Apr 11 2019

Irgendwo im Atlantik

Von Karl

Schifffahrt von Natal, Rio Grande do Norte, Brasilien nach Algeciras, Andalusien, Spanien

 

Kaum war ich auf dem Schiff, sogleich wurde ich dem Sicherheitsoffizier zugewiesen. Er war fröhlich und gesprächig und ich folgte dem blauen Overall mit gelben Leuchtstreifen und weißem Helm. Ich nun auch mit weißem Helm ausgestattet.

Es gibt verschiedene Arten vor Rettungsbooten und Rettungsinseln, die zum Teil einfach nur über Bord geworfen werden müssen und sich dann von alleine aufblasen. Am Heck gibt es aber auch ein großes Lifeboat mit genügend Plätze für alle, aber nicht nur das, jede*r hat ihren eigenen zugewiesenen Platz in dem riesigen orangenen Freifallboot. Mein Platz trägt die Nummer 14. Es ist voll umschlossen und hängt mit dem Bug 45 Grad geneigt nach unten und vom C-Deck, also vom dritten Stock aus, kann es vom Heck aus bestiegen werden. Gleich nebenan ist auch im Notfall der Treffpunkt.

Es gibt verschiedene Arten von Notfällen mit verschiedenen Alarmen und verschiedenen Handlungsanweisungen, sodass es teils etwas unübersichtlich war für mich. Teils betrifft es mich als Passagier auch gar nicht, z.B. im Falle eines Öllecks. Fast spannender war jedoch, dass wir während der Ladungsarbeiten eine Rundgang über das Schiff gemacht haben und ich dadurch mal in einen leeren Ladungsraum schauen konnte. Wir sind sogar bis auf den Boden geklettert, vielleicht sieben Stockwerke. Dort stehend sind es dann höchstens zwei Meter bis unter den Kiel. Das riesige Fassungsvermögen wirkt nochmal krasser, wenn es leer ist und dann stehen wir in nur einen der vielleicht zehn Reihen an Containern. Wenn mensch dann noch bedenkt, dass auf den Deckeln, wenn die Ladeluken verschlossen sind, nochmal fünf Container übereinander und zwölf nebeneinander gestapelt werden. Alles zusammen macht das über 1.100 Container nur auf diesem Schiff. Gut, es ist auch 190 Meter lang, aber es trotzdem enorm. Unzählige Wassertanks machen es möglich, dass auch relativ durcheinander die Container gestapelt werden können. Durch das Einpumpen oder Ablassen von Wasser, kann das Schiff immer austariert werden.

Erst am übernächsten Tag nach dem Aufstieg merke ich, dass sich die CMA CGM Saint Laurent aufs Auslaufen vorbereitet. Bis dahin habe ich noch drüber nachgedacht, vielleicht nochmal in die Stadt zu gehen, aber irgendwie hatte ich schon mit Natal abgeschlossen. Natal heißt übrigens Weihnachten auf portugiesisch. Also hatte ich mit Weihnachten abgeschlossen gehabt. Als dann aber die Kräne längsschiffs gestellt wurden und Seeleute an den Trossen hantierten, sah ich auch wie die Gangway hochgezogen wurde. Das macht ein kleiner Extra-Motor und schlussendlich wird sie nur noch ans Geländer geklappt.

Auf geht‘s

Irgendwie war ich froh, dass es nun endlich losgeht. Ein Schlepper kam nun auch noch, aber er nahm die Saint Laurent nicht an die Leine. Zwei Lotsen waren auch schon an der Brücke, sowie der Kaptain und wer sonst wichtig ist. Etwas aufregend zu sehen, wie wir uns von dem vermeintlich fest verbundenen Ufer lösen und davon gleiten. Als wenn ich dachte, dass das Schiff teil des Festlandes wäre.

Mittels Bug– und HeckStrahlruder beginnt das Schiff sich um 180 Grad zu drehen um mit dem Bug gen Ozean zu zeigen. Der kleine Schlepper drückt dabei mit seinem Bug seitlich gegen den unsrigen um beim Wenden zu helfen. Trotzdem geht alles deutlich langsamer als die meisten es wohl von Fahrzeugen gewohnt sind.

Das andere Ufer des Rio Potengi, gegenüber vom Hafen, ist ausschließlich von Bäumen überwachsen. Tropische Natur ein letztes Mal vor meinem Auge.

Die letzten zwei Abende verschwand die goldene Sonne hinter den Bäumen und tauchte den Hafen und die Altstadt Natals in ein abendliches orange. Am Horizont beginnen die Hochhäuser, die sehr prägend für Natal waren. Wohnhochhäuser soweit das Auge reicht, doch hier am Hafen gibt es deutlich kleinere.

Es erscheint mir unfassbar schwierig zehntausende Tonnen, die nicht gebremst werden können, durch den nun klein scheinen Fluss zu manövrieren. Auch die kleinen Segelboote im Yachthafen erscheinen wie Spielzeugboote. Es wäre schier unmöglich denen kurzerhand auszuweichen.

Langsam schieben wir uns durch den Fluss. Der Hafenlotse ist auf jedem ein- und auslaufenden Schiff dabei. Er steht dabei mittig ganz vorne auf der Brücke und sagt ab und zu sowas wie „Ruder 5 Grad Backbord“. Dann sagt der Rudergänger das auch nochmal und kurz darauf, wenn das Ruder wirklich 5 Grad Backbord ist, dann sagt der Rudergänger zum zweiten Mal „Ruder 5 Grad Backbord“. Darauf gibt‘s ein kurzes „Danke“ vom Lotsen. Im Hafen kommt alle paar Minuten ein solcher Befehl.

Wir passieren dabei eindrucksvoll die Newton-Navarro-Brücke, welche nachts rot angestrahlt wird.

Sie verbindet den Nord- und den Südteil Natals miteinander. Als wir dann aber weiter auf offener See sind, wird dann nur noch die Richtung vorgegeben und die Geschwindigkeit erhöht. Der Kompass wird dafür in 360 Grad geteilt und wenn der Lotse sagt, dass wir nach 180 Grad fahren, dann fahren wir nach Süden. 90 Grad ist Osten und 270 Grad wäre Westen. Relativ schnell verabschieden sich die beiden dann auch und werden von einem kleinen Boot abgeholt, welches sie zurück nach Natal schafft. Nun übernimmt wieder die normale Brückenwache das Kommando. Bestehend aus einem Offizier und einen Seemann. Es ist zudem erstaunlich wie sehr sich die Vibration des Motors auf das Schiff überträgt.

Obwohl, eigentlich übernimmt einer der beiden Autopiloten. Mit 17 oder 18 Knoten, was etwas über 30 km/h sind, nimmt der Autopilot Kurs auf Spanien. Er sagt auch eine ungefähre Ankunftszeit voraus und das obschon die Überfahrt über eine Woche dauert. Ich komme in laufe der Tage nochmal auf die Brücke, denn Zeit habe ich ja genug. Eine Brückenwache scheint eine sehr entspannte Sache zu sein. Sie trinken mal Kaffee und müssen alle zwölf Minuten einen Knopf drücken, damit kein Alarm anspringt. Um sicher zu stellen, dass sie nicht eingeschlafen sind oder irgendwo anders sind. Ein System was es bei Zügen zum Beispiel auch gibt. Im Prinzip überwachen die beiden nur die vielzähligen Computer und reagieren auf Alarme. Nichtsdestotrotz wird auch nochmal händisch auf Seekarten gezeichnet. Es gibt auch Handlungsanleitungen für Piratenüberfälle, doch die spielen in diesen Seegewässern keine Rolle. Ein weiteres Tool ist die Blackbox, die sämtliche Eingaben und Informationen der Computer speichert, sowie die Gespräche auf der Brücke. Sollte das Schiff demnächst untergehen und die Blackbox geborgen werden, wären meine Unterhaltungen auch dabei. Die beiden haben ein entspanntes Leben. Zwei Mal am Tag kommen sie für vier Stunden auf die Brücke. Zwischendurch noch etwas Papierkram.

Sonnige Tage bieten sich an einen kleinen Rundgang auf dem Schiff nach vorne zu machen. Jedes Mal wenn das Schiff sich anhebt und wieder in eine Welle sich hineinlegt, wird das Meerwasser im hohen Bogen vom Boot weggeschleudert. Es wirkt beruhigend und ich kann viel nachdenken. Fast wie tiefe Atemzüge, so arbeitet sich das Schiff durch das Dunkelblau.

An den Containern ist gut zu sehen, dass die Kühlcontainer extra Strom brauchen, Starkstrom. Aus den Seitenluken strömt beständig warme Luft. Nur damit wir Früchte essen können, die bei uns nicht wachsen. Tonnen an Schweröl werden wohl allein für die Kühlung gebraucht.

Grillfest

Einmal im Monat, so erfahre ich, gibt es auch ein Grillfest. Anstelle von Abendbrot gibt es verschiedenste gegrillte tote Tiere, Salate, Reis, frisches Knoblauch-Brot, Bier und feinste Torten.

Alles vom Koch, auf Schiffen Smut genannt, selbst gemacht. Den lerne ich dann auch noch kennen und wir unterhalten uns angeregt bis zu letzten Flasche Bier, als dann alle schon weg sind gegen Mitternacht. So erfahre ich, dass ihm die Knoblauch-Brote ziemlich schmecken und mir wird klar warum es alle paar Tage Knoblauch-Brot gibt. Die Baguettes dafür macht er übrigens auch selbst. Es ist ziemlich spannend zu sehen, wie aufwändig seine Arbeit ist. Meist beginnt er gegen sechs Uhr in der Frühe und ist nicht vor um zehn in seinem Zimmer. Die meiste Zeit ist er in seiner Küche.

Diese sieht aus wie eine typische Industrieküche mit Fließen und viel Edelstahl. Große Maschinen für alles mögliche, wie z.B. Teigkneter. Direkt von hier ab geht auch die Treppe in den Lagerraum und von dort zu mehreren Kühlkammern für Fleisch, Fisch, Käse, Milch, Obst und Gemüse.

Nur im französischen Hafen Le Havre wird das Lager aufgefüllt, welcher ungefähr einmal im Monat angelaufen wird. Ramil, der Smut, arbeitet allein. Vor Jahren waren sie noch zu zweit, aber nun nicht mehr. Sein Steward, eine Art Helfer, unterstützt ihn zwar, aber zufrieden ist Ramil damit nicht.

Ich unterhielt mich auch mit dem Bosun, zu deutsch Bootsmann. Lwin kommt aus Myanmar und hatte gute 15 Jahre für eine Bremerhavener Reederei gearbeitet. Da aber wegen der Schifffahrtskrise rund um die HSH Nordbank viele deutsche Reedereien aufgegeben haben, musste er wechseln und fährt nun für CMA CGM. Ein Bootsmann ist sowas wie ein Vorarbeiter und leitet die Seeleute an. Ramil, der als einziger von den Philippinen kommt ist nicht glücklich, denn es ist vielleicht seine letzte Fahrt. Die anderen Philippiner arbeiten auch nicht mehr an Bord, denn die Myanmarer arbeiten für 100 Dollar weniger im Monat. Die Offiziere kommen alle aus der Ukraine. Kaum ein Seemann der nicht eine Freundin oder gar Kinder und Familie zu Hause hat. Während die Ukrainer zum Teil feste Teams bilden und immer das gleiche Boot fahren, werden die Myanmarer jedes Mal neu eingesetzt. Sie sind meist zehn Monate an Bord und zwei Monate zu Hause. Die Ukrainer teils nur vier Monate an Bord und dann vier Monate zu Hause.

Die kurzen Verträge ermöglichen es schnell mal die Seeleute auszutauschen, auch wenn gute, wie Ramil, immer wieder angerufen worden. Er könnte sich nicht vorstellen in einem Kreuzfahrtschiff zu arbeiten, da dort sehr viele Köche*innen arbeiten, die jeden Tag nur Kleinigkeiten machen, das heißt auch mal stundenlang nur Zwiebeln schneiden. Eher wieder an Land arbeiten. Das ist ruhiger, da mensch dann nicht drei Mahlzeiten am Tag allein organisieren muss und es wäre näher an der Familie. Die Stimmung unter den Seeleuten ist kumpelhaft und wenn sie die gleiche Sprache sprechen nochmal besser. Nichtsdestotrotz ist wohl immer mal jemand angenervt, zumal sie ja auf Monate zusammen arbeiten müssen und niemand anderes treffen können.

Alkohol und Rauchen ist übrigens untersagt auf den Schiffen, genauso wie Mülltrennung vorgeschrieben ist. Nur hält sich niemand daran. Das Bier wird dann von Passagier-Trinkgeldern gekauft, die meist beim Kaptain landen. Für Ramil etwas unverständlich, weil lediglich er und der Steward zusätzliche Arbeit mit den Passagieren haben. Warum geben sie ihm denn nicht das Geld? Er ist aber eine ausgeglichene Seele und so richtig regt Ramil sich dann nicht auf. Die Verbote und Bestimmungen kamen von der Reederei, aber die Seeleute wurden nicht über die Hintergründe geschult. Sodass die leeren Bierflaschen und -dosen im hohen Bogen über Bord gehen. Vielleicht auch weil der andere Kaptain, der sonst das Schiff fährt, die Regeln durchsetzt.

Ramil muss noch einiges sauber machen, da die Vorschrift, nicht mit Arbeitsklamotte in die Messe und schon gar nicht in die Küche zu kommen, vollständig ignoriert wird. Es ist fast Mitternacht, er muss noch einiges aufräumen und ich verschwinde. Noch lange bevor ich aufstehe, steht er schon am Topf und kocht Porridge.

Schnelles Ende

Die Tage plätschern dahin. Ich schreibe für diesen Blog, schaue Dokus oder aufs weite Meer. Es ist faszinierend, wie weit und blau alles ist. Unter mir geht es drei Kilometer tief und im Umkreis von hunderten Kilometern gibt es keine anderen Schiffe oder gar Land. Nur auf der Karte ist irgendwann ersichtlich dass wir unter den Kapverdischen Inseln hindurch Höhe Senegals anfangen in weitem Abstand der Küstenlinie Nordwest-Afrikas zu folgen. Über Tage schieben wir uns nach Norden. Das beständig windige Wetter wird zunehmend kühler. Die flotten Wolkenfetzen sind aber beeindruckend. Besonders bei Sonnenunter- und -aufgang.

Der Wind trägt die Gischt hinauf und meine Brillengläser beschlagen. Zunehmend kommen die langen Wellen von der Seite. Auch wenn sie nicht besonders hoch sind, so bringen sie das Schiff etwas ins Schaukeln. Lediglich mal eine Birne kullert mir vom Tisch. Wirklich gefährlich ist es also nicht. Ich gehe auch mal zum Bug und beobachte die fliegenden Fische, wie sie ihre Flossen anstellen um dann über das Wasser zu segeln. In der Nähe der brasilianischen Küste gab es noch Möwen die sie gefressen haben. Sie flogen neben dem Schiff und haben die fliegenden Fische aus der Luft gefangen oder gar einen Meter unter Wasser.

So langsam nähern wir uns unserem Ziel. Als ich vor dem Schlafen nochmal raus gehe, sehe ich schon auf Steuerbord die marokkanische Küste. Die Lichter von Tanger oder einem kleinen Vorort. Im ruhigen Wissen, dass Laden und Entladen Tage dauert schlummere ich ein. Um sechs klingelt dann aber mein Festnetz und sie meinen, dass sie bald fertig werden. Schnell muss ich meine Sachen packen und noch zum Frühstück. Ramil Tschüss sagen, und dann zu Dmytro, der mich die ganze Zeit etwas betreut hat und mir meinen Reisepass wieder aushändigt. Auch hier nochmal gute Weiterreise gewünscht und schnell zur Gangway-Wache. Ein Seemann steht immer an der Gangway und kontrolliert wer kommt und geht.

Gerade ist großer Andrang und mehrere dutzend spanischer Hafenarbeiter verlassen das Schiff. Offensichtlich sind sie fertig mit dem Laden. Kurzes Tschüss und dann klettere ich über die wackelige Gangway an den Kai. Ein Shuttlebus nimmt auch mich mit zum Ausgang.

Die Sonne geht auf. Nun bin ich also in Europa wieder. Hier schließt sich der Kreis.

Knapp 11 Monate,

oder 47 Wochen und ein Tag,

oder 330 Tage.

330 Tage war ich weg, solange wie noch nie in meinem Leben. Es war sehr viel was darin passiert ist. Ich bin schon lange nicht mehr der selbe Karl. Ich hab mich geändert und mein Leben hat sich geändert. So schön beide waren und so schön war die Reise. Es ist schwer hier ein passenden Schlusssatz zu finden. Ich sag mal so, ich bereue nichts. und worauf ich besonders stolz bin: Ich bin keinen Meter geflogen.


Nov 29 2018

Bei Magellan und Humboldt

Von Karl

 

Auf nach Chiloé

Über einen Betonkai schleicht der Bus, setzt an und fährt die Fährrampe hinauf und kommt am anderen Ende der  zum Stehen. Ich steig aus und schon beginnt die Fähre abzulegen und hebt die Heckklappe an. Die Sonne neigt sich zum Horizont. Der Wind pfeift eisig und kalt über die glatte See. Flach liegt sie da. Flach und grün, die Küste vom Festland und gegenüber, hinter dem Vorhang eines Regenschauers, die Küste der Insel Chiloé. Als wenn sie ruhig und stumm ist. Voller spannender Geheimnisse. Wie ein*e Seefahrer*in. Ohne viele Worte, doch voller Erlebnisse und Geschichten.

Die steife Brise trägt Tröpfchen mir ins Gesicht. Auch wenn es äußerlich kalt ist, so strahlt doch irgendwie die Begeisterung über die raue Natur in mir. Doch nach einer Weile wird mir ziemlich kalt und ich geh dann doch lieber in den warmen Bus. Der hat zum Glück Fenster.

Ich bin nun also auf der Insel Chiloé. Sie ist zehn Mal so groß wie Rügen, hat aber nur ein fünftel so viele Einwohner*innen pro Quadratkilometer. Besonders der südwestliche Teil ist so gut wie unbesiedelt. Es gibt zwei „größere“ Städte mit 27.000 Menschen in Ancud, ganz im Norden, und 41.000 Menschen in Castro, ganz im Osten der Insel.

Der einzig verlässliche ständige Zugang zur Insel führt über die Fähre zwischen Pargua und Chacao, ganz im Nordosten. Andere Fähren fahren nur selten. Buslinien von und auf die Insel gibt es auch nur über diese Fähre. Es wurde zwar mit dem Bau einer der weltgrößten Hängebrücken begonnen, jedoch später wurde das Projekt wieder aufgegeben.

Ich steige in Ancud aus und beginne etwas durch die Straßen zu schlendern. Die Wege sind feucht und nass. Die Häuser aus Holz und einfach gehalten. Reichtum gibt es hier nicht. Große Shopping Malls gibt es nicht mehr und die günstigen Supermärkte sind namenlos. Unter wenigen diffusen Straßenlaternenlicht begebe ich mich nach einer Weile auf die Suche nach meiner heutigen Unterkunft. Wir hatten uns auf 21 Uhr verabredet. Die Stadt ist sehr hügelig und manche Straße verlässt ihren Asphalt und wird schlammig. Ich sehe kaum Menschen oder Autos.

Seit längerem sortieren sich Straßenzüge in etwa so, dass meist die hunderter zwischen zwei Blöcken sich befinden, dass heißt nach der Kreuzung beginnt der nächste Hunderter. Wenn ich also vor Hausnummer 332 stehe, dann kommt nach der nächsten Kreuzung mindestens die Nummer 400 oder 299. Manchmal sind auch die geraden Nummern auf einer Seite und die ungeraden auf der anderen. Ich orientiere mich aus Erfahrung und gelange an das Ende der Straße. Dort liegt eine kleine Polizeikaserne und ich frage, ob sie meine gesuchte Hausnummer kennen. Ich werde direkt zum Chef gebracht, aber der denkt, ich suche eine Unterkunft und zeigt auf die angrenzenden unbeleuchteten Cabañas (Bungalows). Heute also kein Freund und Helfer. Der Wachpolizist vor der Baracke zeigt mir dann auf seinem Handy wo mein gesuchtes Ziel liegt. Irgendwie hatte ich es schon gerochen, dass hier andere Nummerierungsregeln herrschen.

Maria und Matias

Maria macht mir die Tür auf und ich betrete das wohlig gewärmte Haus. Auch ihr Freund Matias begrüßt mich sehr freundlich. Wir fangen direkt an alles zu teilen und sie öffnen eine Flasche guten chilenischen Wein. Salzkekse, Käse, Hummus, … ein Träumchen sag ich euch. Auch sie heizen die zwei Stockwerke ausschließlich mit dem Ofen in der Küche. Nebenan hacken die beiden ab und zu das Holz dafür. Es ist halt die günstigste Möglichkeit und das Holz kommt mit dem LKW zur Haustür. Alle Häuser auf Chiloé sind aus Holz und werden damit geheizt. Was sonst. Sie sind nicht die reichsten und irgendwann tropft es von der Decke.

Wir kommen sehr gut ins Gespräch. Beide sind sehr belesen und können über Mistral und Neruda streiten. Maria und ich bevorzugen Neruda, Matias Mistral. Beide sind auch Mitglieder der jungen Partei „Revolución Democratica“ (demokratische Revolution) und bekennende Sozialist*innen. Die junge Partei entstand 2011/12 aus den starken Bildungsprotesten in Chile, die bis heute eine kostenfreies Bildungssystem fordern. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2017 war sie Teil der „Frente Amplio“ (breite Front), einem Zusammenschluss verschiedener linker Parteien um eine eigene Kandidatin (Beatriz Sánchez) nach vorn zu bringen. Völlig unerwartet erreichte das Bündnis über 20% und verpasste damit die Stichwahl nur um 2,5%. Trotzdem sind sie nun mit 20 Abgeordneten im Kongress vertreten und stellen den Senator in Valparaiso. Die meisten Stimmen für die Frente Amplio holte die Revolución Democratica.

Maria ist deswegen besonders stolz und war sogar Wahlkampfmanagerin für zwei Kandidat*innen in Santiago. Zur Zeit ist sie so was wie die innerparteiliche Juristin und kann entspannt von zu Hause aus z.B. Schiedsgerichtsfragen klären. Gewonnen hat die Wahl der rechts-konservative Präsident Sebastián Piñera, den wir ab der zweiten Flasche Wein nur noch „den Clown“ nennen. Der bringt das Land zwar nicht nach vorne, aber macht auch nur irgendwelchen populistischen Schnickschnack. So gilt seit März eine Begrenzung von maximal 2 Plastiktüten pro Einkauf. Das ist ja ganz cool, aber es kann nicht kontrolliert werden. Und ansonsten gibt es kaum ökologische Bestrebungen. Der Bergbau als wirtschaftlicher Motor des Landes, sucht immer neue Ressourcen und natürlich wird auch auf Chiloé gesucht. Aber die Chilot*innen gelten als strikte Umweltverteidiger*innen, sodass größere Eingriffe in die Natur zu massiven Protesten führen würden.

So erklärt mir Matias, dass eine gelb-blühende Pflanze auf Chiloé sich invasiv ausbreitet und dabei andere Pflanzen durch ihre Wurzeln killt. Sie sieht tatsächlich sehr hübsch aus, aber ist dummerweise eine Gefahr für die Natur der Region. Ähnliches gilt für die industrielle Lachs-Produktion. Immer wieder brechen Lachs-Schwärme aus ihren Aufzucht-Gefängnissen aus und bedrohen die vielfältige Meeresflora. In dem Zusammenhang steht auch die invasive Ausbreitung einer roten Alge in allen Gewässern rund um die Insel.

Blick von Ancud; hinten: eine weitere Insel; vorne rechts: die invasive Pflanze

Als wir wieder über den Clown sprechen, meinen sie, dass die wirkliche Gefahr in Lateinamerika bald von Jair Bolsonaro ausgeht. Der frisch gewählte brasilianische Staatspräsident bedient die faschistische Klaviatur und ist in seinem Populismus mit Trump zu vergleichen. Er befürwortet die Militärdiktatur, hetzt gegen Frauen, Homosexuelle, die freie Presse, Schwarze und beabsichtigt Klima- und Umweltschutzmaßnahmen komplett zurück zu nehmen. Was das bedeutet, wird die Welt nun ab dem 1. Januar 2019 sehen, wenn er dann sein Amt antritt.

Mittlerweile ist es schon 3 Uhr nachts durch und der Wein alle. Nachdem wir diskutiert haben, ob wir angesichts des Klimawandels noch warten können bis sich der oder die letzte freiwillig entschieden hat, ob er vielleicht auf eine Plastiktüte verzichten mag, oder ob es unpopuläre Methoden bedarf … gehen wir dann ins Bett.

Ancud und 1960

Ich nutze den schönen neuen Tag um Ancud etwas zu erkunden. Tatsächlich erscheint mir die Stadt wie Warnemünde im Frühling. Der stete Wind treibt die Wellen gegen die Wasserkante. Immer wieder speit dann eine Welle über den Betonmauer. Es ist grad auflaufende Flut. Die flachen bunten Häuser liegen geduckt in dem grün der Hügel. Das Zentrum am Wasser wird grad neu gestaltet und ist deshalb als Baustelle gesperrt. Es gibt noch ein altes spanisches Fort, aber das eigentlich bedruckende ist die Landschaft außenrum. Ein versteckter Strand, die Bucht, das ständige Grün (mit gelben Punkten), die Muschel-Wege, … Ja tatsächlich wurden manche Wege einfach aus Muscheln gemacht. Im Zentrum gibt es einen traditionellen Markt in einer neu gestalteten Halle. Hier gibt es Muscheln, Algen und andere Wasser- und Waldpflanzen in Unmengen. Bei 95% kann ich nicht sagen, was das ist, oder wozu das gegessen wird. Es gibt auch eine Sonderart des Knoblauchs. Die Zehen sind gut dreimal so groß wie gewöhnlich und die Knollen machen locker den Zwiebeln Konkurrenz. Auf einen ersten flüchtigen Blick sieht mensch dann auch nicht unbedingt, dass es Knoblauch und keine Zwiebel ist.

Überall hängen Plakate, wie auch schon in Puerto Montt, dass bald eine Erdbeben– und Tsunami-Übung bevorsteht. Alle sind aufgefordert an der Übung teilzunehmen. Es werden schon Regionen definiert, die besonders von der Übung betroffen sind. Eigentlich alle, die von einem größeren Tsunami überschwemmt werden könnten. Ich verlasse die Insel leider kurz vor der Übung in den nächsten Tagen. Solche Übungen haben für die Region eine besondere Bedeutung.

1960 kam es in ganz Süd-Chile, mit dem Epi-Zentrum bei Temuco, zum größten je aufgezeichneten Erdbeben der Welt. Mit 9,5 auf der Richter-Skala kam es zu katastrophalen Zerstörungen. Ein bis zwei Millionen Chilen*innen wurden obdachlos, was ca. ein Viertel der gesamten Bevölkerung war. Erdbeben dauern normalerweise nur wenige Sekunden, doch dieses hielt ganze fünf Minuten an. Der ausgelöste Tsunami erreichte eine Höhe von 25 Metern. Die Bucht von Valdivia war für eine Stunde trockengelegt, weil sich erst das Wasser zurückzieht bevor die Welle kommt. Der Tsunami erreichte noch in Hawaii 11 Meter und tötete noch über hundert Menschen in Japan. Selbst erdbebensichere Gebäude hielten den Erschütterungen nicht stand. Auch Vulkanausbrüche wurden ausgelöst und die Küstenlandschaft hat sich mancherorts erheblich verändert.

Bild aus dem Regionalmuseum in Ancud: Meerbeben 1960, Am Donnerstag den 22. Mai 1960 um 15:11 Uhr …

Vor der Küste Chiles schiebt sich die ozeanische Platte unter die kontinentale Platte, wodurch es die Vulkane, Erdbeben, Tsunamis und Anden überhaupt gibt. Bei dem „großen Chile-Erdbeben“ wurde ruckartig ein 200 Kilometer breiter kontinentaler Block 20 Meter nach Westen bewegt und angekippt. Die extreme Energie die durch das Beben freigesetzt wurde, führte auch dazu, dass sich die Erdachse um drei Zentimeter verschoben hat. Ich bin ganz froh, dass ich hier kein Erfahrungsbericht dazu niederschreiben kann.

Maria allerdings kann von einem Beben und Tsunami in Valdivia berichten. Tatsächlich ist sie auch nicht die erste, die mir davon berichtet Beben erlebt zu haben. Es gehört zum Leben der Menschen in Chile dazu, wie es für uns normal ist, dass es mal schneit. Bei ihr aber ist es besonders interessant, weil tatsächlich die Familie des Cousins evakuiert wurde, dann später ihr Haus nicht mehr vorfinden konnte, weil es der Tsunami mitgerissen hat und deshalb für eine Weile in dem Haus von Marias Familie in Santiago leben musste.

„Kaum zur Macht sie sind gekommen, mit dem Pinguinen sie sind geschwommen“ (Zitat Ken der Guru, siehe Känguru-Offenbarung)

Deutlich friedlicher geht es dagegen am Strand von Puñihuil zu. Einem beschaulichen Traumstrand im Nordwesten der Insel. Vom Regionalbusbahnhof in Ancud fahren nur wenige Busse, aber für die handvoll Touris sogar vier Mal am Tag ein Bus nach Puñihuil. Am breiten und weiten Sandstrand warten schon die Touranbieter*innen. Der Ort ist der einzige in der Welt wo Humboldt– und Magellan-Pinguine gemeinsam brüten. Um das touristisch zu erschließen, haben die Fischer*innen des Strandes eine Art Genossenschaft gebildet und bieten gemeinsam die gut halbstündigen Rundfahrten an. Auf einem speziellen Gefährt werden wir dann trockenen Fußes zu einem der Boote gebracht, die dann um die vorgelagerten Inseln tuckern.

Und tatsächlich, da wackeln sie, die kleinen Pinguine. Viel kleiner als ich gedacht hatte und mit hängenden Kopf schwanken sie über ihre kleinen felsigen Inseln. Die Felsinseln ragen hoch heraus und oben drauf, auf der Wiese, sollen sie brüten und leben und kommen lediglich die schmalen Pfade zum Futtern nach unten. Manchmal ganz allein, oder zu dritt, je nachdem.

Ich bin schon etwas beeindruck, sind es doch die ersten Pinguine die ich sehe und tatsächlich leben sie nicht nur in der Antarktis, sondern auch schon viel weiter nördlich. Sie sind deutlich weniger agil als die ganzen Zeichentrick-Held*innen in den Kinos der letzten Jahrzehnte. Sie gelten übrigens als sehr neugierig und haben kaum Scheu gegenüber Menschen, sodass Annäherung auf wenige Meter sie in ihrem Lebensraum kaum beeinträchtigt.

Doch nicht nur die Pinguine genießen die Abgeschiedenheit hier. Auch eine Gruppe brauner Robben chillt in der Sonne und guckt uns ganz gelangweilt an. Vielleicht kennen sie das Boot schon zur Genüge, denn es kommt ja drei mal täglich. Uns werden noch weitere seltene Tiere gezeigt, wie z.B. Pelikane und eine graue Ente, wo ich aber schon vergessen habe, warum die so besonders ist.

Alles ist an dem Ort gut abgestimmt und sobald das Boot zurück am Strand ist, kommt auch schon der Bus, der den Großteil der Touris einsammelt. Ich entscheide mich aber für eine Wanderung in die Umgebung. Schnell erreiche ich einen höheren Punkt und erlange einen spannenden Ausblick über die kaum berührte Natur. Der einzige Weg ins Hinterland verbindet nur alle paar Kilometer einen Bauernhof, die Teils nur aus Wellblechverschlägen bestehen.

Nach einer guten Stunde erreiche ich die andere Seite der kleinen Halbinsel und setze mich vom Atem beraubt hin: Es ist die komplette Einsamkeit. Die Natur der Küste und ich. Niemand anderes. Die Küstenkordillere ist vom wilden Pazifik zu einer Steilküste abgearbeitet worden. Grün hügelt sich die Insel, begrenzt von dunkelbraunen Fels, schwarzen Kies-Strand und umspült von dunkelblauen Wasser. Es ist wie eine übergroße Malerei, die einem ermöglicht über Stunden immer neue Details zu entdecken. Noch lange beobachte ich, wie das Meer über die Felsen faucht und wie ein flüssiger Geist versucht, die Küste hochzuklettern. Immer wieder greifen die großen Wellen über die Felsen auf den Strand, rutschen aber dann doch wieder zurück ins Meer. Hier bin ich soweit weg von jedem Menschen, dass es vielleicht der beste Ort ist um zu Philosophieren, den Sinn der Reise zu diskutieren oder gar ein Gedicht zu schreiben.

Dieses könnte ich dann auf dem Rückweg den vielen Kühen, Pferden, Hunden, Schafen, Vögeln und Hühnern vorstellen. Am Traumstrand zurück, warte ich dann einfach auf den Bus und schaue den Bootstouranbieter*innen beim Federballspielen zu. Ihr Job bietet offensichtlich auch viel Freizeit. Irgendwann kommt der Bus. Dieser fährt direkt auf dem Strand entlang, durchquert ein breites Flussbett mit Anlauf und nimmt dann die Schlängel-Straße zurück nach Ancud.