-nom-nom.

Samant erzählt uns noch von seinem musikalischen Projekt und wenn ihr mal reinhören wollt schaut nach „Samant ID“. Isabel und Samant sind unsere Gastgeber*innen in São Paulo der größten Metropole Latein– und Südamerikas, sowie der zweitgrößten auf der Südhalbkugel; nur Jakarta ist größer. 21 Millionen sollen in der Metropole wohnen, also eine schier endlose Stadt. Entsprechend viele Seiten beherbergt sie und hat einen entsprechend enormen Stellenwert in Brasilien.

Ihren Aufstieg fußt auf der Industrie. Auch deutsche Konzerne lassen Unmengen in der Stadt produzieren und ist wohl eine der größten deutschen Industriestandorte. Sie ist die Stadt in der gearbeitet wird, so heißt es. 60 Prozent des brasilianischen Stromverbrauchs entfällt auf São Paulo. Ein Drittel des brasilianischen Exports kommt aus São Paulo. Dazu gehört die nahe Hafenstadt Santos, die den größten Hafen Lateinamerikas betreibt. São Paulo ist auch der Schoß der berühmten Arbeiterpartei PT, die den ehemaligen Präsidenten Lula da Silva stellte. Selbst international ist der Prozess um Lula berühmt geworden. Noch im Amt wurde nach Ermittlungen unter anderem ihm der Prozess wegen Korruption gemacht und er wanderte ins Gefängnis. Es steht allerdings zu vermuten, dass es politisch motiviert war, denn neben all den Mittäter*innen ist nur er eingewandert. Das hat schlussendlich auch den Rechtsaußen-Populisten Bolsonaro geholfen 2018 an die Macht zu kommen. Lula verfolgte eine sozialistische Politik, die Armut und Hunger verringern konnte. Dass Politik sehr korrupt ist in Brasilien, das, so höre ich mehrfach, scheint eher normal zu sein, nichtsdestotrotz etwas was viele ärgert.

Fast zwangsläufig hat eine solch große Stadt ein Problem mit der Luftverschmutzung. Aber auch die Bodenversiegelung schlägt hier zu. Bei den tropischen Regenfällen die manchmal in die Metropole gelangen kommt es schnell zu lokalen Hochwassern und Verkehrschaos.

Das Rückgrat des öffentlichen Personenverkehrs bildet die Metro mit knapp zwei Dutzend Linien. Eine Fahrt vom Zentrum an den Rand kann entsprechend lange dauern. Arbeiter*innen brauchen im Schnitt zweieinhalb Stunden pro Fahrtstrecke in São Paulo. Die Metro ist auf einigen Strecken sehr modern und gilt als drittleistungsfähigste der Welt. Im Abstand von 100 Sekunden fahren Züge ab.

Unterschrift und Stempel

Wie schon auf der Überfahrt nach Südamerika, so auch auf der Rückfahrt beabsichtige mit dem Containerschiff zu fahren und dies bedarf leider ein paar Dokumenten. Das allerletzte dass ich nun besorgen muss, ist ein medizinisches Zertifikat, welches beweist, dass ich gesund genug bin auf einem Schiff mitzufahren. Gesagt, getan, ich beginne also die Suche nach entsprechenden Adressen. Die us-amerikanische Botschaft bietet beispielsweise ein Liste an Krankenhäusern, die vermutlich auch englisch sprechen. Was schon mal gut ist, weil mein Dokument in englisch gehalten ist.

Samant berichtet mir aber auch von seinem Arzt und dieser würde auch englisch sprechen. Samant selbst tut sich noch schwer mit portugiesisch. Portugiesisch ist tatsächlich ziemlich herausfordernd, wenn mensch jetzt nicht grad Profi in Spanisch ist. So ist es schwierig zu erlernen, das „ã“ richtig auszusprechen. Manchmal klingt das „t“ wie ein „sch“, das „r“ wie ein „h“ und das „l“ wie ein „u“. Sie schreibt sich Brasilien in portugiesisch „Brasil“, aber wird in etwa wie „Brasiu“ ausgesprochen.

Auf dem Weg zu seiner Anschrift, kommen wir an einem Ärztinnen- und Ärztehaus vorbei. Sie haben leider nur Spezialist*innen, finden aber eine Krankenpflegerin, die auch spanisch spricht und uns eine Brief auf portugiesisch verfasst. Gegenüber, 100 Meter bergan, gibt es aber einen Gesundheitsposten, wo wir hingeschickt werden und den Brief abgeben. Der kleine Anmeldebereich ist voll mit Menschen. Vielleicht fünfzig warten und es ist das bunte Potpourri an Problemchen.

Ich werde im System aufgenommen und mit einer grünen Karte ausgestattet.

Anders als im Spanischen kommt der mütterliche Nachname an erste Stelle und es werden auch die mütterlichen Nachnamen an die Kinder weitergegeben. Weil ich das nicht gerafft habe, blieb das Feld „Name der Mutter“ frei. Hinzu kommt, dass „Nachname“ auf Spanisch „Spitzname“ auf Portugiesisch heißt und umgekehrt. Nachdem wir aber all dies überwunden hatten, begannen wir damit zu warten. Entgegen meiner Annahme nun zig Stunden warten zu müssen, weil wir offensichtlich bei einem offiziellen Gesundheitsposten des Gesundheitsministeriums sind, werde ich schon nach einer halben Stunde in ein kleines Zimmer geführt und ein paar wenige Tests gemacht. Blutdruck und Herzfrequenz und was sonst noch schnell geht.

Vorab waren wir bei einer privaten Praxis die einen Betrag verlangte, dass wir lieber weitersuchten. Ich kann nun im nächsten Stockwerk warten und auch hier sitzen schon einige. Aber es geht Schlag auf Schlag. Mindestens sechs Sprechzimmer sind auf dem Gang, vielleicht auch zehn. Keine zwanzig Minuten später sitze ich vor einem Arzt am Besprechungstisch und der packt sein fließendes us-amerikanisches Englisch aus. Er geht kurz den Bogen mit mir durch, wir unterhalten uns kurz, dann haut er Stempel und Unterschrift drauf und ich kann das Zimmer wieder verlassen. Bevor ich aber die Klinke in die Hand nehme, frage ich noch, wo und wie ich denn die Leistung bezahlen muss. Nicht ohne Stolz bemerkt er, dass die Gesundheitsversorgung in Brasilien kostenlos ist. Ich sag ihm, dass ich das gut finde, und hebe nun meine grüne brasilianische Gesundheitskarte auf.

Tokio und London

São Paulo ist über die Jahrzehnte auch Ziel von Zuwanderung aus der ganzen Welt gewesen und wohl auch deswegen gilt es als größte japanische Stadt außerhalb von Japan. Ein entsprechender Stadtteil zeugt von dem japanischen Einfluss. Ampeln sind mit entsprechenden Schrift-Zeichen versehen, Straßenzüge haben speziell geformte Laternen und Läden sind in japanischem Stil gestaltet. Unsere Entdeckungstour endet aber, als ein unglaublicher Wasserfall über der Stadt sich ergießt, kombiniert mit Windböen, die die Fallrichtung um 90 Grad von vertikal auf horizontal ändern. Wir müssen also in einem asiatischen Restaurant zuschlagen. Hilft alles nichts.

Am nächsten Tag wollen wir einen Ausblick über die Stadt wagen und kommen in das Geschäftsviertel der Stadt. Breite Fußgänger*innen-Zonen, Geschäftsleute, Kanzleien, Hochhäuser, … ja einiges erinnert ziemlich an London.

Das Hochhaus mit der besuchbaren Ausblicksebene breitet den Teppich aus wie ein Fünf-Sterne-Hotel und verlangt gutes Geld für ein wenig Aufzug. Naja, der Ausblick ist gut, aber nicht der höchste. Eine Ansammlung an Hochhäusern durchzogen von großen Straßennetzen und das soweit das Auge reicht. Auch an anderer Stelle finden wir eine breite Straße vor, die sich schnurstracks bis ins unendlich verliert, die zwar Fahrradspuren und moderne Busse hat, anders als in unserer Gegend, aber die Angebote rundherum sind nicht für unseren Geldbeutel gemacht.

Dann doch lieber unsere Gegend, die mir einfach und bodenständig erscheint. Im Selbstbedienungs-Restaurant um die Ecke gibt es lecker Feijoada. Das ist eine Art Bohneneintopf. Meist wohl mit dunkelroten Bohnen, aber es gibt auch einen mit schwarzen Bohnen. Vielleicht heißt einer von beiden nicht Feijoada, aber egal, von mir gibt es eine absolute Essempfehlung. Aufgepasst, manchmal ist es mit Fleisch angereichert. Auch frisch gepresster Orangensaft kommt auf unseren täglichen Speiseplan, hier „Suco de Laranja“ genannt.

Wer erneut einen Abstecher in die Bäckerei wagt, sollte auch mal Brigadeiros probieren. Aufgepasst, Diabetes-Gefahr. Brigadeiros sind Kugeln aus Kakao-Masse mit Schokostreuseln und gehören zur Familie der Trüffelpralinen. Gibt es an vielen Ecken.

Nach einer herzlichen Verabschiedung von Samant und Isabel klappern wir nochmal all unsere Lieblingsplätze ab, bevor es mit der Metro wieder zurück zum größten Busbahnhof Lateinamerikas geht.


Mrz 30 2019

Fröhlicher Hafen

Von Karl

Porte Alegre, Rio Grande do Sul, Brasilien

 

Da uns die Zeit langsam davon rennt, beschließen wir einen größeren Sprung zu machen und buchen ein Ticket nach Brasilien. Das erstaunliche ist dabei, dass es der wohl komfortabelste Grenzübertritt meiner ganzen Reise ist. Während ich friedlich im Sitz döse, organisiert die Busfirma, die meinen Reisepass hat, die Einreise nach Brasilien. Hinzu kommt, dass ich auch zum ersten und einzigen Mal ein vegetarisches Menü tatsächlich bekommen habe. In seltenen Fällen war es auch auf anderen Strecken während des Ticketkaufs wählbar, aber später im Bus dann nicht mehr.

Entsprechend entspannt kullern wir dann in Porto Alegre aus den Bus. Porto Alegre ist die Hauptstadt des südlichsten aller Bundesstaaten Brasiliens, Rio Grande do Sul. Nun sprechen nicht nur die Touris um uns herum portugiesisch, sondern auch alle anderen. Unser Gastgeber allerdings spricht auch fließend englisch und spanisch. Ich halte ihn auch für sehr intelligent. André ist stolzer Vater und IT-Techniker eines großen Konzerns und leitet de Bereich Lateinamerika. Von zu Hause aus. In seinem großen Haus ist entsprechend Platz und wir nehmen das letzte Stockwerk in Beschlag. Dieses besteht nur aus einem großem Zimmer mit je einer Terrasse links wie rechts. Auf der einen Seite hängt sogar eine Hängematte. Auf dem gefliesten Boden liegen ein paar Matratzen, ein Teppich, ein Tischchen, Hocker und was wir so brauchen um hier zu pennen.

Wir beginnen ein längeres Gespräch mit dem immer grinsenden André. Er ist auch Vegetarier und wir beginnen eine leckere Mahlzeit zu zaubern. André zeigt mir ein Gesellen-Zeugnis von 1902, das von irgendeinem Vorfahren stammt. Ich entziffere ihm die altdeutsche Schrift und er ist ziemlich erstaunt, dass er einem Metzger abstammt.

Nach einer kurzen Siesta steigen wir wieder in sein kleines Auto und fahren zum Markt. Am ersten Stand bleiben wir aber erstmal hängen. Eine erste brasilianische Spezialität begegnet uns. Ich würde es schlicht als Riesen-Empanda bezeichnen. Von der Größe eines Buches und gefüllt mit Palmherz, Käse oder einer Gemüse-Mischung namens Pizza. Dazu kann noch literweise frischer Orangensaft getrunken oder mitgenommen werden. Ein Angebot, dass wir nicht ausschlagen können.

Spannend auf dem Markt ist auch die Möglichkeit mit der Kreditkarte einkaufen zu können. Die Händler*innen akzeptieren Wert-Cupons, die wie Geldscheine funktionieren. Die gibt‘s an dem Stand mit dem Kartenleser.

André zeigt uns noch einen ziemlich großen Park im Zentrum der Stadt und den hübschen Ausblick auf den sehr sehr großen Enten-See (Lagoa dos Patos).

Porto Alegre, zu deutsch „Fröhlicher Hafen“, war nur ein kurzer Stop und schon geht es weiter nach Norden.


Mrz 12 2019

Santa Cruz #2

Der Markt (Mercado Florida)

Vielleicht hätten wir das mit dem Frühstück vorher machen sollen. Also vor der Blutspende und dann wäre sie wohl nicht umgekippt. Ein für Bolivien typischer kleiner Markt ist zum Glück auch nicht weit entfernt. Von der Reparatur über Mahlzeiten bis Obst wird alles angeboten. Das Highlight ist aber die Frühstücksecke. Je nach Wunsch wird ein bergähnlicher Fruchtsalat in einer Schüssel mit Joghurt, Müsli, Honig und Chia-Samen serviert. Für mich wird der Markt zum Muss und die eine Mitarbeiterin kennt mich dann schon und serviert „wie immer“.

Nicht nur hier zeigt sich, dass Santa Cruz einen gesunden und vegetarischen Lebensstil ermöglicht. Eine Kette, genannt „Sii-pi“, bietet an vielen Ecken Menüs an. Aber auch darüber hinaus gibt es vegetarische oder gar vegane Menüs, Vollkorn-Empanadas und Fruchtsäfte. Ein weiteres Muss wird ein frischer Orangensaft. Händlerinnen parken ihre kleinen grünen Wagen an den Straßenecken und bieten halbe Liter-Becher an, die sie dann frisch pressen, wenn bestellt wird. Natürlich gibt es Japa. In vielen Ländern ist es üblich, dass bei Straßengetränken ein kleiner Nachschlag kostenlos hinzugeben wird. Das heißt konkret: Wenn ich dabei bin den Becher zu leeren, halte ich den nochmal hin und bekomme einen weiteren großen Schluck eingeschenkt.

Die Bekannte Azuls, die Fruchtsalate verkauft, war zu Beginn meines Aufenthalts hochschwanger. Später dann bemerken wir, dass sie es nicht mehr ist und fragen nach. Tatsächlich hat sie bis zu den Tag der Geburt Leute für Fruchtsalate angeworben und ist dann am übernächsten Tag wieder zur Arbeit gekommen. Das Kind liegt im Kinderwagen hinter der Theke und wird während der Arbeit gestillt. Ich bin überrascht von der Realität. Ein Leben ohne Wohlfahrtsstaat.

An einem anderen Tag werde ich mit den Grampas vertraut. Das bezeichnet die Autokrallen mit denen die Polizei parkende Fahrzeuge festsetzt. Während wir frühstücken beginnen Marktleute „Grampa“ zu rufen und einige wenige springen auf. Sie wollen ihre Fahrzeuge noch schnell in Sicherheit bringen. Die Verkäufer*innen stellen sich dabei bewusst auf die Seite der Kund*innen. Geben diesen Hinweis weiter und beginnen Diskussionen mit den Polizist*innen um sie davon abzuhalten. Azul kommentiert das Geschehen mit „die Polizei hat Hunger“. Wenn sie anfangen Strafen in größeren Umfang zu kassieren oder gar zu erfinden, dann wohl auch weil sie selbst Geld brauchen. Es wäre wohl ein typischer Kommentar in der Bevölkerung. In Santa Cruz‘ Zentrum gilt Parkverbot auf der linken Seite und die meisten Straßen sind Einbahnstraßen. In diesen Tagen, kurz vor Weihnachten wurden aber auch rechtsseitig Autos mit Krallen versehen. Oft erreichen die Autobesitzer*innen den oder die Polizist*in und bitten das Problem vor Ort zu lösen. Der Polizist oder die Polizistin weißt dann meist auf das Strafmaß hin und das lange Procedere um die Kralle wieder zu entfernen. Wenn aber ungefähr der halbe Preis an den oder die Polizist*in direkt in Bar bezahlt wird, dann wird die Kralle auch wieder entfernt. Das Geld braucht der oder die Polizist*in um sein*ihr schlechtes Gehalt aufzubessern.

Die Tage in Santa Cruz vergehen für mich sehr schnell. Azul zeigt mir viele Seiten ihres Leben und ich sauge viele Erfahrungen wissbegierig in mich auf. Sie studiert Sprachen in den letzten Zügen und Englisch zu Lehren ist Teil der Ausbildung. Sie nimmt mich mit zu einer Unterrichtsstunde in der Universität. Das Wissenslevel der handvoll Schüler*innen ist sehr unterschiedlich und deshalb auch schwierig zu unterrichten.

Später fahren wir zum dritten Anillo, weil es dort einen sehr großen Straßenmarkt gibt, der nur gebrauchte Sachen verkauft und deswegen ziemlich günstig ist. Viele Händler*innen haben Verkaufsstände gebastelt und haben ein bestimmtes Sortiment erwählt, wie z.B. Schuhe. Oft sind die Auslagen Wühltische und die Händler*innen antworten automatengleich den Preis der Ware. Zum Beispiel „1 für 5″ oder „3 für 12“. Fast immer gibt es Mengenrabatt. Mindestens einmal sollte auch der Preis verhandelt werden, denn der oder die Händler*in geht dann nochmal 10 oder 20 % runter.

Die Musikerin

Azul erzählt mir von ihrer Arbeit. Sie ist Musikerin und spielt in einer Gruppe namens „Penumbra“, was wohl so viel wie „Dämmerung“ heißt. Hier könnt ihr’s euch anhören. Sie spielen traditionelle bolivianische Party-Musik und treten in verschiedenen Feiern auf, vor allem im Departamento ( Bundesland) Santa Cruz. Wir fahren gemeinsam zu einer offiziellen Feier die anlässlich des „Tages der Musiker*innen“ abgehalten wird. Irgendwo hinter dem 8ten Anillo, wo es schon ziemlich ländlich aussieht.

Diese Feiern finden mehr oder weniger im Freien statt beziehungsweise in sehr großen Hallen. Große runde Tische werden aufgestellt und mit lauter Plastikstühlen drumherum. Alles wird mit Tüchern fein dekoriert. Es gibt Bier und Essen für umsonst. Wer als Gruppe oder Familie zusammengehört nimmt sich einen Tisch. Bier wird immer geteilt und aus Bechern getrunken. Wie die Becher so auch das Essen wird mit Wegwerf-Plastik organisiert. Aufwaschen wird vermieden. Es gibt ein Gericht, meistens Reis mit Fleisch und Salat. Manchmal noch scharfe Soße, dem Aji.

Die Musik ist für mich immer noch ungewohnt und nur peripher mit der berühmten lateinamerikanischen Pop-Musik zu vergleichen. Zu Beginn klang irgendwie alles gleich. Neben Azuls Keyboards, sie spielt drei auf einmal, gibt es Gitarre, Bass, Schlagzeug und Gesang. Fast alle Positionen sind von ihren Brüdern besetzt. Der Vater singt. Ein Bekannter ist Einheizer und versucht die Leute zum Feiern zu motivieren. Drei Jugendliche sind als Show-Tänzer angestellt und tanzen vor der Gruppe. Penumbra steht dabei auf einer Bühne umrahmt von riesigen Lautsprechern. Für mich ist das zu laut eingestellt und die Boxen übersteuern bei fast jeden Schlag. Die Tische vibrieren und Unterhaltung ist nur schwerlich möglich. Zudem kann ich spanisch noch schlechter verstehen, wenn die Umgebung sehr laut ist.

Getanzt wird meist paarweise, aber nicht zwingend mit Berührung. Ganz anders als die oft zum Kuscheln genutzten Tänze Brasiliens oder Kolumbiens. Gleichzeitig kann auch weiter getrunken werden und je betrunkener die Menschen im Laufe des Abends werden, desto öfter muss ich mit jemanden anstoßen. Dabei merke ich, dass ich doch eigentlich schon genug getrunken habe, stoße aber weiter an um nicht unfreundlich zu wirken. Ich bin wohl auch der einzige weiße beziehungsweise Ausländer hier und falle entsprechend auf. Irgendwie werde ich wohl aus Freundlichkeit ziemlich betrunken. Betrunken wie schon lange nicht mehr.

Tage drauf fahren wir erneut aus dem Zentrum, nun bewährt mit vielen Geschenken, die die Walt-Disney– und Plastik-verarbeitende Industrie Made in China günstig anbietet. Die Tochter von Azuls Bruder feiert den Abschluss des ersten Schuljahres. Was allerdings eher noch Kindergarten war. Der Abschluss des ersten Jahres und dann wieder des letzten Schuljahres wird ausgiebig gefeiert. Auch heißen die Klassen des ersten Jahres „Kinder“. Tatsächlich so wie es hier geschrieben steht und nicht ins spanische übersetzt. So kommt es mir doch ein wenig merkwürdig vor, dass ständig dieses eine, für mich deutsche, Wort ständig aufkommt.

Bolivien kennt ein lineares Schulsystem, dass sich in mehrere Abschnitte aufteilt. Entscheidend in den einzelnen Jahren sind die Prüfungen am Ende. Wie in den meisten Ländern der Südhalbkugel ist die wichtigste Ferienzeit in den Monaten um den Jahreswechsel, weil dann Sommer ist. Das macht sich auch in den Buspreisen bemerkbar, da nun mehr Leute Reisen unternehmen können.

Die Feierlichkeiten für die „Gradation“ der kleinen Neffin sind auf den Sportplatz, der wie bei den meisten Schulen hier, direkt hinter den Gebäuden sind, oder gar von den Gebäuden umringt wird. Reihen von Plastikstühlen wurden aufgestellt und jede Familie hat drei Plätze. Deshalb stehen viele. Ein Gang zur Bühne bleibt frei und enthält einen Bogen, der irgendwie an eine Hochzeit erinnert. Die kleinen werden samt Eltern aufgerufen und durchschreiten feierlich unter Applaus und Photoapparaten den Bogen.

Die Kinder sammeln sich nach und nach auf der Bühne. Vorab wurden noch verschiedene Hymnen gesungen, wobei alle aufstanden. Die Boliviens und die vom Departamento Santa Cruz waren dabei. Anschließend ging es auf der Ladefläche zum Haus der Eltern der Graduierten und wir aßen und tranken noch ausgiebig.