Nov 10 2018

Auf den zweiten Blick

San Gil, Kolumbien

von Rosa

Wie oft schmieden wir Pläne und sind dann enttäuscht, wenn sie sich nicht nach unseren Vorstellungen erfüllen. Südamerika hat mich wieder einmal gelehrt Pläne sind schön und gut, doch links und rechts der Route finden sich manchmal Begegnungen, die uns um so mehr ins Staunen versetzen.

Ich bin zurück in Kolumbien, um einen zweiten Blick zu wagen. Die Zeit von Quito nach Bogotá vergeht buchstäblich wie im Flug und bevor ich mich am Zusammenspiel von Bergen und Wolken satt sehen kann, landet die Maschine auch schon mehr oder weniger sanft auf dem grauen Asphalt. Die kolumbianischen Grenzbeamten möchten wissen, wo ich übernachten werde. Ich suche schnell ein Hostel raus und dann darf ich endlich passieren. Am Gepäckband wartet schon mein Rucksack und Gerald auf mich. Gerald hatte mich bei der Gepäckaufgabe gebeten seine zwei großen Nutella-Gläser schnell noch in meinen Rucksack zu stecken, da sein Koffer schon weg war und er seinen geliebten Schokoaufstrich nicht mit ins Handgepäck nehmen durfte. Wir müssen beide zum Busterminal. Es gibt einen Bus, den man bezahlen muss und einen, naja man quetscht sich einfach rein und fährt ein Stück bis zur Metrolinie. Dort dürfen wir auf der Metrokarte eines anderen mitfahren und so sind wir nach einer Stunde endlich am Busterminal. Zufällig fahren wir sogar beide Richtung Bucaramanga. Gerald kommt aus Venzuela und ist Technikbetreuer für ein Triathlonteam aus Ecuador. Triathlon ist in Venezuela, Kolumbien und Ecuador sehr bekannt und so kommt er ganz schön rum. Der Triathlonmann bedankt sich nochmal überschwänglich bei mir für den ungewöhnlichen Transport und freut sich schon auf die schokoverschmierten Gesichter seiner Kinder.

Fallen

Auch wenn ich schon einmal in San Gil war, gibt es viele versteckte Ecken, die ich noch nicht erkundet habe. Zum Beispiel den Wasserfall Juan Curi. Meine Wanderbegleitung heißt zufällig auch Juan und scherzt, dass ihm der Wasserfall gehöre. Wir laufen durch die verwachsene Natur und es geht steile Erd- und Felstreppen bis nach ganz oben. Mit den ersten Lichtstrahlen, die sich durchs dichte Blätterdach kämpfen, höre ich das Rauschen des Wasserfalls.

Die herunterströmenden Wassermassen verzaubern mich und ich fühle mich als hätte ich einen verborgenen Ort entdeckt. Vor rot-grünen Felsen, umgeben von verschiedensten Schlingpflanzen fällt das Wasser fast leicht nach unten in ein Zwischenbecken. Auf der anderen Seite geht nochmal ein Strom nach unten. Wir setzen uns auf Steinfelsen direkt neben den ins Tal fallenden Wasserfluss und genießen den Ausblick und unser Abendbrot. Am Ende des Regenbogens mag es Gold geben. Am Anfang des Wasserfalls ganz viele Glücksendorphine. Es ist möglich sich den Wasserfall hinunter zu seilen, auch „Rappeling“ genannt. Da die Sonne aber schon fast untergeht, ist keiner mehr da und mich interessiert es sowieso viel mehr ein Stück den Wasserfall hinauf zu klettern. Es ist gar nicht so einfach die klitschigen Felsen zu besteigen, Wege durch den Fluss zu finden und durch die Strömungen zu wandern. Doch es macht unglaublich viel Spaß. Ich stelle mich nah an das aufprallende Wasser und spüre die Kraft des Wassers. Hier oben ist es ziemlich kalt und windig. Auf dem abgesteckten Weg zurück zur Straße falle ich dann doch noch hin und ich habe blutige Schrammen an Knien und Händen. Und wieder mal denke ich: das ist leben. Verletzungen passieren nicht bei vermeintlich gefährlichen Aktionen, sondern wenn man über seine eigenen Füße stolpert.

In diesem Licht

Der Mond leuchtet hell in dieser Nacht. Es ist Vollmond. Zwischen dunkel und hell verwischen die Konturen. Dieser Ort, diese Zeit, dieses Licht – es füllt sich unwirklich an. Wie ein Traum.

Doch es existiert wirklich.

Drei Stunden von San Gil entfernt liegt ein Ort, der sich übersetzt Irgendwo im Nirgendwo nennt. Dieser Ort wird einfach nur das Dorf genannt. Eigentlich habe ich keine Lust drei Stunden auf einem Motorrad zu sitzen. Aber es soll sich lohnen. Was ich noch nicht weiß: zwei Stunden des Weges fahren wir Schotterpiste. Ich schlucke Staub. Auf dem kleinen Sitz werde ich hin und her geschoben. Schon nach einer halben Stunde tut mein Hintern ordentlich weh. Schlaglöcher, Steine, Wassergräben und doch wohnen hier Menschen. Fahren diese Strecke jeden Tag. Immer wieder zwischen den Bäumen zeigen sich mir Einblicke auf die Felswand des Canyon Chica Mocha. Ganz unten im Tal fließt ein kleiner Fluss. Das Szenario erinnert mich an den Grand Canyon. Die Felsen sind rot von grünen Färbungen unterbrochen.

Ab und zu sind 20 Meter lange Stücke der Straße mit Pflastersteinen ausgelegt. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir fahren vorbei an Bananenplantagen, einzelnen Häusern und aller 30 Minuten gibt es Verkaufsstände. Ein Leben am Ende der Welt. Wer hier kein Motorrad hat, ist aufgeschmissen. Auch Zehnjährige kommen uns auf den großen Maschinen entgegen. Ich bemerke gar nicht wie schnell es dunkel wird. Irgendwann geht die Straße nicht mehr weiter. Eigentlich. Doch nur weil da ein Sperrschild steht, heißt das noch lange nichts. Wir fahren im Slalom an Pflastersteintürmen und kleinen Baufahrzeugen vorbei. Es wird wohl wieder ein Stück Straße gebaut. Nach zwei Stunden Rüttelfahrt bergab bin ich froh, dass ich noch alle Zähne im Mund habe. Wir kommen tatsächlich in einem Dorf mit Häusern und geteerter Straße an. Es gibt nur wenige Lichter und es ist still. So still als würden alle Geräusche verschluckt werden. Ich fühle mich wie in einem Horrorfilm kurz bevor die typische Musik losgeht, damit auch niemand verpasst, dass jetzt gleich etwas Schlimmes passiert. Doch die Musik kommt nicht. Es ist weiterhin ruhig. Auf einer Straßenkreuzung spielen drei Kinder Fußball und ihre Väter schauen gelangweilt zu. Es gibt ein Geschäft, das natürlich Bier verkauft und alte Brötchen. Gut geschätzt von letzter Woche. Am Ende des Dorfes, in dem 50 Menschen leben, gibt es einen kleinen Teich und wie überall eine Kirche.

Es geht noch einmal 20 Minuten weiter bis zu unserer Unterkunft. Ich muss mehrmals absteigen, um zu vermeiden nicht ganz vom Motorrad zu fallen. Endlich biegen wir in die Einfahrt einer Finca und ab hier geht es nur noch zu Fuß. Am Ende eines Steinpfades liegt eine kleine Hütte vor der Betten stehen. Der Himmel ist bewölkt. Es ist fast nichts zu erkennen. Ich sitze eine Weile auf einer Mauer, starre in die Dunkelheit und sehe dem Wasser zu, wie es durch Strudel flussabwärts fließt. Dann brechen die Wolken auf und Fluss und Canyon werden in ein silbernes Licht getaucht. Felsen und Bäume nehmen Konturen an. Diese Farbe des scheinenden Mondlichts habe ich so noch nie gesehen. Meine Augen wollen zufallen, doch ich will nicht schlafen und diesen Moment vergehen lassen. Ich liege im Bett und starre den Mond an. Solange bis die Wolken wieder ihren Vorhang schließen. Der Mann im Mond verbeugt sich für seine unglaubliche Lichtshow und auch ich schließe endlich meine Augen. Unterm Himmelszelt mitten im Nirgendwo schlafe ich so sicher und gut wie nie zuvor.

Die Ruhe der Nacht ist dem Morgenspektakel der Vögel und Grillen gewichen. Die Sonnenstrahlen wärmen und kitzeln mich wach. All das was gestern noch im Verborgenen lag, eröffnet sich nun groß und farbenfroh meinem noch müdem Blick. Was meine Ohren hören, sehen meine Augen noch deutlicher. Ich bin nur von Natur umgeben. Am oberen Ende des Canyons stürzt ein Wasserfall in die Tiefe. Ein Kolibri labt sich an einer feuerroten Blume und ist so schnell wie er gekommen ist, fliegt er auch wieder weg. Das Wasser im Fluss schlängelt sich eifrig vorbei an den vielen Felsen, die sich stur dagegenstemmen. Nur die Sonne brennt unerbittlich und zeigt mir deutlich, dass ich hier nicht hingehöre. Das Thermometer zeigt 40 Grad. Ich blinzle der Sonne entgegen und bedanke mich für den Besuch.

Süß und herzhaft

Barichara ist ein Dorf, dass unter Denkmalschutz steht. Alle neuen Häuser müssen ebenso im kolonialen Stil der alten Häuser errichtet werden. Es ist ein hübsches kleines Dörfchen, was sich rausputzt. Am Wochenende kommen viele rausgeputzte Leute hierher, um zu flanieren. Wir sind nicht zum Flanieren, sondern zum Wandern hier. Die beste Zeit ist die Mittagszeit. Da brennt die Sonne so schön. Der Weg ist mit vielen Steinen gepflastert. Manchmal gerade, manchmal eher ungerade. Der Camino Real Trail führt von Barichara nach Guane und besticht durch seine unglaubliche Aussicht.

Das kleine Dorf Guane erscheint wie eine ruhigere Version von Barichara. Hier ticken die Uhren noch einmal langsamer. Nach zwei Stunden sind wir auf dem Hauptplatz angekommen. Im Schatten liegen Hunde und alte Männer mit Hut, die kaum Energie zum Schwatzen haben. Es gibt ein Museum und drei kleine Geschäfte. Eines verkauft cremigen Ziegenlikör, der mich an Eierlikör erinnert. In einem Tante-Emma-Laden soll ich Käse mit Bocadillo probieren. Bocadillo ist eine geleeartige Brombeerpaste, die einfach auf den Käse gelegt wird. Am Anfang schmeckt es süß und dann eben salzig herzhaft. Juan kann meine Abneigung gar nicht verstehen und verschlingt genüsslich das süße Käsestück. Ich bediene mich lieber beim Eis, das im Nachbardorf produziert wird. Es gibt alle möglichen Sorten. Eben der beliebte Käse mit Bocadillo, Avocado, unzählige einheimische Früchte und „Tres Leches“. Letzteres ist ein Cremeeis aus Kondensmilch, karamellisierte Milch und normaler Kuhmilch und schmeckt einfach zum Dahinschmelzen. Der Tante-Emma-Laden ist auch eine Art Kneipe und so ist der nette alte Mann hinter seinem Tresen nie allein. Er hört den neusten Dorfklatsch und die Geschichten der Reisenden.

Frühshoppen

Ich bin zu einem Barbecue eingeladen. Schön denke ich. Bis ich erfahre, dass es 10 Uhr Morgens stattfindet. Die spinnen die Kolumbianer. Kurz vor 11 Uhr tauche ich auf und tatsächlich brutzelt das Fleisch schon auf dem improvisierten Grill vorm Haus. Auf den Grill wird alles geworfen, was irgendwann mal in oder an einem Tier war. Von runden kleinenWürstchen über Schweinelenden, blutiger Leber und Kuhdarm ist alles dabei. Eine harte Show für eine Vegetarierin. Es gibt aber zum Glück auch noch Maiskolben, Kartoffeln, Yuca (schmeckt ähnlich wie Kartoffel) und Salat. Alle sind gut drauf, obwohl jeder den Gastgeber nervt, wo denn das Bier bleibt. Dann kommt die ersehnte Lieferung endlich an. Das Moped bringt einen Kasten Bier und jetzt sind alle glücklich. Nach fast einer halben Stunde ist das Bier aber schon wieder alle und Nachschub muss her. Im Supermarkt kauft hier keiner Bier. Viel zu teuer. Dafür gibt es extra Getränkelieferannten. Es ist zwei Uhr Mittags und alle sind gut angetrunken. Die Geschichten werden wilder, das Lachen lauter und der Bierkasten leerer. Gegen drei verabschieden sich die ersten und werden hinten aufs Moped gepackt. Auch mir ist jetzt eher nach einem Nickerchen zu Mute. Den Rest des Tages bin ich mit Ausnüchtern beschäftigt. Ich finde es ein bisschen komisch so zeitig mit Trinken anzufangen, weil dann der Rest des Tages eher weniger zu gebrauchen ist. Aber so versichern mir die andern, ist man am nächsten Tag wenigstens wieder nüchtern. Macht schon Sinn, wenn man auch am Sonntag trinken will.

Sprung mit Folgen

Es ist mal wieder heiß in Santander. Santander ist die Provinz in der ich gerade für zwei Wochen lebe. Das Wandern geht mir heute trotzdem leicht von der Hand. Allerdings hätte ich mich für lange Kleidung entscheiden sollen. So sind meine Beine schon nach kurzer Zeit von den Sträuchern in Mitleidenschaft gezogen. Wir sind in Curiti an einem Fluss, der durch natürliche Pools zum Baden einlädt.

Juan war vor vier Jahren zum letzten Mal hier und da sah alles noch ganz anders aus. Er meint es gäbe einen Stelle, wo man von sechs Metern ins Wasser springen kann. Doch der Weg wird immer verwachsener und die Sonne brennt in der Mittagshitze. Also kehren wir um zu einer anderen Badestelle. Das Wasser ist kalt, aber das tut gerade sehr gut auf der Haut. Ich schwimme ein paar Runden, bis mich Juan fragt, ob ich nicht von dem Felsen springen möchte. Bei meinem letzten Besuch hier habe ich viele Einheimische springen sehen. Ich klettere auf den vier Meter hohen Felsen, nehme Anlauf und springe von der Kante. Der Flug ins Wasser kommt mir recht lang vor. Dann lande ich und ziehe meine Füße ein. In diesem Moment erwischt mich ein stechender Schmerz. Genauer gesagt in meinem linken Ohr. Es sind wie Nadelstiche, die sich durch mein Ohr ziehen. Ich gehe so schnell wie möglich aus dem Wasser und wir fahren zurück. Tabletten und ein Wärmekissen helfen mir den Schmerz zu lindern. Als ich bei Dr. Google nach Symptomen suche, bestätigt sich mein Verdacht. Beim Aufprall ins Wasser kann das Trommelfell reißen. Normalerweise verheilt der Riss von alleine, es sei denn Wasser und Bakterien verursachen eine Entzündung.

Die Schmerzen sind auch am nächsten Morgen noch da. Ein dumpfes Gefühl, ich höre schlechter und ab und zu heftiger stechender Schmerz. In San Gil gibt es genau einen HNO-Arzt. Als ich die Praxis betrete muss ich zweimal schauen, ob ich hier richtig bin. Warte- und Behandlungszimmer sind ein großes Wohnzimmer. An den Wänden hängen Bilder vom Arzt. In der Mitte steht ein Behandlungsstuhl aus dem 19. Jahrhundert und am Eingang warten auf Holzbänken zwei Patienten. Dazwischen eine Frau auf einer Liege, die an einem Beatmungsgerät hängt. Ich werde in ein paar Minuten ihren Platz einnehmen. Es geht überraschend schnell. Ich setzte mich auf das antike Möbelstück und der Arzt schaut mir in die Ohren, Nase und Mund. Kein Riss zu sehen, meint er. Dafür eine starke Schwellung und eine Entzündung. So richtig plausibel wie sie entstehen konnte erklärt der Arzt nicht. Durch den Aufprall hätte es einen Schlag gegeben, der den Muskel verletzt hat. Er verschreibt mir zwei Tabletten für zehn Euro, 20 Minuten am Beatmungsgerät und vier bis fünf Tage Ruhe. Kein Wasser an die Ohren und keine Musik. Was für ein Leben.

Um sicher zu gehen, dass es kein Trommelfellriss ist, hole ich mir noch eine zweite Meinung bei einem Allgemeinarzt ein. Sein „Praxiszimmer“ befindet sich in einem Hinterzimmer einer Apotheke. In diesem Raum befindet sich genau eine Pritsche und ein Kühlschrank auf dem Spritzen und Medikamentenschachteln verteilt liegen. Auf eine Taschenlampe schraubt er das Otoskop, um in mein Ohr zu schauen. Auch er stellt keinen Riss, sondern nur die Entzündung fest. Allerdings empfiehlt er mir eine Spritze für 20 Euro mit der morgen alles weg ist. Nadeln finde ich grundsätzlich nicht besonders sympathisch und deswegen lasse ich mir lieber schmerz- und entzündungshemmende Tabletten geben. Die Ibuprofen 800 bekomme ich ohne Rezept. Für den Notfall ist das vielleicht nicht ganz schlecht. Beide Ärzte empfehlen mir viel Kaugummi kauen, um den Ohrmuskel zu lockern. Da hätte ich doch lieber wieder eine Mandelentzündung. Damals hat der Arzt empfohlen ganz viel Eis zu essen.

Der König der Löwen

Meinen Ohren geht es täglich besser, auch wenn Heilung länger braucht als erwartet. Die Zeit in Kolumbien neigt sich dem Ende. Ich gehe nicht ohne mich von meinem Lieblingscanyon zu verabschieden. Mein Hintern und ich nehmen nochmal eine huckelige Fahrt in Kauf, um an einen ganz besonderen Ort zu kommen. Wieder einmal gibt es keine richtige Straße mehr, aber dafür ein Seniorenzentrum, ein Tanzlokal und Kneipen. Ich bin überrascht von der Infrastruktur an diesen abgelegenen Orten. Das ländliche Leben ist im Gegensatz zu manchen Gegenden in Deutschland gut organisiert. Es ist eben was du draus machst. Die Polizei scheint hier auch eher selten vorbeizukommen. Also fahren alle ohne Helm. Bei diesen Straßen ist es sowieso unmöglich schneller als 30 km/h zu fahren. Ein Bauernhof dient als Parkplatz für das Motorrad und wir laufen über Stock und Stein bis uns eine Ziegenherde den Weg versperrt. Die Tiere sind leider schwer davon zu überzeugen den Weg frei zu machen. Wir geben auf und laufen einen kleinen Umweg. Dann stehen wir vor einem Haus was den Weg versperrt. Doch links am Zaun führt ein kleiner Trampelpfad zu einem Punkt, der sich tief in mein Gedächtnis brennen soll. Ich stehe auf einem Steinplateau und fühle mich wie der König der Löwen.

Unter meinen Füßen eröffnet sich der gesamte Chica Mocha Canyon. In meinem Kopf spulen sich die Bilder der Wanderungen, der Felsen, Staubwolken, Kolibris, das Geisterdorf und das Licht im Mond ab. All diese Bilder und die Aussicht machen mich unglaublich glücklich. Nur das Meckern einer Ziege reißt mich aus meinen Erinnerungen und mahnt mich, dass es Zeit ist weiter zuziehen, um neue Erinnerungen zu schaffen.

Wir werden manchmal müde etwas lange anzuschauen. Vielleicht vergessen wir das Gefühl, wie es war, etwas zum ersten Mal zu sehen. Vielleicht erscheinen uns Berge, Täler, Meere irgendwann gleich. Doch ich kann immer noch staunen. Auch noch beim zweiten Mal hinsehen. Und so lange ich staunen kann, möchte ich reisen.


Okt 26 2018

Zu Fuß zum Pool und zurück

Von Karl

 

Es ist 3 Uhr früh, als wir vor unserem Hostel mit all unseren Sachen stehen. Wir warten in der noch kalten Nacht. Dann kommt ein Mann die Straße runter, nennt unsere Namen und nimmt uns mit. Immer wieder zwei Ecken und einmal telephonieren. Warten. Noch eine Ecke weiter und wieder telephonieren. Warten. Dann kommt der Bus und wir steigen schnell ein.

Tal der Condore

Zusammen mit einem guten Dutzend anderer Reisenden brechen wir auf zu unserer Wanderung ins Colca-Tal. Eines der tiefsten Täler der Erde. Genau genommen der zweittiefste Canyon der Erde. Über 3.200 m ist das Colca-Tal tief.

Noch morgens erreicht der Bus die Hauptstadt des Tals: Chivay. Dort gibt es kurz Frühstück und wir fahren weiter ins Tal hinein. Am Cruz del Condor machen wir Stopp und können einen fulminanten Ausblick wagen. Kilometer geht es steil nach unten, während wir auf Felsen sitzen. Gegenüber steigen die Berge auf bis sie weiße Kappen bekommen. Die Dimensionen sind unvorstellbar.

In den Lüften vor uns gleiten mühelos Condore. Braune oder Schwarz-Weiße. Sie zählen zu den größten Vögeln und beherrschen das Tal. Mal segeln sie über uns, mal segeln sie weit unter uns.

Abstieg

Nur kurz dürfen wir den Ausblick genießen, bevor es weiter geht an den Startpunkt unserer Wanderung bei Cabanaconde. Wir werden noch schnell aufgeteilt in die 3-Tages-Tour, 2-Tages-Tour und die Tages-Tour. Unser Guide, Fernando, kommt gerade von einer Tour und macht mit uns die Zweitägige. Nach nur wenigen Metern sind wir wieder am Rande der Schlucht und beginnen den Abstieg. Fernando ist nicht nur unser Guide, sondern auch das Lexikon zur Umgebung. So ist der Hang, den wir absteigen sehr trocken, während auf der anderen Seite auch Landwirtschaft möglich ist. Über grauen Schotter und Geröll geht es unter der sengenden Sonne Meter für Meter bergab. Eine Seite ist der Abgrund und auf der anderen geht es steil bergan. Kommt eine Kehre, wechseln die Seiten. Wir erfahren, dass im Talgrund 40 Grad Celsius herrschen. Wir haben zwar mit viel Wasser die Tour gestartet, aber der Pegel in der Flasche fällt kontinuierlich.

Gute drei Stunden sandig-rutschiger Abstieg später, erreichen wir den kontaminierten Fluss im Talgrund. Nach kurzer Pause geht es über eine Hängebrücke auf die andere Seite. Durch Gärten und vorbei an alten Frauen die Kekse, Obst und Wasser verkaufen. Wir kommen an unsere Pausenstation und bekommen mageres Mittag. Etwas enttäuscht versuchen wir unsere geschundenen Körper im Schatten zur Ruhe zu bringen, doch ein fettes Huhn lässt mich einfach nicht in Ruhe. Was auch immer ich den Huhn angetan hatte, es verfolgte mich über die Wiese bis wir den Ort wieder verließen. Gerne hätte ich die steilen Hänge aus ruhender Position unter dem schattigen Avocado-Baum genossen. Nun. Selten, dass ich einem Lebewesen ein Ende als Broiler gewünscht habe.

Bis zur unserem Ziel sind es aber nochmal drei Stunden. Wir beginnen die Wanderung entlang des Tals und schon bald folgen steile Auf- und Abstiege. Fernando entschuldigt sich immer wieder im voraus: Es sei halt ein Canyon. An einem Zwischenstopp bei einigen Kakteen erklärt er uns, dass diese auch industriell angebaut werden. Weil sich darauf ein kleiner Käfer parasitär entwickelt, der zerdrückt eine dunkelrote Farbe hat. Diese wird als Farbstoff und in der Kosmetik-Industrie verwendet.

Unsere Füße entwickeln zeitgleich Blasen und Muskelkater. Besonders Bergabstiege treffen nicht auf unsere Gegenliebe. Erste Blasen haben sich gebildet, die verarztet wurden. Eine halbe Stunde vor dem Ziel müssen wir unsere Wasservorräte auffüllen. Nochmal 5 Liter und etwas Obst. Zum Glück hat ein alter Mann ein kleinen Holzverschlag aufgebaut – im Nirgendwo. Als wir den letzten Anstieg geschafft haben, eröffnet sich ein erster Blick auf unser Tagesziel: Oasis de Sangalle.

In der Innenseite der Flusskurve breitet sich eine breite Grünfläche mit Palmen und Pools aus. Ein Pool entwickelt für uns schnell eine Anziehungskraft und spendet neue Motivation. Noch vor der Brücke auf die grüne Insel inzwischen der felsigen Landschaft, erscheint uns ein großer Wasserfall auf der gegenüberliegenden Seite. Mitten aus der Felswand scheint er zu entspringen und ab da und abwärts ist plötzlich alles grün. Doch dann ruft der Pool erneut. Ein letztes Mal über eine Brücke und letzte Meter nach oben, einmal quer durch das teils überwucherte Gebiet, bis wir in einer Bungalow-Siedlung ankommen. Strom ist hier Mangelware.

Unser Guide teilt uns auf die Zimmer auf. Kaum haben wir unsere Sachen in dem Bambus-Verschlag außerhalb der Reichweite von Kleintieren und Skorpionen geparkt, springe ich auch schon in den Pool. Das recht frische Wasser kühlt die geschundenen Beine und gleicht einer Wohltat. Ich könnte stundenlang darin ausspannen, wenn es nicht auf die Dauer zu kalt wäre. Zudem wirft sich der Schatten frühzeitig über uns und ich suche nach der Dusche die warmen Klamotten auf.

Gefühlte Ewigkeiten warte ich mit knurrenden Magen auf das Abendbrot und bleibe enttäuscht von der mageren Mahlzeit. Wir sind geschafft und suchen direkt den Weg in die Horizontale. Nicht ohne den krassen Sternenhimmel zu sehen. Fernab großstädtischer Lichter erscheinen Millionen kleiner Sterne und die Milchstraße ist ohne Probleme zu erkennen. Ich muss stehen bleiben und dieses seltene Bild tief in mir einprägen. Oft habe ich das Bild nicht gesehen. Mal bei einer Segelfahrt auf der Ostsee oder bei der Überfahrt mit dem Frachtschiff nach Südamerika oder auf dem Boot im Amazonas-Regenwald. Nein, so ein Himmel ist selten.

Aufstieg

Schon 4:30 Uhr treffen wir die Gruppe und Fernando, damit wir den Rückweg nach Cabanaconde machen. Diesmal eine andere Route, doch der Höhenunterschied bleibt gleich. Wir steigen direkt von 1.900m auf 3.300m. 1.400 Höhenmeter in wenigen Stunden. Im Zickzack den Weg über Schotter und Fels. Wir haben unsere Stirnlampen an und folgen jeweils unseren Vordermenschen. Andere Gruppen sind am Hang wie Lichterketten, die im Wind wackeln, zu erkennen. Langsam schieben wir uns Kurve um Kurve nach oben. Plötzlich sollen wir alle an die Innenseite gehen und warten. Eine Gruppe Esel rauscht an uns vorbei. Inklusive Esel-führer. Auf der gesamten Strecke nach oben transportieren Esel die nötigen Sachen für die Menschen im Tal oder Touris, die aufgegeben haben. Lediglich der Müll wird von Hand geleert und auf dem Rücken getragen. Der ältere Mann hat nur Sandalen an, zwei riesige Säcke Müll auf dem Rücken und überholt mich mühelos. Ich rede mir ein, dass ich kaum 1.400 Höhenmeter in Deutschland trainieren hätte können. Er schon.

Die Berge am Horizont werden zu erst in orangefarbenes Morgenlicht getaucht. Bis mich die wärmende Sonne erreicht, vergehen allerdings noch schweißtreibende Stunden. Das Orange wandelt sich langsam in kräftige Farben und diese fließen langsam ins Tal. Wie frische Farbe die nach und nach auf die Berggipfel aufgetragen wurde und dann über die Kanten ins Tal läuft.

Fernando hat uns mittlerweile drei Bäume gezeigt, bei denen wir uns wiedertreffen sollen. Sie sehen klein aus und ich glaube, dass sie ein erstes Zwischenziel mit Pause sind. Mittlerweile haben Pippi und ich die Strategie entwickelt, möglichst vorne zu laufen und Pausen zu vermeiden, damit wir an der eigentlichen Pausenstation eine umso größere Pause haben. Wir haben allerdings nicht mit DIESEN Bäumen gerechnet. Lange Zeit nehmen wir Stein für Stein während unsere Herzen pumpen und der Schweiß von der kühlen Luft schnell getrocknet wird. Als nach vielen unendlichen Minuten tatsächlich DIE Bäume wieder auftauchen, sind sie immer noch verdammt weit oben. Wir machen nun doch Trinkpausen und lassen unglaublich sportliche Menschen an uns vorbeiziehen. Immer wieder auch Esel. Manche Touris auf den schaukelnden Rücken am Rande des Abgrundes haben weiße Gesichter die im Kontrast das Esel-Fells schwarz erscheinen lassen.

Viele der Touris, die fast ausschließlich aus Westeuropa kommen, haben entsprechende Trekking-Kleidung und -Ausrüstung angelegt. Pippi mit Jeans und meinem alten Schulrucksack. Ich mit Leggins und Jutebeutel. Ja, wir passen nicht ganz ins Bild der gut vorbereiteten Extrembergsteiger*innen. Trotzdem wissen wir einen guten Teil unserer Gruppe hinter uns und beißen uns weiter den Berg hinauf. Nur, wo sind die scheiß Bäume?

Als sie dann doch wieder auftauchen, dämmert es mir endlich, dass die Bäume nicht klein und krüppelig sind, sondern groß und stolz. Ein Mann, der uns entgegen kommt, grüßt uns freundlich und verrät, dass es nur noch eine Stunde bergauf sei. Ich denke, dass die Distanz bis zum Gipfel gemeint ist, stelle aber fest, dass sie bis zu den Bäumen ist. Ja, tatsächlich sind wir noch an den riesigen drei Nadelbäumen angekommen. Ich habe kaum mit dem Pausieren begonnen, motiviert Fernando uns zum weiterwandern. Ich stelle mich innerlich auf weitere Stunden harten Anstiegs ein.

Doch nach zehn Meter klettern wir umständlich durch das Gipfelkreuz und erreichen einen Platz, voll mit Ankömmlingen. Geschafft! Wir Finisher ruhen uns kurz aus, bevor wir Siegesposen vor der Kamera machen. Meine Peace-Fahne kommt dabei zum Einsatz und motiviert Weitere sich damit zu photographieren. Ein Mann möchte sogar ein Photo mit mir, weil ich diese Idee mit der Flagge habe und er Frieden wichtig findet.

Die letzte halbe Stunde ist ohne Berge und wir erreichen Cabanaconde und somit auch unser Frühstück. Bevor ich aber in die letzte Straße einbiege, muss ich meine Augen reiben. Ein Mann läuft mit meinem Rucksack von links nach rechts und bringt ihn auch zum Frühstück. Die großen Rucksäcke haben wir am Vortag abgeben können und uns wurde versprochen dass wir sie hier wiederbekommen. Dass sie allerdings von jemandem durch das Dorf getragen werden, war uns nicht klar. Schon irgendwie komisch, den eigenen Rucksack an einem vorbeiwandern zu sehen.

Das Frühstück reihte sich in die Reihe der mageren Portionen ein, aber zumindest gab‘s Kaffee und Coca-Tee.

Nächster Stopp

Von nun an müssen wir nicht mehr laufen, sondern werden gefahren. Der Bus bringt uns zu einem Verkaufsstopp, wo auch je zwei Alpakas und Lamas warten. Highlight für uns soll aber ein Bad in einer heißen Quelle sein. Trotz der hohen Luft-Temperaturen tummeln sich einige Touris in den extra angelegten Becken, die mit bis zu 38 Grad sehr heiß sind. Der nahe Fluss ist ziemlich steinig, dafür aber erfrischend kalt. Das Quellwasser, dass auch teils einfach so in den Fluss fließt ist tatsächlich kochend heiß.

Unzählige Versuche uns das Mittagessen zu verkaufen haben wir während der Tour widerstanden und verabschieden uns kurz vorher bei Fernando, der sich rührend um uns gekümmert hat. Wir fahren nicht zurück nach Arequipa. Unser nächster Stopp soll Puno sein. Wir wurden von dem Touren-Anbieter in einen Touri-Bus gesetzt, wo eigentlich niemand so richtig motiviert ist. Der Guide im Bus zeigt uns zwar verschiedene reizvolle Landschaften, die aber hinter den Bildern der letzten Tage zurück bleiben.

Zum ersten Mal sehe ich aus der Ferne einen aktiven Vulkan, weil wir auf die Rauchsäule am Horizont aufmerksam gemacht werden. Schon komisch, dass die graue Wolke auf der Spitze aus dem Berg kommt. Der letzte Halt ist an einer riesigen Laguna auf über 4.400m. Auch hier packt die Alpaka-Produkte-Händlerin schon ihre Sachen ein und wir nehmen die letzte Hürde über Juliaca nach Puno.

PS.: Karte von der Gegend: