Dez 25 2018

Auf den Spuren der Hauptstadt

Sucre, Bolivien

von Karl

 

Der Regen fällt erst langsam, aber entwickelt sich dann rapide zu einem ausgewachsenen Sturzregen. Endlich wird offensichtlich warum die vielen kleinen Bäche in viel zu breiten Flussbetten schlängeln. Bei Starkregen nimmt die sonnengetrocknete Erde kaum Wasser und schnell werden Bäche zu breiten Flüssen. Dem Lauf eines solchen Flusses folgend fährt mein kleiner Bus durch die ersten Vorortsiedlungen Sucres. Der verfassungsgemäßen Hauptstadt Boliviens. Die Regierungsgebäude sind zwar überwiegend in La Paz, aber gemäß Verfassung ist Sucre die Hauptstadt. Lediglich der oberste Gerichtshof und das Verfassungsgericht befinden sich in Sucre.

Von Potosí kommend passieren wir am Ortsrand ein unfassbar pinkes Schloss, dass innerhalb einer Militäranlage liegt. La Glorieta genannt. Eine der Belege für den unfassbaren Reichtum der in Potosí gemacht wurde, aber zu den Reichen wanderte die sich im klimatisch angenehmeren Sucre nieder ließen.
Durch den wellenweise kommenden Platzregen flüchtend erreiche ich meine Unterkunft, die eher einem Kloster ähnelt. Dicke Mauern mit unzähligen riesigen Zimmern, die sich um zwei Innenhöfe lagern. Sämtliche Details sind gefühlt uralt und auch die Holzdielen wurden schon vor Jahren repariert. Bis auf ganz wenige im anderen Innenhof, bin ich der einzige Reisende, der sich hier nieder lässt. Besonders nachts bekommt die Unterkunft den Flair eines Geisterfilms. Mich würde es nicht wundern wenn unter einem spitzen Schrei schwarze Fledermäuse von der religiösen Brunnenstatue im Innenhof bei Vollmond aufsteigen. Auch der einzige Angestellte ist oft nicht da, sehr demütig, zieht den einen Fuß hinter sich her und scheint mit der Behausung gealtert zu sein.

Ich bin dahin gekommen, da ich meine Unterkünfte auf einer bolivianischen Webseite finde, um die teureren, engen und immer gleichen Hostels nicht aufsuchen zu müssen. Zudem bin ich ja in Bolivien um Bolivien kennen zu lernen und nicht Europäer*innen.

Sucre

Das wohl beeindruckenste an Sucre ist die weiße Kolonial-Architektur. Ähnlich der in Potosí, nur deutlich weiter ausgebaut. Unzählige Gebäude sind gut erhalten. Der zentrale Platz in der Mitte ist schön übergrünt und zwei Kreuzungen entfernt gibt es den großen Markt mit all den Ernteprodukten die Bolivien zu bieten hat. Direkt am zentralen Platz liegt auch ein restauriertes Gebäude, dass über die Gründung Sucres informiert. Der Raum in dem die erste Verfassung verabschiedet wurde, ist zu besichtigen. Anfangs hieß das Land noch „Hoch-Peru“ und wurde erst später nach den Befreier Südamerikas Simon Bolivar benannt, der selbst nicht zur Gründung im Land war.
Dass es doch Backpacker gibt, sehe ich dann in einem Café, dass einen sozialen Anspruch formuliert. Nur welcher, bleibt unklar. Der Kaffee hat auch seinen Preis und geht über das Mittagessen auf dem Markt hinaus, dass ich zuvor zu mir genommen hatte. Dieses enthielt jedoch mehr als nur ein Getränk. Ein tiefer Teller Suppe und ein großer Berg mit Reis, Gemüße, Kochbanane und Kartoffel konnten mich glücklich machen. Zwei Welten, eine Stadt, fünf Minuten zu Fuß entfernt.
Am Rande einer Kirche gibt es einen weiten Platz, an dessen Rand sich ein schicker Blick über die Stadt ausrollt. Die roten Dachschindeln Sucres lassen sich von oben betrachten und sind unterbrochen von rechteckigen Betonbauten, die an den Ausläufern des Zentrums beginnen.

An den besagten Gerichten, die in pompösen Bauten untergebracht sind, beginnt auch ein langgezogener und gepflegter Park. Auch andere Straßenzüge sind verziert worden und es gibt mittig Gehwege mit Kunst und Bäumen. Auffällig sind auch die vielen Telephonzellen, die aussehen wir Dinosaurier.

Zufällig wohne ich einer Fahrschulübung bei, bei der eine abschüssige Straße abgesperrt wurde. Ein Polizist fährt mit dem Wagen den Parcours vor, während die Schüler*innen zuschauen.
Zu den gepflegten Sehenswürdigkeiten gehört auch der große Friedhof. Ältere Menschen, teilweise blind bieten hier Segnungen an. Sie legen teils die Hand auf dem Kopf oder sitzen einfach neben einen, während sie kirchliche Gebete runterrattern. Die Toten sind in kleinen Blöcken untergebracht, die in etwa so groß sind wie Mikrowellen. Oft mit irgendwelchen Verzierungen, Sprüchen, Kerzen und Blumen. Wie in Plattenbauten sind die einzelnen Mikrowellen-Wohnungen wie gestapelt. Ungefähr fünf übereinander, ein paar dutzend breit und vorder- und rückseitig.

Der Friedhof enthält auch einen jüdischen Teil, der allerdings abgesperrt ist und eine Erinnerungssäule an die vor den deutschen Faschismus ermordeten enthält. Weiter hinten werden noch berühmten Einwohner*innen gedacht, wie zum Beispiel dem Folklore-Singer Huascar Aparicio. Wenn ihr hier klickt, könnt ihr euch das Lied anhören, dessen Text am Grab steht.

Street Art in Sucre: „Du Bist nicht allein. Es gibt Feminismus“

Bei den Dinosauriern

Mit den kleinen Stadtbussen, Micros genannt, gibt es die Möglichkeit an den Ortsausgang zu fahren, wo hinter einer Betonfabrik eine Art Dinosaurier-Park sich befindet. Erlebnis-Park-mäßig begrüßen einen unzählige Dinos und dazugehörende Infotafeln die auf die Erdgeschichte hinweisen. Da die Dinosaurier schon vor über 65 Millionen Jahren ausgestorben sind, bis auf die Vogel-Dinos, geht es auch viel um Erdgeschichte. Das Besondere an dem Standort sind allerdings entsprechend alte Fußspuren verschiedener Saurier. Regelmäßig gibt es Führungen zu den Wänden mit den Fußspuren, welche wohl bald von der UNESCO geschützt werden. Noch läuft die Anerkennungsphase. Die Touris sind schon da.

Die entsprechende Wand ist riesig. Geschätzt mehrere Fußballfelder. Die Wand ist jetzt eine Wand, war aber mal ebenerdig. Zur Zeit der Dinos gab es noch nicht die Anden und an deren Stelle einen großen See, der von den Dinos aufgesucht wurde. Im Sumpfgebiet haben sie dann ihre Spuren hinterlassen. Erst später begann die Plattentektonik die Anden zu falten, die heute das zweithöchste Gebirge der Welt sind. Sodass jetzt der Eindruck entsteht, die Dinos seien die Wand hochgelaufen. Ihre Spuren zeigen wohl auch Sozialverhalten verschiedener Dino-Arten an.

die halbe Wand mit den Spuren, am Fuße arbeitet noch die Betonfabrik

Die benachbarte Betonfabrik arbeitet noch am Fuße der Wand. Sie waren es auch die die Spuren freigelegt hatten und nur weil ab da das Gestein nicht mehr zu gebrauchen war, haben sie aufgehört den Berg weiter ab zu tragen. Nun können Archäolog*innen die Spuren untersuchen. Weitere Sicherungsmaßnahmen sind in Vorbereitung.

Erlebnispark-Stimmung mit vielen Dinos; links im Hintergrund die Betonfabrik

Irgendwie ist es schon unglaublich, dass zig Millionen alte Spuren zu besichtigen sind. Es lässt sich ja nachvollziehen, dass in der Innenstadt kolonialzeitliche Gebäude zu besichtigen sind, aber die sind nur 200 Jahre alt … Aber 100 Millionen Jahre alte Fußspuren?


Dez 21 2018

Bröselnder Berg

Tupíza, Bolivien

Von Karl

 

Als die junge Sonne durch die beschlagenen Scheiben zu blinzeln beginnt, geht es für mich auch schon zu Fuß weiter. Ein paar hundert Meter durch die beschauliche Kleinstadt La Quiaca. Das Ebenbild einer Grenzstadt. Ein paar Unterkünfte überall. Geldwechselstuben. Viele Menschen mit Reisegepäck oder Waren. Andere mit besonderen Angeboten. Eine kurze Brücke überspannt den kleinen Bach und verlängert den Weg nach Bolivien. Nach Villazón.

Grenzfluss, links Bolivien, rechts Argentinien

Ein gutes Dutzend Wartender steht schon vor dem weißen Container der Migrationsbehörde. Diesmal bekomme ich eine andere Art Kassenbon in den Ausweis. Immer wieder was neues. Auf bolivianischer Seite dagegen meint der Eingangswächter, dass der Kassenbon zum Aufenthalt reiche. Ich bräuchte keinen bolivianischen Stempel.

Geldwechseln und weiter geht‘s. Es gäbe ein Zug der in Richtung Uyuni fährt, leider nur selten und leider zu ungünstigen Zeiten. Kleinbusse sind da schneller und günstiger. Sobald ich am Busbahnhof ankomme, fülle ich den letzten Platz im Kleinbus auf und schon rattert der alte Toyota raus aus dem Ort. Die Gegend wird deutlich trockener und wir schrauben uns durch die faszinierende Landschaft und immer auch bergan. Zurück in den Altiplano führt die Reise. Eine Hochebenen in den Anden, die große Teile Boliviens ausmacht und gut besiedelt ist.

Keine Stunde später kommt schon Tupíza, mein Tagesziel. Bevor die Stadt endgültig erwacht, kann ich schon den ersten Stadtspaziergang machen. Der zentrale Platz ist beeindruckend begrünt, obschon die Straßen von staubiger Trockenheit strotzen. Fein säuberlich wird der Sand beständig beiseite gefegt und die blühenden Pflanzen gehegt. Mit zärtlicher Liebe halten die Bewohner*innen die Stadt sauber und zeigen sich als höfliches Gegenbeispiel zu den doch oft vollgemüllten Ecken Boliviens.

Der Tourismus hat das Antlitz des Städtchen geändert, sodass es ein-zwei Straßenzüge mit den entsprechenden Angeboten gibt. Für mich ist leider keins dabei. Ich beginne das bolivianische Leben zu genießen und kaufe meine Sachen auf den Märkten, bis hin zu leckeren Mahlzeiten.

Der kleine Ort hat auch eine Art Hausberg, den Cerro Cruz. Eine Wanderung sollte nicht das Problem sein, so denke ich. Das entsprechende Schild am Straßenrand weißt auf einen Eingang, der übersät mit Müll ist. Der Aufstieg wechselt schnell ins sehr beschwerliche. Doch die größte Herausforderung bleibt der Berg an sich. Das rote Gestein erscheint zwar fest, ist aber sehr lose und zerbröckelt leicht in den Händen. Alles scheint nicht wirklich fest oder sicher zu sein. Das Klettern wird zum großen Risiko, weil doch hin wieder ein Stein wegrutscht, den ich vorher als fest eingestuft hatte. Starke Temperaturschwankungen zwischen einstellig in der Nacht und über 30 am Tag, haben das Gestein ganz porös gemacht. Es ist leider auch steil genug um weit genug zu falle. Und dann sind da noch die ganzen stachligen Pflanzen. Nach einer knappen Stunde sinnlosen Kampfes mit dem Berg, beschließe ich den Abstieg und – wie es so oft ist – finde ich sodann den eigentlichen Weg. Deutlich unbeschwerlicher geht es nun bergan. Leider fehlt es komplett an Beschilderung und so komme ich weitere Mal vom Weg ab.

Am dreckigen Gipfelkreuz angekommen, beginnt ein schöner Ausblick über die Stadt und deren Umgebung. Tupízas Umgebung hat eine Vielzahl von steinigen Erhebungen die in den verschiedensten Farben leuchten. Alle Farbtöne von rot, grau, gelb, grün sind gut vertreten. Es ist prächtig anzusehen und der Ort entspannt um ein wenig sich auszuruhen und zu genießen. Ein weiterer Berg im Rücken hat die Form eines Elefanten. Kein Witz. Die Stadt ist von einem Bach durchzogen der sich durch ein breites und trockenes Flussbett zieht. Es deutet sich an, dass zu anderen Zeiten der Bach auch deutlich anschwellen kann und dann die Größe eines reißenden Stroms erreicht.

Um halb Eins mache ich dann Photos vom Gipfelkreuz, weil gut zu erkennen ist, dass die Sonne im Zenit steht, das heißt im rechten Winkel zum ebenen Boden. Das ist mir noch nie begegnet in meinem Leben und ich habe extra öfters nachgeschaut um einen Ort und Tag zu finden. Nun ist es soweit.

Sodann erklimmt auch ein Australier den Berg, der wohl weitere einzige Mensch weit und breit, der sich diesen Berg antut. Wir lassen uns gemeinsam über den schlecht beschilderten Cerro Cruz aus und als wir an der Straße ankommen, merken wir, dass der Einstieg zum Berg gut zehn Meter hinter dem Schild ist. Er ist auch direkt am Schild eingebogen.

Manchmal bin ich einfach zufrieden, wenn ich nicht der einzige dumme bin.


Dez 19 2018

Bautis Welt und Familie

Salta, Argentinien

Von Karl

 

Benicio Bautista

Ich stelle kleine Plastik-Dinosaurier auf. Das ist meine Aufgabe, sie wurde von Benicio bzw. Bautista für mich vorgesehen. Vielleicht fünfzig Stück. Große und kleine, ruhige und aggressive, ja die ganze Bandbreite der allgemein bekannten Dinos. Bautista ist vier Jahre und stellt Plastik-Soldaten auf. Die meisten direkt gegenüber und andere kreisförmig um meine Dinos herum. Als wir nun alle aus den Eimerchen ausgeschütteten Figuren auf den Teppich mit bunten Häusern und Straßen aufgestellt haben, stellt er sich daneben und imitiert Schussgeräusche. Nach und nach wirft er Dinos von mir um.

Ich find‘ ja Kriegsspiele nicht ganz so lustig und frage ihn warum er das macht. Hat er in einem Film gesehen, sagt er. Kurz hält er inne, aber dann geht‘s weiter. Nagut, denke ich, dann mach ich was anderes. Als er mir aber folgt, merke ich erneut, dass er gern mit mir spielen möchte. Vorher hatte er mir Spielzeugwaffen angeboten, aber auch die hatte ich schon nicht genommen. Er versteht nicht, dass ich nicht mag.

Der vierjährige Junge mit seinen kurzen schwarzen Haaren ist der Sohn von meiner Couchsurferin. Darf ich vorstellen: Daiana, Mitte 20zig, immer schick gekleidet, Kümmerin, liebevolle Mutter, gesprächig und für jeden Spaß zu haben. Sie haben mich in ihren geräumigen Haus aufgenommen. Gerade stellt sie einen Teller mit Spaghetti für jede*n auf den Tisch. Benicio isst nur ein wenig und springt schon wieder rum. Daiana nimmt das gelassen. Generell bin ich beeindruckt mit welcher Gelassenheit sie ihn lässt und liebt. Dagegen sind deutsche Stille-Sitzen-Befehle reinste Diktatur.

In Südamerikas Welt, so mein Eindruck, gibt es viele Regeln für Kinder nicht, die viele in Deutschland für absolut wichtig finden. Aufessen, um 8 im Bett, immer artig sein, etc. Die Menschen hier, die daraus werden und denen ich begegne sind trotzdem freundlich und zuvorkommend. Vielleicht weniger autoritätsgläubig. Es ist eine reine Vermutung von mir, dass die weniger autoritäre Erziehung auch zu mehr Selbstständigkeit führt. Beispiel: Polizist*innen werden als normale Menschen betrachtet und wenn mir die Anweisung nicht gefällt diskutiere ich halt und widersetze mich. Ganz normal eben. Wenn kein weiteres Auto an der Kreuzung steht, dann kann ich auch bei Rot fahren. Wo kein Richter da kein Henker. Mir gefällt‘s und ich frag mich, ob wir unsere deutsche Über-Strenge wirklich brauchen und wir nicht zu viele autoritäre Charaktere formen.

Nun kommt er mit Jenga an den Tisch und wir beginnen dieses Spiel. Doch nach 10 Minuten ist dafür die Konzentration weg. 20 Minuten später räumt Daiana es wieder zurück. Ich versuche es mit Kartentricks. Er scheint noch zu jung zu sein, wiederholt meinen Trick mit eigenwilliger Interpretation bei mir. Manchmal sind die bunten Bilder auf den Karten aber dann doch noch interessanter.

Benicio Bautista hat übrigens zwei Vor- und zwei Nachnamen (hispanoamerikanische Namensgebung). Das ist völlig üblich. Meist vergeben beide Elternteile je einen Vornamen und ihren ersten Nachnamen weiter. Für mich war es anfangs verwirrend, dass er sowohl Benicio als auch Bauti gerufen wurde. Gegen 14 Uhr muss er in die Kita, hat zwar erst kein Bock, aber dann gehen die beiden doch. Kurz darauf kehrt Daiana zurück und isst seine Spaghetti.

Daiana wohnt am Stadtrand von Salta, einer Großstadt im Norden Argentiniens und Hauptstadt der gleichnamigen Provinz. Halbe Million Menschen leben hier und machen Nachmittags Pflicht-Siesta. So wird sie mir vorgestellt. Am Wochenende ist Bauti bei seinem Vater und Daiana hat Zeit für sich. Sie zeigt mir viel und ist die Bilderbuch-Gastgeberin. Sie kennt mein Profil auswendig und nimmt sich viel Zeit mir ihre Stadt zu zeigen. Das ganze Wochenende. Zudem lerne ich einige Familienmitglieder kennen – ihrer Aussage nach nur einen kleinen Ausschnitt – für mich allerdings wäre es schon eine vollständige Familie. Dazu kommen einige Freund*innen, aber jetzt langsam und von vorn.

Daiana

Ich versuche zu ergründen was ihre Arbeit ist und öffne eine leidenschaftliche Seite von ihr. Körper-Ästhetik studiert sie. Jups, hab ich auch noch nie gehört. Ihr Ziel ist es, mal ein Studio aufzumachen, wo menschen hinkommen können und beraten werden, wie sie ihre Ästhetik-Vorstellungen an sich selbst umsetzen können. Ich bin naturgemäß skeptisch: Es gibt ja auch ein Bild von Schönheit in der Gesellschaft. Kommt es vor das Menschen mit Bildern von Stars kommen und genau so aussehen wollen?

Ja leider, meint sie, aber das wäre kein Ziel ihrer Arbeit. Viel mehr sei es entscheidend die persönlichen Vorstellungen und Möglichkeiten weiterzuentwickeln. Ansätze gibt es viele. Das kann auch einfach eine Ernährungsberatung sein.

Selbst ist sie übrigens weitgehend vegetarisch unterwegs, was mein Leben deutlich entspannt und wir gemeinsam kochen können.

Sie stärkt das Bild von einer individuellen Schönheit. Innerer Applaus brandet in mir auf und ich muss schmunzeln.

Gibt es Menschen, die gerne ihre Hautfarbe ändern möchten, dunkler zum Beispiel?

Ja, die gibt es. Die meisten möchten hellere Haut und greifen auf ätzende Cremes zurück. Das empfiehlt sie aber überhaupt nicht. Sie schaden mehr als dass sie helfen.

Unter der Woche geht sie zum Studieren. Gegen 17 Uhr geht‘s los und natürlich wird während des Unterricht gemeinsam Mate getrunken. Und Süßes gegessen. Ein Körper-Ästhetik-Seminar mit Süßigkeiten. Wie geil ist das denn!

Ihr Einkommen kommt aus einer Arbeit am Wochenende, wo sie Empanadas verkauft. Diese endet meist auch früher, weil wenn alle verkauft sind, dann macht der Laden dicht. Angeblich kommen auch schon frühs um 9 Uhr Menschen, die dann Empanadas und Wein ordern. Ich kann‘s mir nicht so richtig vorstellen.

Bäche und Ausblick

Im Nachbarhaus mit selben Eingang und gemeinsam genutzten Auto, wohnt die Schwester. Auch sie ist schwer interessiert an meinem Leben, und hat natürlich Mate dabei. Zu dritt fahren wir zu einem Hügel hinter dem Rand der Stadt. Pferde und Schafe stehen seelenruhig neben uns, während wir auf das ferne Salta und die grüne Hügellandschaften blicken. Hinter dem Berg beginnt die Sonne sich abzusenken. Ein einsam-schöner Ort.

hinten rechts: Salta, vorne rechts: Daiana

Dagegen ist der Flusslauf den sie mir dann zeigt etwas beliebter. Ruhig plätschert das Wasser dahin und wir setzen unsere Gespräche fort. und je länger sie andauern, desto stolzer bin ich, dass ich auf noch nicht eine Vokabel Englisch zurückgreifen musste. Die Mühen machen sich langsam bezahlt. Auch dass mein Spanisch verstanden wird baut mein Selbstbewusstsein auf.

Die Straßen Argentiniens sind gesäumt von einem lila-blühenden Baum. Irgendwie macht er jede Allee noch einen Tick schöner. Sein Name ist Jacaranda, wie ich nun herausfinden konnte. Als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist, fahren wir auf den Hügel San Bernardo. Für mich wäre es ein Berg, aber für Südamerikaner*innen nur ein Hügel. Daiana ist ganz verwundert, dass wir in Deutschland Berge schon ab 500m Höhe als Berge bezeichnen. Das ist hier allenfalls Strand oder Küste, höchstens ein Deich. Die Anden sind Berge und sie erklärt mir, dass es verwirrend findet, dass ich alles als Berge bezeichne, was wir sehen. Es seien nur Hügel. So auch der San Bernardo, der auch durch eine Gondelbahn erreichbar ist. Tags und – etwas schöner noch – Nachts bietet er einen wunderbaren Blick auf die Stadt Salta. Nachts wenn die Straßenlaternen ein Netz ausbreiten. Unzählige Lichterketten.

Tagsüber ist ein komplexes System an kleinen künstlichen Wasserfällen und Wasservorhängen auf dem Berg – äh sorry – Hügelchen zu bewundern. Wir unternehmen rein deswegen eine Fahrt mit der Gondel, die auch historischen Wert besitzt. Ein Fußweg führt durch den dichten Wald runter an den Rand der Stadt.

Salta

Die Innenstadt hat erneut einen Hauptplatz mit vielen Bäumen, umsäumt von kolonialen Gebäuden. An der Ecke gibt es die besten Empanadas, so Daiana, sodass unsere Mittagspause genau dort stattfindet. Klein aber fein, muss ich ihr recht geben, sie weg zu werfen müsste unter Strafe stehen. Drei Türen weiter gibt es das „Archäologische Museum des Hochgebirges“. Hauptattraktion sind die drei Kinder die als Mumien auf dem Vulkan Llullaillaco gefunden worden, der im Grenzgebiet zu Chile liegt. Gut fünfhundert Jahre sind die drei alt und wurden zusammen mit zahlreichen Beigaben geborgen und nach Salta ins Museum gebracht. Dort ist abwechselnd immer ein Kind zu sehen. Als ich drin war, ist grad der Junge ausgestellt. Tatsächlich ist die Mumie als zusammen gekauertes Kind gut zu erkennen, auch wenn er etwas geschrumpft ist. Es soll der archäologisch höchste Fund der Welt sein. Sogar Coca-Blätter hatten die drei dabei. Ihre Beigaben sind auch im Museum ausgestellt und umfassen vor allem kleine filigrane Puppen. Erst dachte ich, dass mich diese Ausstellung nicht so sehr interessiert, aber als ich dann der Mumie gegenüberstand, lief es mir schon kalt den Rücken runter. Nun kann ich mir vorstellen, warum Archäologie für manche so spannend ist.

Die angrenzenden Straßen zeugen dann nur vom normalen geschäftigen Leben einer Stadt und bieten keine Neuerungen. Für mich spannender ist das normale Leben am Rande der Stadt. Trotz Lage ist die Verbindung zum Zentrum sehr gut, weil Salta eines der besten Bussysteme hat. Es fahren viele Busse zu günstigen Preisen, und selbst in der Nacht kommt spätestens alle halbe Stunde ein Bus.

In ihren Viertel, Santa Ana, oder kurz Santana, sind die meisten Straßen nicht geteert und die Häuser noch nicht so alt. Die Gegend ist ruhig und in jeder dritten Straße gibt es einen kleinen Laden oder Stand mit allerlei Obst und Gemüse. Ein chinesischer Supermarkt liegt etwas weiter entfernt. Daiana ist Sparfüchsin und weiß wo es welches Angebot gibt. So verteilen sich unsere Einkäufe im Viertel.

Viertel Santa Ana, Salta

Nachtleben

Freitag ist Pizza-Tag. Da gibt es keine Ausnahme und natürlich holen wir den Fertig-Boden von der Oma ab. Sie mache die weltbeste Pizza, sagt Daiana. Die Oma kenne ich schon. Weil sie näher am Busbahnhof wohnt, haben wir uns bei ihr getroffen. Dort treffe ich auch die Tante, die mit der Oma das Haus teilt. Ich muss gestehen, die Oma hat‘s drauf. Wir haben zwei Pizzen zubereitet, sind randvoll, aber überlegen noch wegzugehen. Während ich kurz im Wohnzimmer warte, schlafe ich ein und träume, wie ich gegen das Einschlafen ankämpfe. Erst als Daiana mich weckt, stelle ich fest, dass ich nicht wirklich gegen das Einschlafen ankämpfe, sondern tatsächlich schlafe.

Nächster Tag, neuer Anlauf. Mit einer Reihe Freundinnen fahren wir in das entsprechende Ausgeh-Viertel. Ein paar Straßen werden des Nachts abgesperrt und sind dem Nachtleben vorbehalten. Wir stellen uns vor einen Schrank, der den Einlass regelt. Tröpfchenweise lässt er uns in die Dunklen Hallen treten. Einzig als Mann muss ich Eintritt bezahlen. Der Vorraum bietet noch ein Bierchen, und dann vorbei an den Lollipop-Verteilerinnen ab in die Zappel-Höhle. Der riesige Raum bietet allerdings noch nicht viele Tanzende und der VIP-Bereich bleibt noch leer. Es gibt tatsächlich eine Art übergroße Bühne für die VIP-Gäste. Wie vermutlich überall in der Welt sind in dem Bereich Kontakte immer wichtig. Daianas Freundin kennt irgendjemand der für alle günstig Getränke organisieren kann. So wird der Abend lustiger und so langsam kann gezappelt werden. Zu meiner Überraschung geht um 4 Uhr die Musik aus.

Saltas Polizei, so wird mir gesagt, ist wohl sehr hinterher, dass alle Bestimmungen eingehalten werden. Bislang war Argentiniens Nachtleben eher dafür bekannt, dass es spät losgeht und lange andauert. Es gibt Bars und Schuppen die Anschlussangebote machen und in manchen Städten kann bis 14 Uhr weiter gefeiert werden (kein Scherz!).

Ich nehme den Bus nach Santa Ana und als ich am Eingangstor bin, flüchte ich vor dem Sonnenaufgang in das dunkle Zimmer und mein Bett.

Am Sonntag abend kommt Benicio zurück. Wir sind zu einer Bar gefahren, wo es handgebraute Biere gibt, aber Daiana verabschiedet sich schnell um ihren Sohn in Empfang zu nehmen. Ich verbleibe mit ihren Freund*innen in der Bar und wir gönnen uns weitere leckere Biere. Parallel spielen wir Riesen-Jenga. In einer Runde schaffen wir es soweit, dass wir auf den Stuhl klettern müssen, um oben die Steine erneut abzulegen.

Dann fahren wir noch zu einem der Freunde nach Hause und beginnen zu diskutieren und Bier aus Plastikflaschen zu trinken. Santiago Maldonado, Fußball, Jair Bolsonado, Merkel und das argentinische Schulsystem, wir lassen kaum was aus. Dann packt es mich wieder und ich muss stänkern.

Ich verstehe nicht warum Argentinien glaubt die Falkland-Inseln seien ihre, sag ich und schon ist die Bombe gezündet. Ich hoffe insgeheim, das besser verstehen zu können. Meine beiden Gesprächspartner*innen wollen am liebsten beide sofort kontern. Aus linker Perspektive sei die Rückgewinnung ein Kampf gegen den Kolonialismus. Das erschließt sich mir leider nicht. Ich bringe die Abstimmung an, doch hier wird eingewandt, dass Großbritannien ja viel Geld investiere und die Stimmen im Prinzip gekauft seien. Ganz so einfach sehe ich das zwar nicht, aber nun gut, ich will mich nicht absolut unbeliebt machen. Ich wende ein, dass die Inseln dem erdgeschichtlichen Ursprung nach von Südafrika kommen und nie Teil Südamerikas waren. Dem gegenüber steht eine Entscheidung einer UN-Kommission, die festgestellt hat, dass die Inseln noch innerhalb des argentinischen Festlandsockels lägen und damit deren Hoheitsgebiet entsprächen. Naja, wir werden‘s niemals erfahren, wer recht hat.

Der 50-argentinische-Pesos-Schein zeigt die Falkland-Inseln

Als ich ziemlich spät an Daianas Haus ankomme, muss ich, da mein Klopfen vergeblich ist, einen Weg nach Innen finden. Da aber das Fenster einfach aufzuschieben geht, brauche ich keine zehn Minuten um ins Bett zu fallen.

Abschied

Da mein Bus um Mitternacht abfährt, verbringe ich den Abend im Kreise der Familie bei der Oma und Tante. Sie hat Tortilla gemacht, dass heißt eine Riesen-Pfanne mit Ei, Kartoffeln und allerlei Gemüse. Dazu Rotwein und selbstgemachte Empanadas. Ein Schlemmen und nun lerne ich noch den Onkel vom Theater kennen.

Ich erfahre von Daiana einiges über die Weihnachts– und Neujahrs-Traditionen, die beides Mal im großen Kreis der Familie mit viel Essen und Trinken stattfinden. Vorsingrituale, Geschenke unter Erwachsenen, den Nikolaus oder Weihnachtsmann, das gibt es alles nicht. Es sind zwei Familienfeste. Die Unterhaltung schließt mit der ernsten Einladung mein Weihnachten bei Ihnen zu verbringen. Ich bin etwas gerührt und sage nur, dass ich ja weiterreisen werde, aber wenn es nicht schön ist, dann komm ich einfach zurück.

Der Onkel bringt mich noch zum Bus – und wie es hier üblich ist – nur kurz vor knapp. Sechs Minuten vor der Abfahrt verabschiede ich mich vom Onkel und später noch sehr herzlich von Bauti und Daiana.

Es sind die Abschiede auf der Reise, die immer wieder kommen, wo ich hilflos dastehe und mich frage, was habe ich ihnen eigentlich gegeben und wie kann ich – verdammt nochmal – angemessen klar machen, wie dankbar ich doch bin.

Ich schaffe es wieder nicht und sitze traurig im Bus. Traurig, dass ich Salta verlasse, aber auch traurig, dass ich nicht angemessen Danke gesagt habe.


Dez 15 2018

Million unterm Blätterdach

Mendoza, Argentinien

Von Karl

 

Als ich aufwache und aus dem Fenster schaue, sehe ich wieder die weiten Flächen mit ihren grünen Sträuchern und Bäumen. Ab und zu kommt ein Feld. Doch mitunter mischen sich auch Weinfelder dazwischen, was meine unmittelbare Ankunft in Mendoza anzeigt, weil die gleichnamige Provinz landesweit berühmt für ihren Wein ist. Je näher wir der Großstadt kommen, desto deutlicher treten auch die Anden dahinter in Erscheinung. Direkt auf der anderen Seite der weißen Gipfel liegt Santiago de Chile und dazwischen liegt der höchste Berg außerhalb Asiens, der Aconcagua. Mendoza ist wohl Ausgangspunkt für dessen Besteigung, welche allerdings zwei bis drei Wochen dauern.

Was schnell auffällt, wenn mensch in Mendozas Straßen wandelt, sind die vielen Alleen. Es gibt so gut wie keine Straße, die nicht mit Bäumen begrünt ist. Mauro, mein Gastgeber, erklärt mir, dass für das Fällen Strafen verhängt werden. Mauro bewohnt eine kleine saubere Wohnung im wohlhabenden Westen der Stadt. Er ist noch ganz fertig von dem Trinkgelage am Vorabend, sodass ich relativ schnell die Wohnung übernehme. Wo ich auch gerne bin, da es tagsüber schon locker über 30 Grad werden und seine Wohnung ist klimatisiert. Wir sind uns sogar einig, kältere Temperaturen sind schöner. An den nächsten Tagen zeigt er aber seine krassen Kochkünste und wir diskutieren viel.

Kochkunst a la Mauro, dahinter frische Empanadas, die hier gewöhnlich als Dutzend („Docena“) verkauft werden

Dauerbrenner in Argentinien ist seit einiger Zeit die Abtreibungsdiskussion. Es gibt eine breite Bewegung die ein Recht auf kostenlose und legale Abtreibung fordert. Bislang ist nur in bestimmten Fällen, wie z.B. nach einer Vergewaltigung oder wenn Gefahr für Kind oder Mutter besteht, die Abtreibung erlaubt. Endgültig entscheidet aber dies immer noch eine andere Stelle, die, wenn ich das richtig verstanden habe, auch kein*e Mediziner*in ist. Sie kann also trotz Gefahren oder Vergewaltigung die Abtreibung verbieten. In Trelew, in der Provinz Chubut, haben sich erst vor wenigen Wochen 50.000 Frauen zu einem jährlich stattfindenden Kongress getroffen, wo es vor allem um die Forderung nach der Legalisierung ging. Am Rande kam es zu Ausschreitungen und eine Kirche wurde angezündet. Denn die katholische Kirche ist für das Abtreibungsverbot. Seitdem haben viele Frauen in Argentinien das grüne Halstuch als Protestsymbol und ich habe das grüne Halstuch sehr oft auch im Alltag gesehen. Ein erster Versuch der Legalisierung ist am Senat gescheitert. Die Abgeordnetenkammer, die landesweit gewählt wird, hat dem Gesetzesentwurf bereits zu gestimmt, aber der Senat, der aus von den Provinzen entsandte Senator*innen besteht, hat diesen abgelehnt. Angesichts der breiten Unterstützung der Bewegung halte ich es aber nur für eine Frage der Zeit, dass auch in diesem Bereich die Frauen ihre Selbstbestimmung erlangen. Damit würden sie sogar Deutschland überholen. Eine interessante Rolle spielen dabei auch die Medienberichte. Als ich zufällig Nachrichten sah, kommentierte der Sprecher die feministische Bewegung als „Feminazis“. Das ist ein von den Gegner*innen gewählter Ausdruck um die Forderungen als zu hysterisch, übertrieben, verbohrt, etc. abzuwerten. Er verwendet den Ausdruck als sei es die normale Bezeichnung für die Feminist*innen. Das ist dann wohl nicht mehr die objektive Berichterstattung.

Schnell verliebe ich mich in das Stadtbild mit den vielen Bäumen. Sie machen diese Stadt sehr lebenswert und schützen die Gehwege vor der intensiven Sonne. Eine Stadtführerin erklärt mir, dass sie im Sommer nicht empfiehlt nach Mendoza zu kommen. Tatsächlich ist der Gran Chaco, also die nördliche Region Argentiniens, der Hitzepol Südamerikas und weißt Temperaturmessungen von über 40 Grad auf.

Ein guter Ort gegen die Hitze und für eine Siesta ist auch der Parque San Martín im Westen der Stadt. Der ist tatsächlich sehr groß angelegt mit einem See und einen Hügel, von dem aus über die Stadt geschaut werden kann. Diese jedoch hat durch die vielen Bäume ein ganz anderes Gesicht und mensch könnte denken, es ragen nur ein paar Gebäude aus dem Wald hervor. Dabei lebt da knapp eine Million Menschen. Parks in Städten gibt‘s ja viele, aber einen so großen, dass für Lauf- und Rad-Einheiten Auswahlmöglichkeiten bestehen, soweit schaffen es die wenigsten.

Parque San Martín

Mauro ist etwas feinfühliger als ich und fragt mich ob ich das Erdbeben vor 10 Minuten mitbekommen hätte. Online lässt es sich verifizieren, es gab tatsächlich eines. Aber ich hab‘s bei besten Willen nicht mitbekommen. Ich bin schon etwas enttäuscht, denn ich hab noch nie ein Erdbeben erlebt …

Eigentliches Standbein der Region ist nicht der Wein, sondern das Erdöl. Davon bekommt mensch aber in Mendoza nicht so viel mit. Größere Erdgas-Vorkommen Argentiniens haben auch dazu geführt, dass es in den südlichen und kälteren Regionen die Häuser mit Gasheizungen ausgestattet sind. Aber meist dann doch nicht in jedem Zimmer, sondern im wichtigsten Zimmer mit einem einzelnen Heizkörper. Wer übrigens eine typische Rebsorte aus Argentinien beziehungsweise Mendoza probieren möchte, sollte nach Malbec Ausschau halten. Sie ist wohl sehr fruchtig würzig. Wein wird von allen Gesellschaftsschichten getrunken, bis hin zu den Alkoholabhängigen gescheiterten Seelen der Straße. Es ist günstiger als Bier zu trinken.

Ein weiteres Kuriosum, was ich mal niederschreiben möchte, ist der Cannabis-Konsum. Gefühlt fast jede*r in Chile und Argentinien konsumiert und einige bauen auch an. Es ist nirgends legal, aber es gibt auch so gut wie keine Kontrollen. Selbst im Freien wird gern eine Tüte gedreht und solange mensch nicht direkt vor der Polizeiwache dies tut, gibt es auch keine Probleme. Jede Stadt verfügt deshalb auch über die entsprechenden Grow-Shops.

Was nun aber Mendozas absolutes Kuriosum ist, ist die Straßenbahn. Es gibt tatsächlich eine einzige Linie, die mit roten Wagen verkehrt und „grüne Linie“ heißt. Mauro versteht meine Verwunderung nicht so sehr. Ich dagegen frag mich ob es zu weit weg ist um es als „realer Irrsinn“ bei Extra 3 vorzuschlagen.


Dez 3 2018

Eine Reise in sechs Akten

Von Karl

 

So manche*r wird staunen und neunmalklug behaupten: Ein Theaterstück hat doch nur 3, 4 oder 5 Akte. Tjaaa, dann lest das folgende Stück. Vorhang auf:

Akt 1: Castro → Quellón

Kurz nach meiner Rückkehr in Castro bekomme ich eine Rückmeldung für meine nächste Unterkunft. Es soll nach Esquel in Argentinien gehen. Das ist nicht so weit, denke ich.

Ich war tags zuvor bei der Fährgesellschaft Naviera Austral und habe meine Überfahrt von der Insel Chiloé zurück auf das Festland geplant. So habe ich erfahren, dass meine angestrebte Überfahrt von Quellón nach Chaitén nur an zwei Tagen in der Woche möglich ist. Einmal legt das Schiff am Donnerstag um 3 Uhr in der Nacht ab und das andere mal am Sonntag um 18:30 Uhr. Beides ist doof, weil kein Bus von Castro in der Nacht nach Quellón fährt und wenn ich 18:30 abfahre, dann bin ich Mitternacht in Chaitén. In dem Dorf fährt zu der Zeit dann sicherlich kein Bus. Die Überfahrt dauert vier bis fünf Stunden.

Von Castro aus gibt es zur Zeit keine Fähre. Ich war schon in Puerto Montt in dem Büro von Naviera Austral und habe zudem den Eindruck bekommen, dass sich die Pläne hier wohl regelmäßig ändern. Das bestätigen auch die Hosts und schimpfen auf die sich ständig ändernden Pläne. Es werden auch längere Fähr-Strecken angeboten, die bis in den äußersten Süden Chiles reichen. In Castro bin ich gefühlt der erste der überhaupt ein Ticket gekauft hat. Vielleicht stellt mir die Fährgesellschaft auch einfach ein Ruderboot hin und sagt, mache selbst. Die Einheimischen nehmen den Bus über Puerto Montt, der dann in Hornopirén auf die Fähre fährt. Die Strecke soll landschaftlich sehr reizvoll sein. Manche nehmen auch kleine Flugzeuge, die aber oft wegen dem Wetter ausfallen oder starke Verspätung haben.

Ich habe mich für die nächste Fähre entschieden, die überhaupt abfährt und das ist schon diese Nacht um 3 Uhr. Der letzte Bus fährt um 21 Uhr ab, sodass ich diesen dann auch nehme. Die Dunkelheit bricht über Castro ein, als sich der Reisebus auf der Straße nach Quellón herauswindet. Gut eineinhalb Stunden ist dieser unterwegs und direkt beim Busterminal ist auch schon der Anleger. Spärlich ist die Stadt erleuchtet und der kalte Seewind dringt in die Klamotten. Ein völlig Betrunkener torkelt an mir vorbei und vervollständigt, ohne es zu wollen, das Bild einer heruntergekommen Hafenstadt. Sicherlich gibt es um die Ecke die düstere Kneipe wo bärtige alte Männer literweise Bier trinken und so laut und tief lachen, dass die Holztische beben.

Es steht eine Fähre bereit und es ist mächtig Betrieb. LKWs rollen hin und her und einige stehen mit Sack und Pack am Anleger. Als diese dann auf den Kai gelassen werden, frag ich nach, aber diese Fähre ist noch nicht meine. Mir wird ein Aufenthaltsraum in einiger Entfernung empfohlen.

Tatsächlich, Naviera Austral hat ein eigenes großes Büro mit großem Aufenthaltsraum, der mit einem Ofen gut geheizt ist und es läuft mal wieder eine ins Spanische übersetzte Schnulzen-Serie, Made in Türkei. Ich hab zwar noch nie darüber geschrieben, aber tatsächlich habe ich schon wartend viele Folgen dieser türkischen Serie gesehen. Es ist die typische Abendberieselung die ihr auch aus dem deutschen Fernsehprogramm kennt. Beziehungsdramen halt.

Das Warten ist ansonsten wenig spektakulär und ich schlaf auch ein wenig.

Akt 2: Quellón → Chaitén

Eine gute Stunde vor Abfahrt kommt Unruhe unter die Wartenden und wir machen uns nach und nach auf den Weg zum Anleger. Gut hundert Meter einsamer Beton, dann geht die Rampe nach unten und der Ausleger der Fähre beginnt. Das kalte nasse Seewetter erfüllt meine Lunge mit Glück. Ja, Seefahrtsromantik kommt wieder auf. Nicht alle mögen‘s verstehen, aber jedes Mal wenn ich ein Boot betrete, ja, dann werd‘ ich zum Dichter.

Es wartet eine Fähre, die der von der frühen Nacht gleicht. Zum Glück kein Ruderboot. Die RoRo-Fähre ist ziemlich klein im Vergleich zu denen die in Calais, Dover, Travemünde oder Warnemünde abfahren, aber doch um einiges größer als die Auto-Fähren auf den Priwall oder die zwischen Kleinzschachwitz und Pillnitz. Zwei Dutzend Fährzeuge können über die Heckluke auf das einzige Deck mit drei Spuren fahren und nach dem Anlegen über die Bugluke geradewegs abfahren.

Über Außentreppen geht es in das Passagierdeck, was aus hunderten Busstühlen und einer Cafeteria besteht. Eigentlich haben sich fast alle immer drei Sitze nebeneinander geschnappt und hingelegt. Dem Beispiel folgend und der Tatsache geschuldet, dass in der Dunkelheit nix zu sehen ist, leg ich mich auch hin, mach mir den Wecker an, damit ich ja die Einfahrt und den Sonnenaufgang nicht verpasse.

Wie beschreib‘ ich den Sonnenaufgang nur richtig … Sagen wir mal so: Es war ein Qualitäts-Sonnenaufgang der von der Stiftung Warentest die Note Sehr Gut (1,0) bekommt. Ohne Witz, es ist unvorstellbar. Aus dem spiegelglatten Meer ragen die Anden gen Himmel, die bis in winterliche Höhen vorstoßen. Die Sonne geht hinter diesen auf und wirft orange Strahlen durch die Spalten und schafft harte Rahmen um die Gipfelkette. und nun noch alles in 3D, weil manche Berge weiter vorne stehen im Vergleich zu anderen. Der Himmel ist klar und die seltenen Wolken spielen mit den Bergen. Manche Wolke ergänzt den Berg und lässt ihn wachsen und andere spiegeln das orange auf ihren weiß-grauen Bauch. Das noch nachtschwarze Wasser hat eine goldene Schicht bekommen, die auf ihr schimmert, als wenn der goldene Morgen an der Oberfläche kondensiert wäre und nun wie Öl darauf schwimmt. Hach, einfach schön …

Nicht lange nach dem Sonnenaufgang fährt die Fähre wieder in den Schatten der Berge und erreicht den Anleger von Chaitén. Dieser liegt keinen Kilometer vom Ortseingang entfernt. Das Festmachen scheint nicht so einfach zu sein, weil es keinen klassischen Kai gibt und die Poller sind irgendwo in den Felsen verankert. Nun sehe ich auch, dass wirklich nur eine handvoll Fahrzeuge an Bord sind. Es sind ausschließlich Reisende, d.h. Bullis, Geländewagen oder Reisebusse. Die gut Fünfzig Passagiere verteilen sich darin oder wandern an Land.

Anlegemanöver in Chaitén

Dort wartet ein Bus, doch irgendwie scheint es mir nicht gerechtfertigt für einen knappen Kilometer Geld auszugeben. All die Rucksackreisenden nehmen aber den Bus und kommen nur kurz vor mir im Ort an. Wo sie aber verbleiben, ist mir ein großes Rätsel. Sie tauchen nicht wieder auf. Noch später frag ich mich, was sie eigentlich vor hatten und wie sie das bewerkstelligt haben.

Akt 3: Chaitén → Villa Santa Lucía

An dem Busbahnhof oder besser gesagt Reisebüro-Häuschen angekommen warten schon schon ein älteres Pärchen und ein junger Rentner. Das Paar will auch nach Argentinien und der alte Mann in den nahen Nationalpark. Der Mini-Busbahnhof wird nebenan gerade gebaut.

Wir warten, denn das Häuschen ist noch geschlossen. Der Mann fragt die Arbeiter nebenan und offensichtlich macht der Betreiber auf, wie er lustig ist. Öffnungszeiten sind ja eh relativ. Doch mein Mit-Wartender findet zwei weitere Einheimische die durch Anruf den Verantwortlichen wecken und nach eine guten halben Stunde kommt ein Mann mit grauen und wuscheligen Haaren und breiten Grinsen angeradelt.

Wir werden freundlich eingeladen und all unsere Fragen beantwortet. Ich habe Glück. Zwei Mal die Woche fährt ein Bus nach Futaleufú, der nächste und letzte Ort vor der Grenze, und heute ist so ein Tag. Um 12 Uhr von der Tankstelle geht es los. Angesichts der Entfernung ist mir das aber zu spät. Ich muss ja noch viel weiter, von Futaleufú aus. Ich hab mit mehr Verkehr gerechnet. Schlimmer aber: Von Futaleufú fährt heute vermutlich kein Bus mehr nach Esquel. Er ist sich nicht hundert Prozent sicher, aber er meint, heute nicht. Ich hab keine Wahl. Ich muss bis zum Abend ankommen.

Nun also die Notfalllösung, aber auch irgendwie das, was ich schon länger mal ausprobieren wollte: Con Dedo? Mit Daumen?

Ja, meint er, das geht bestimmt. Einfach am Ortsausgang, beim Friedhof, da ist ein super Ort zum Trampen. Chaitén ist ja ziemlich klein und ich treff‘ den jungen Rentner wieder. Ein, zwei, drei, maximal vier Fahrzeuge würde ich warten. Das ist ganz normal hier. Viele würden Trampen.

Das motiviert. Natürlich ist es nicht mein erster Tag hier, um zu wissen, dass ich nicht nur vier Autos warten werde. Naja.

Chaitén ist übrigens deswegen so klein, weil erst 2008 der gleichnamige Vulkan ausbrach und große Teile des Dorfes zerstörte. Der Vulkan wurde vorher als erloschen eingestuft und brach völlig überraschend aus. Die Einwohner*innen wollten aber ihr Dorf nicht aufgeben und mittlerweile wohnen wieder mehrere tausend Menschen dort.

Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, … naja ich hab aufgehört zu zählen. Autos kommen und gehen. Nur anhalten tut keines. Beruhigend, dass ja irgendwann der Bus kommt. Viele Fahrer*innen machen irgendwelche Handzeichen, die ich so deute, dass sie nicht Chaitén verlassen, sondern vorher abfahren. Es gibt zwar nur noch eine Ausfahrt, aber es scheinen sehr viele zu sein, die dahin müssen. Vermutlich. Es vergeht auch die erste Stunde, ohne dass etwas passiert. An meiner Stelle kann es ja nicht liegen, denn die ist perfekt. Ich bin gut von weiten zu sehen und anhalten können die Autos auch problemlos hier.

Hier warte ich mit dem Daumen, Ortsausgang Chaitén

Die Sonne bruzzelt und ich versuche die Langeweile mit Musik oder Essen totzuschlagen. Das Trampen wird zur Lethargie. Ich versuch freundlich drein zu schauen, aber das Daumen hochhalten passiert rein mechanisch. Als dann doch ein schwarzer Geländewagen neben mir hält, wach ich auf. Tatsache! Er kann mich ein Stück mitnehmen. Wie schön ist das!

Wir steigen direkt ein und können uns über einiges unterhalten. Besonders das Leben in dieser Einöde interessiert mich. Hier leben auf zig Kilometern nur noch ganz wenig Menschen. Die Infrastruktur ist minimal. Er selbst wohnt in einer Häuseransammlung (Dorf wäre übertrieben), die nur über ein Boot von einem Dorf auf der anderen Seite der Flussmündung erreichbar ist. Seine Kinder lehrt er zu Hause. Einmal, weil es ein längerer Schulweg wäre, aber auch weil er kaum was auf das chilenische Bildungssystem hält. Zu schlecht seien die Lehrer*innen und er könne das besser. Seine Kinder würden bei den Prüfungen gut abschneiden, besonders in Meeresbiologie. Gut, sein Job ist Meereskonservation, d.h. er belegt was alles in den nahen Gewässern lebt und wie es sich verändert. Auch er benennt das Problem der industriellen Lachs-Zucht mit den roten Algen. Er zeigt mir ein Buch mit großen Farbphotos von krassen Unterwassertieren und -pflanzen.

Irgendwann stoppt er dann und packt eine Drohne aus. Vor wenigen Monaten ist an dieser Stelle ein Teil eines nahen Berges abgerutscht. Eine Bodenverflüssigung. Eine Gerölllawine, von unvorstellbaren Ausmaß, ging des Nachts den Berg ab und folgte den Flussbett. Hektarweise wurde Wald links und rechts einfach umgeholzt und die Straße begraben. Stahlbeton und uralte Bäume sind wie Zahnstocher gebrochen.

Vom Berg hinten rechts fehlt die Hälfte und alles zwischen den Bäumen links, rechts und am Hang war vormals Wald

Noch Kilometer weiter unten hat die Gerölllawine Wald begraben und auch die Ortschaft Villa Santa Lucía zur Hälfte. Da sie mitten in der Nacht kam, waren alle zu Hause und haben geschlafen. Viele sind in ihren Häusern gestorben. Die Holzhäuser sind einfach weggespült worden und als wir in den Ort kommen, sind noch völlig deformierte Häuser gut zu erkennen. Auch wenn die Straße schon erneuert ist und schweres Gerät am Aufräumen ist, wird es wohl noch dauern bis alles wieder beim alten ist.

Villa Santa Lucía, links die Häuser stehen noch, rechts wurde alles begraben, in der Mitte ist ein stark deformiertes, der Weg wurde mittlerweile wieder angelegt

Villa Santa Lucía ist auch der Ort mit dem Abzweig. Ich muss zur Grenze, aber meine Mitfahrgelegenheit weiter nach Süden. Wir verabschieden uns und ich suche den neuen gewalzten Weg nach Futaleufú. Am Ortsausgang schmeiß ich meinen Rucksack hin und das Warten beginnt auf‘s Neue.

Akt 4: Villa Santa Lucía → Futaleufú

Motiviert von dem Erfolg ein Drittel schon getrampt zu sein und der Sicherheit, dass irgendwann der Bus kommt, warte ich auf weitere Fahrzeuge die mich gegebenenfalls zum Ziel bringen. Anders als meiner erster Wartestelle ist hier auch deutlich weniger los. Es kommen so gut wie keine Autos, auch wenn es die einzige Straße nach Futaleufú ist. Doch vielleicht nimmt mich dann erst recht jemand mit.

Die Umgebung hilft aber über die Einsamkeit. Hohe schneebedeckte Gipfel, weite grüne Wälder und ein kleiner Bach umgeben mich. Doch kommt mal ein Fahrzeug angerauscht, so bleibt nur der Staub in der Luft stehen. Gleichzeitig brennt die Sonne auf mich runter. Es ist mittlerweile Mittag geworden. Mein Fahrer von eben war optimistischer mit meinem Plan. Vielleicht fährt ein Bus und wenn nicht, dann ist es nicht weit zur Grenze und dahinter fährt bestimmt etwas.

Nach einer halben Stunde fange ich an eine Statistik zu führen. An die schon gekommenen Fahrzeuge kann ich mich noch gut erinnern und Steine gibt es hier ja genug. Auf der Absperrung zur alten Straße, die vom Geröll zerstört wurde, lege ich die Steine ab.

Doch es vergehen die Stunden und das einzige was mich ab und zu besucht, ist eine neue Staubwolke, aufgeworfen von Fahrzeugen. Als nach zwei Stunden zehn Steine nach links und fünf Steine nach rechts liegen, kommt der Bus aus Chaitén. Nur gut, dass ich diese Notfalllösung habe. Das Zehn-zu-Fünf-Ergebnis ist aber auch ein wissenschaftlicher Beleg für Murphys Gesetz. Kurz gesagt, das dümmste Ergebnis tritt meist ein. Da zehn Fahrzeuge in die falsche Richtung gefahren sind, also diese in die ich nicht möchte, aber nur fünf in die meinige, sehe das Gesetzt für belegt an.

Ich finde noch einen Platz in dem Bus und offensichtlich hat der Busfahrer hier nicht mit mir gerechnet. Mir egal. In dem wohlig-warmen Treibhaus fallen mir direkt die Augen zu.

Über eine Stunde ruckelt der ältere Bus durch die Berge und lässt uns dann in Futaleufú raus. Einem kleinen Touri-Ort. Wieder ein Ort der für sich wunderschön ist. Flache ruhige Häuser in einer atemberaubenden Landschaft. Völlig unberührt. Traumhaft. Mittlerweile habe ich aber schon 50% meine Motivation eingebüßt und will einfach nur weiter.

Futaleufú

Akt 5: Futaleufú → KM 15

Der Busfahrer weiß nix zu weiteren Bussen, aber sein Kumpel meint, einen zu kennen. An dem von ihm angegebenen Ort finde ich die besagte Firma nicht, geschweige denn überhaupt irgend eine Art Transportmöglichkeit. Dafür aber die Touri-Info. Sichtlich erfreut über meinen Erscheinen erklärt mir die junge Frau auf feinsten Englisch was sie weiß: Morgen früh.

Ja, es gibt Busse, zwei Mal die Woche (das scheint hier der Takt zu sein mit dem die Leute leben). Aber halt erst morgen früh. Ich habe aber kein Internet und auch keine andere Möglichkeit meiner Couchsurferin Bescheid zu geben und entscheide mich das Glück weiter herauszufordern. Ich muss heute noch in Esquel bei ihr ankommen. Das habe ich vor über 24 Stunden ihr so mitgeteilt.

Also wieder: Auf zur Ausfallstraße Richtung Grenze. Die Karte sagt 10,6 Kilometer bis zum argentinischen Grenzposten. Ich ruf mir den netten Fahrer in Erinnerung und entscheide mich mit dem Laufen zu beginnen. Gleichzeitig strecke ich aber auch jeden den Daumen hin, der in meiner Richtung an mir vorbei fährt.

Gleichzeitig ändert sich die Landschaft regelmäßig. Andere Gebirgszüge kommen und gehen. Mal komme ich nah an einen schnellen und breiteren Fluss. Dann wieder eine Wiese mit Tieren. Autos kommen und gehen. Sie machen immer irgendwelche Zeichen. Vermutlich, dass sie nicht zur Grenze fahren. Was sie offensichtlich nicht wissen: Ich wäre auch einverstanden, wenn sie mich nur einen Kilometer fahren. Einfach nur etwas. Aber keine*r erbarmt sich.

irgendwo zwischen Futaleufú und Grenze, in Richtung Grenze photographiert

Von Kilometer zu Kilometer wird der Rucksack schwerer. Ich bin schon so verschwitzt, dass ich mich selbst riechen kann. und das kommt nicht mal eben. Immer schwerer und immer mehr Zweifel. Es ist zum Verzweifeln, aber es hält wirklich niemand. Ich verfluche all die Menschen die mir in den letzten Tagen erzählt haben, wie einfach doch trampen ist. All die Menschen die es ach so einfach und toll finden. Ich kann mich hier mit niemanden austauschen, der mich liebevoll weiter bringt. Ich kann mir die Natur anschauen und mit dem viel zu schweren Rucksack mich unterhalten. Doch der antwortet nicht. Ich fang‘ an jede*n zu belegen, die oder der mich einfach stehen lässt.

Kilometer um Kilometer schleppe ich mich weiter und so langsam tun mir die Füße weh. Das bin ich nun nicht gewohnt. Es ist nicht zu vergleichen mit der Wanderung nach Aguas Caliente, dem Machu Picchu Dorf. Es ist auch eine andere Herausforderung als die tagelange Urwald-Tour von Georgetown über Lethem nach Boa Vista. Warum mach ich diese Reise eigentlich. Immer mehr Zweifel kommen auf. In meinem schönen zu Hause in Deutschland könnte ich die Füße hochlegen. Doch hier mache ich diese aberwitzige Wanderung im Nirgendwo. Immer weniger Fahrzeuge passieren mich, dafür gibt es immer mal wieder Anstiege, die es nicht einfacher machen. Pause will ich nicht mehr machen, weil ich Angst habe, dann ganz die Motivation zu verlieren. Also weiter. Und weiter.

Als ich die Hälfte geschafft ist, kommt die aberwitzige Motivation, doch bald an der Grenze zu sein. und ja, nach Stunden der Qual erreiche ich die Grenze. Endlich mal den Rucksack absetzen. Ein sauberes Klo. Frisches Trinkwasser. Ein Wunder ist geschehen. Der Grenzbeamte mustert mich neugierig, sagt aber nicht viel. Ziemlich entspannt akzeptiert er meine Ausreise und weiter geht‘s. Ich treffe andere Reisende, die zweieinhalb Stunden in die Gegenrichtung getrampt haben, aber fündig geworden sind. Herzlichen Glückwunsch.

Ich wandere weiter und bald endet die geteerte Straße. Schotterweg beginnt. Das hat noch gefehlt. Darauf lässt es sich noch blöder laufen. Das erste Zeichen was mir Argentinien schickt, ist ein Schild mit den Umrissen der Falkland-Inseln beziehungsweisen Islas Malvinas wie sie hier heißen. Darüber der Spruch „Für immer argentinisch“. Die haben Humor denke ich. Dunkel entsinne ich mich, dass sie den Krieg um die Inseln gegen Großbritannien verloren haben und dass die Bevölkerung in einer Abstimmung für den Verbleib beim Vereinigten Königreich gestimmt hat. Doch das belastet mich nicht.

Nächstes Schild: Blau-wei-blau, Willkommen in Argentinien. Das Handy bestätigt es auch nochmal. Wenigstens das habe ich geschafft. Es folgt eine Schranke und nebenan ein Holzhaus. Drei Grenzbeamt*innen erwarten mich. Etwas umständlich, aber dann doch erfolgreich schaffe ich die Einreise. Wir unterhalten uns noch nett, auch wenn es mir schwer fällt sie gut zu verstehen. Ich versuche meine Situation klar zu machen und will wissen ob es Busse gibt.

Sie gucken mich an als wenn ich nach Ufos gefragt hätte. Nee, heute nicht. Morgen früh kommt der Bus aus Futaleufú. Mhh, danke, nee, ich muss heute ankommen. Ob sie mir helfen können ein Taxi zu rufen. Nee, geht nicht, hier gibt es kein Signal. Aber ob ich die Toten Hosen kennen. Die spielen Mitte November in Buenos Aires. Ja, gute Musik, sag ich, und verlasse niedergeschlagen ihre Holzhütte.

Was nun? Ich laufe einfach. Jetzt habe ich kein Ziel mehr. Esquel ist 24h zu Fuß von hier entfernt. Es muss motorisiert weiter gehen. Der eine Grenzbeamte meinte, in der nächsten Ortschaft, Los Cipreses genannt, elf Kilometer entfernt, könnte ich es versuchen. Aber er wüsste sonst nix. Ich laufe einfach, weil es mir an anderen Möglichkeiten fehlt. Einfach immer weiter. 18 Uhr ist lange durch und ich sehe schon die Sonne hinter den Bergketten verschwinden. Auf dem Schiff war ich noch fit, aber die letzten Stunden haben mich fertig gemacht.

Was, wenn ich hier jetzt campen muss. Mitten im Nirgendwo. Gut, es sieht sehr schön aus, ein breiter Fluss, vielfältige Bäume und die sich ändernde und wunderschöne Kulisse aus weißen Gipfeln. Ich bekomme es mit der Angst, denn einfach nur den Schlafsack am Straßenrand ausrollen, das ist kein schöner Gedanke. Es wird sicherlich kalt und wer weiß welche Tiere hier leben. Es ist ja schließlich so gut wie im Nationalpark. Dieser beginnt gleich am anderen Ufer des Flusses.

ersten Meter in Argentinien

Die Anzahl der Autos, die mich passieren, ist gefühlt im Minus-Bereich. Aber es kommen welche. Das erste kommt – und geht. Ich denke, dass, wenn die Grenzbeamtin und die beiden Beamten Feierabend machen, um 20 Uhr, die ja noch vorbei kommen und vielleicht habe ich einen freundlichen Eindruck hinterlassen. Zweites Auto, kommt – und geht.

Ich hab schon wieder einen Kilometer geschafft. Ich rede kurz laut mit mir. Ist das schon das Zeichen verrückt zu sein? Ich vermisse gerade umso mehr, dass ich keine*n Reisepartner*in habe. Keine Stimme der Vernunft, niemand um mich auszukotzen, niemand für etwas Galgenhumor. Ich verlege den Jutebeutel zum hundertsten Mal von einer auf die andere Schulter.

Drittes Auto. Mit ungeminderter Geschwindigkeit fährt es zur Fahrbahnmitte und hinterlässt eine neue Staubwolke. Was hab ich auch erwartet. Dass sie anhalten? Mich würde ja jeder verdammte Kilometer helfen, aber vielleicht denken sie in ihren klimatisierten und mit Radiomusik unterlegten Fahrzeug, dass sie nicht dahin fahren wo ich hin will. Doch! Will ich.

Ich versuche mir aktiv positive Gedanken zu machen, doch ich bin am Boden der Reisemotivation und ich schwöre, nie wieder Trampen und nie wieder einfach irgendwo hin fahren, wo ich nicht weiß wie es weiter geht. Der eine der mich heute mitgenommen hatte, hat ehrliche Bewunderung für meinen Plan ausgesprochen. Doch die kann ich hier nicht einlösen.

Ich höre ein viertes Auto von hinten kommen. Mittlerweile spielt mein Kopf verrückt und manchmal kommt kein Auto, obwohl ich glaube eines zu hören. Die entgegen kommenden nehme ich schon nicht mehr wahr. Es sind auch mehr, als in meine Richtung. Siehe Murphys Gesetz.

Doch diesmal kommt tatsächlich eines von hinten. Nummer 4 zähle ich schon, doch dann hält es, ca. hundert Meter hinter mir, und gibt Lichthupe. Ich bleib verdutzt stehen.

Akt 6: KM 15 → Esquel

Was da los? Circa Fünfzehn Kilometer (KM 15) bin ich gelaufen und jetzt das? Ich bin der einzige weit und breit, also muss ich gemeint sein. Egal, los, bevor sie es sich anders überlegen. Ein freundlicher Mann steigt schon lange bevor ich beim Auto bin aus und öffnet das Gitter zur Ladefläche von seinem Geländewagen. Mir fällt es schwer spanisch zu sprechen, aber ich sage, dass sie meine Held*innen sind. Doch das interessiert sie kaum. Auf dem Beifahrersitz sitzt noch eine Frau, vermutlich sind sie ein Paar. Ich wage kaum zu fragen wo sie denn hinfahren, denn mir schwant, dass es einen weiteren Akt geben wird. Doch ihre Antwort ist eine zweite Rettung. Esquel. Direkt zum Ziel. Das Glück kam sehr spät, aber es kam.

Ich stelle auf freundlich und gesprächig um. Doch ich bin auch erschöpft und kann kaum noch. Sie leben auf beiden Seiten der Grenze. Einer kommt aus Esquel und eine aus Futaleufú. Deswegen haben sie zwei Häuser. Er zeigt mir eine Gebirgskette, die wie ein hingelegtes Gesicht aussieht und hält extra an, damit ich ein Photo machen kann. Ja, schön ist es, gebe ich zurück. Ich will schlafen, denke ich.

Wir kommen in dem kleinen Ort an, von dem der Grenzbeamte sprach. Sie halten an um gesammelte Pilze abzuholen. Die Frau gibt mir eine Visitenkarte, denn sie sammelt Pilze und verarbeitet sie zu Essen. Ein Hobby von ihr. Würde sonst keiner machen. In Europa auch nicht, oder? Ich gebe zurück, dass es tatsächlich einige Menschen machen, da wo ich herkomme.

Dass ich heute noch über das Pilze Sammeln sprechen muss, hätte ich nie vorhersagen können, aber ja, so ist es nun. Doch damit endet unsere Konversation.

gesammelte Pilze aus Los Cipreses

Erst als wir kurz vor Esquel sind, fragen sie mich, wo ich denn hin muss. Ich sage, dass ich am Ortseingang eine Freundin habe, die mich unterbringt. Welche Adresse das ist. Sie kennen sie nicht, aber gemeinsam finden wir das Haus, was ich suche. Ich versuche nochmal klar zu machen, dass sie meine Retter*innen sind und ich hundertmal dankbar bin.

Die Rettung kam, auch wenn sie spät kam. Ich werde mein Glück trotzdem nicht nochmal herausfordern.

Als ich die Wiese vor dem großen Holzhaus überquere und dann klingele und meinen Rucksack abstelle, sehe ich dass sie noch gewartet haben, ob ich mir sicher bin, dass ich hierher muss. Manche Menschen, so denke ich, wissen gar nicht, wie gut sie sind.

Ich atme durch und bin schon jetzt glücklich. Obschon niemand aufmacht. Ich klingel immer wieder, aber nix passiert. Das Holztor daneben ist nur angelehnt und ich überlege in den Garten zu gehen. Noch warte ich, aber als ich es dann doch versuche, kommen kläffende Köter angerannt und nun weiß die ganze Nachbarschaft, dass ich hier warte.

Dieser Lärm hat aber auch meine dritte Retterin gerufen: Mailén. Hochgewachsen, kurze Haare, kluges Grinsen und immer zuvorkommend, steht sie hinter den Hunden. Ein erleichtertes Dankes-Grinsen bricht nun auch aus mir raus und sie begleitet mich ins Haus. Ob ich Essen möchte. Ich hatte aus Vorsicht vor den Grenzkontrolle alles aufgegessen und habe tatsächlich Hunger. Die kleine bescheidenen Mahlzeit die ich mir aus dem bisschen Baguette bastele, ist für mich die eines Königs.

das rettende Haus für die nächsten Tage

Wir unterhalten uns eine Weile und es stellt sich heraus, dass sie selbst oft Couchsurfing genutzt hat um Unterkünfte zu bekommen. Eine Seltenheit, denn meist machen die Leute entweder das eine oder das andere, also bieten eine Couch oder erfragen eine Couch. Sie kennt meine Seite aber ziemlich gut und zeigt sich sehr verständlich, als ich ihr Angebot, auf die Geburtstagsfeier einer ihrer Freundinnen zu gehen, ausschlage. Ich bin fertig, erzähle meine Story, beziehe mein Zimmer für die nächsten Tage. Ja, ihr lest richtig, ich hab ein eigenes geräumiges Zimmer. Mit komfortablen Bett und frischer Bettwäsche. Davor noch eine warme Dusche.

und da ist es wieder. Das Gefühl, dass eine warme Dusche und ein eigenes weiches Bett der alles erfüllende Traum sein kann. So wie Puerto Montt. Kaum habe ich mich und die Glieder ausgestreckt, holt sich der Körper die Erholung die er verdient … Vorhang zu.


Nov 29 2018

Bei Magellan und Humboldt

Von Karl

 

Auf nach Chiloé

Über einen Betonkai schleicht der Bus, setzt an und fährt die Fährrampe hinauf und kommt am anderen Ende der  zum Stehen. Ich steig aus und schon beginnt die Fähre abzulegen und hebt die Heckklappe an. Die Sonne neigt sich zum Horizont. Der Wind pfeift eisig und kalt über die glatte See. Flach liegt sie da. Flach und grün, die Küste vom Festland und gegenüber, hinter dem Vorhang eines Regenschauers, die Küste der Insel Chiloé. Als wenn sie ruhig und stumm ist. Voller spannender Geheimnisse. Wie ein*e Seefahrer*in. Ohne viele Worte, doch voller Erlebnisse und Geschichten.

Die steife Brise trägt Tröpfchen mir ins Gesicht. Auch wenn es äußerlich kalt ist, so strahlt doch irgendwie die Begeisterung über die raue Natur in mir. Doch nach einer Weile wird mir ziemlich kalt und ich geh dann doch lieber in den warmen Bus. Der hat zum Glück Fenster.

Ich bin nun also auf der Insel Chiloé. Sie ist zehn Mal so groß wie Rügen, hat aber nur ein fünftel so viele Einwohner*innen pro Quadratkilometer. Besonders der südwestliche Teil ist so gut wie unbesiedelt. Es gibt zwei „größere“ Städte mit 27.000 Menschen in Ancud, ganz im Norden, und 41.000 Menschen in Castro, ganz im Osten der Insel.

Der einzig verlässliche ständige Zugang zur Insel führt über die Fähre zwischen Pargua und Chacao, ganz im Nordosten. Andere Fähren fahren nur selten. Buslinien von und auf die Insel gibt es auch nur über diese Fähre. Es wurde zwar mit dem Bau einer der weltgrößten Hängebrücken begonnen, jedoch später wurde das Projekt wieder aufgegeben.

Ich steige in Ancud aus und beginne etwas durch die Straßen zu schlendern. Die Wege sind feucht und nass. Die Häuser aus Holz und einfach gehalten. Reichtum gibt es hier nicht. Große Shopping Malls gibt es nicht mehr und die günstigen Supermärkte sind namenlos. Unter wenigen diffusen Straßenlaternenlicht begebe ich mich nach einer Weile auf die Suche nach meiner heutigen Unterkunft. Wir hatten uns auf 21 Uhr verabredet. Die Stadt ist sehr hügelig und manche Straße verlässt ihren Asphalt und wird schlammig. Ich sehe kaum Menschen oder Autos.

Seit längerem sortieren sich Straßenzüge in etwa so, dass meist die hunderter zwischen zwei Blöcken sich befinden, dass heißt nach der Kreuzung beginnt der nächste Hunderter. Wenn ich also vor Hausnummer 332 stehe, dann kommt nach der nächsten Kreuzung mindestens die Nummer 400 oder 299. Manchmal sind auch die geraden Nummern auf einer Seite und die ungeraden auf der anderen. Ich orientiere mich aus Erfahrung und gelange an das Ende der Straße. Dort liegt eine kleine Polizeikaserne und ich frage, ob sie meine gesuchte Hausnummer kennen. Ich werde direkt zum Chef gebracht, aber der denkt, ich suche eine Unterkunft und zeigt auf die angrenzenden unbeleuchteten Cabañas (Bungalows). Heute also kein Freund und Helfer. Der Wachpolizist vor der Baracke zeigt mir dann auf seinem Handy wo mein gesuchtes Ziel liegt. Irgendwie hatte ich es schon gerochen, dass hier andere Nummerierungsregeln herrschen.

Maria und Matias

Maria macht mir die Tür auf und ich betrete das wohlig gewärmte Haus. Auch ihr Freund Matias begrüßt mich sehr freundlich. Wir fangen direkt an alles zu teilen und sie öffnen eine Flasche guten chilenischen Wein. Salzkekse, Käse, Hummus, … ein Träumchen sag ich euch. Auch sie heizen die zwei Stockwerke ausschließlich mit dem Ofen in der Küche. Nebenan hacken die beiden ab und zu das Holz dafür. Es ist halt die günstigste Möglichkeit und das Holz kommt mit dem LKW zur Haustür. Alle Häuser auf Chiloé sind aus Holz und werden damit geheizt. Was sonst. Sie sind nicht die reichsten und irgendwann tropft es von der Decke.

Wir kommen sehr gut ins Gespräch. Beide sind sehr belesen und können über Mistral und Neruda streiten. Maria und ich bevorzugen Neruda, Matias Mistral. Beide sind auch Mitglieder der jungen Partei „Revolución Democratica“ (demokratische Revolution) und bekennende Sozialist*innen. Die junge Partei entstand 2011/12 aus den starken Bildungsprotesten in Chile, die bis heute eine kostenfreies Bildungssystem fordern. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2017 war sie Teil der „Frente Amplio“ (breite Front), einem Zusammenschluss verschiedener linker Parteien um eine eigene Kandidatin (Beatriz Sánchez) nach vorn zu bringen. Völlig unerwartet erreichte das Bündnis über 20% und verpasste damit die Stichwahl nur um 2,5%. Trotzdem sind sie nun mit 20 Abgeordneten im Kongress vertreten und stellen den Senator in Valparaiso. Die meisten Stimmen für die Frente Amplio holte die Revolución Democratica.

Maria ist deswegen besonders stolz und war sogar Wahlkampfmanagerin für zwei Kandidat*innen in Santiago. Zur Zeit ist sie so was wie die innerparteiliche Juristin und kann entspannt von zu Hause aus z.B. Schiedsgerichtsfragen klären. Gewonnen hat die Wahl der rechts-konservative Präsident Sebastián Piñera, den wir ab der zweiten Flasche Wein nur noch „den Clown“ nennen. Der bringt das Land zwar nicht nach vorne, aber macht auch nur irgendwelchen populistischen Schnickschnack. So gilt seit März eine Begrenzung von maximal 2 Plastiktüten pro Einkauf. Das ist ja ganz cool, aber es kann nicht kontrolliert werden. Und ansonsten gibt es kaum ökologische Bestrebungen. Der Bergbau als wirtschaftlicher Motor des Landes, sucht immer neue Ressourcen und natürlich wird auch auf Chiloé gesucht. Aber die Chilot*innen gelten als strikte Umweltverteidiger*innen, sodass größere Eingriffe in die Natur zu massiven Protesten führen würden.

So erklärt mir Matias, dass eine gelb-blühende Pflanze auf Chiloé sich invasiv ausbreitet und dabei andere Pflanzen durch ihre Wurzeln killt. Sie sieht tatsächlich sehr hübsch aus, aber ist dummerweise eine Gefahr für die Natur der Region. Ähnliches gilt für die industrielle Lachs-Produktion. Immer wieder brechen Lachs-Schwärme aus ihren Aufzucht-Gefängnissen aus und bedrohen die vielfältige Meeresflora. In dem Zusammenhang steht auch die invasive Ausbreitung einer roten Alge in allen Gewässern rund um die Insel.

Blick von Ancud; hinten: eine weitere Insel; vorne rechts: die invasive Pflanze

Als wir wieder über den Clown sprechen, meinen sie, dass die wirkliche Gefahr in Lateinamerika bald von Jair Bolsonaro ausgeht. Der frisch gewählte brasilianische Staatspräsident bedient die faschistische Klaviatur und ist in seinem Populismus mit Trump zu vergleichen. Er befürwortet die Militärdiktatur, hetzt gegen Frauen, Homosexuelle, die freie Presse, Schwarze und beabsichtigt Klima- und Umweltschutzmaßnahmen komplett zurück zu nehmen. Was das bedeutet, wird die Welt nun ab dem 1. Januar 2019 sehen, wenn er dann sein Amt antritt.

Mittlerweile ist es schon 3 Uhr nachts durch und der Wein alle. Nachdem wir diskutiert haben, ob wir angesichts des Klimawandels noch warten können bis sich der oder die letzte freiwillig entschieden hat, ob er vielleicht auf eine Plastiktüte verzichten mag, oder ob es unpopuläre Methoden bedarf … gehen wir dann ins Bett.

Ancud und 1960

Ich nutze den schönen neuen Tag um Ancud etwas zu erkunden. Tatsächlich erscheint mir die Stadt wie Warnemünde im Frühling. Der stete Wind treibt die Wellen gegen die Wasserkante. Immer wieder speit dann eine Welle über den Betonmauer. Es ist grad auflaufende Flut. Die flachen bunten Häuser liegen geduckt in dem grün der Hügel. Das Zentrum am Wasser wird grad neu gestaltet und ist deshalb als Baustelle gesperrt. Es gibt noch ein altes spanisches Fort, aber das eigentlich bedruckende ist die Landschaft außenrum. Ein versteckter Strand, die Bucht, das ständige Grün (mit gelben Punkten), die Muschel-Wege, … Ja tatsächlich wurden manche Wege einfach aus Muscheln gemacht. Im Zentrum gibt es einen traditionellen Markt in einer neu gestalteten Halle. Hier gibt es Muscheln, Algen und andere Wasser- und Waldpflanzen in Unmengen. Bei 95% kann ich nicht sagen, was das ist, oder wozu das gegessen wird. Es gibt auch eine Sonderart des Knoblauchs. Die Zehen sind gut dreimal so groß wie gewöhnlich und die Knollen machen locker den Zwiebeln Konkurrenz. Auf einen ersten flüchtigen Blick sieht mensch dann auch nicht unbedingt, dass es Knoblauch und keine Zwiebel ist.

Überall hängen Plakate, wie auch schon in Puerto Montt, dass bald eine Erdbeben– und Tsunami-Übung bevorsteht. Alle sind aufgefordert an der Übung teilzunehmen. Es werden schon Regionen definiert, die besonders von der Übung betroffen sind. Eigentlich alle, die von einem größeren Tsunami überschwemmt werden könnten. Ich verlasse die Insel leider kurz vor der Übung in den nächsten Tagen. Solche Übungen haben für die Region eine besondere Bedeutung.

1960 kam es in ganz Süd-Chile, mit dem Epi-Zentrum bei Temuco, zum größten je aufgezeichneten Erdbeben der Welt. Mit 9,5 auf der Richter-Skala kam es zu katastrophalen Zerstörungen. Ein bis zwei Millionen Chilen*innen wurden obdachlos, was ca. ein Viertel der gesamten Bevölkerung war. Erdbeben dauern normalerweise nur wenige Sekunden, doch dieses hielt ganze fünf Minuten an. Der ausgelöste Tsunami erreichte eine Höhe von 25 Metern. Die Bucht von Valdivia war für eine Stunde trockengelegt, weil sich erst das Wasser zurückzieht bevor die Welle kommt. Der Tsunami erreichte noch in Hawaii 11 Meter und tötete noch über hundert Menschen in Japan. Selbst erdbebensichere Gebäude hielten den Erschütterungen nicht stand. Auch Vulkanausbrüche wurden ausgelöst und die Küstenlandschaft hat sich mancherorts erheblich verändert.

Bild aus dem Regionalmuseum in Ancud: Meerbeben 1960, Am Donnerstag den 22. Mai 1960 um 15:11 Uhr …

Vor der Küste Chiles schiebt sich die ozeanische Platte unter die kontinentale Platte, wodurch es die Vulkane, Erdbeben, Tsunamis und Anden überhaupt gibt. Bei dem „großen Chile-Erdbeben“ wurde ruckartig ein 200 Kilometer breiter kontinentaler Block 20 Meter nach Westen bewegt und angekippt. Die extreme Energie die durch das Beben freigesetzt wurde, führte auch dazu, dass sich die Erdachse um drei Zentimeter verschoben hat. Ich bin ganz froh, dass ich hier kein Erfahrungsbericht dazu niederschreiben kann.

Maria allerdings kann von einem Beben und Tsunami in Valdivia berichten. Tatsächlich ist sie auch nicht die erste, die mir davon berichtet Beben erlebt zu haben. Es gehört zum Leben der Menschen in Chile dazu, wie es für uns normal ist, dass es mal schneit. Bei ihr aber ist es besonders interessant, weil tatsächlich die Familie des Cousins evakuiert wurde, dann später ihr Haus nicht mehr vorfinden konnte, weil es der Tsunami mitgerissen hat und deshalb für eine Weile in dem Haus von Marias Familie in Santiago leben musste.

„Kaum zur Macht sie sind gekommen, mit dem Pinguinen sie sind geschwommen“ (Zitat Ken der Guru, siehe Känguru-Offenbarung)

Deutlich friedlicher geht es dagegen am Strand von Puñihuil zu. Einem beschaulichen Traumstrand im Nordwesten der Insel. Vom Regionalbusbahnhof in Ancud fahren nur wenige Busse, aber für die handvoll Touris sogar vier Mal am Tag ein Bus nach Puñihuil. Am breiten und weiten Sandstrand warten schon die Touranbieter*innen. Der Ort ist der einzige in der Welt wo Humboldt– und Magellan-Pinguine gemeinsam brüten. Um das touristisch zu erschließen, haben die Fischer*innen des Strandes eine Art Genossenschaft gebildet und bieten gemeinsam die gut halbstündigen Rundfahrten an. Auf einem speziellen Gefährt werden wir dann trockenen Fußes zu einem der Boote gebracht, die dann um die vorgelagerten Inseln tuckern.

Und tatsächlich, da wackeln sie, die kleinen Pinguine. Viel kleiner als ich gedacht hatte und mit hängenden Kopf schwanken sie über ihre kleinen felsigen Inseln. Die Felsinseln ragen hoch heraus und oben drauf, auf der Wiese, sollen sie brüten und leben und kommen lediglich die schmalen Pfade zum Futtern nach unten. Manchmal ganz allein, oder zu dritt, je nachdem.

Ich bin schon etwas beeindruck, sind es doch die ersten Pinguine die ich sehe und tatsächlich leben sie nicht nur in der Antarktis, sondern auch schon viel weiter nördlich. Sie sind deutlich weniger agil als die ganzen Zeichentrick-Held*innen in den Kinos der letzten Jahrzehnte. Sie gelten übrigens als sehr neugierig und haben kaum Scheu gegenüber Menschen, sodass Annäherung auf wenige Meter sie in ihrem Lebensraum kaum beeinträchtigt.

Doch nicht nur die Pinguine genießen die Abgeschiedenheit hier. Auch eine Gruppe brauner Robben chillt in der Sonne und guckt uns ganz gelangweilt an. Vielleicht kennen sie das Boot schon zur Genüge, denn es kommt ja drei mal täglich. Uns werden noch weitere seltene Tiere gezeigt, wie z.B. Pelikane und eine graue Ente, wo ich aber schon vergessen habe, warum die so besonders ist.

Alles ist an dem Ort gut abgestimmt und sobald das Boot zurück am Strand ist, kommt auch schon der Bus, der den Großteil der Touris einsammelt. Ich entscheide mich aber für eine Wanderung in die Umgebung. Schnell erreiche ich einen höheren Punkt und erlange einen spannenden Ausblick über die kaum berührte Natur. Der einzige Weg ins Hinterland verbindet nur alle paar Kilometer einen Bauernhof, die Teils nur aus Wellblechverschlägen bestehen.

Nach einer guten Stunde erreiche ich die andere Seite der kleinen Halbinsel und setze mich vom Atem beraubt hin: Es ist die komplette Einsamkeit. Die Natur der Küste und ich. Niemand anderes. Die Küstenkordillere ist vom wilden Pazifik zu einer Steilküste abgearbeitet worden. Grün hügelt sich die Insel, begrenzt von dunkelbraunen Fels, schwarzen Kies-Strand und umspült von dunkelblauen Wasser. Es ist wie eine übergroße Malerei, die einem ermöglicht über Stunden immer neue Details zu entdecken. Noch lange beobachte ich, wie das Meer über die Felsen faucht und wie ein flüssiger Geist versucht, die Küste hochzuklettern. Immer wieder greifen die großen Wellen über die Felsen auf den Strand, rutschen aber dann doch wieder zurück ins Meer. Hier bin ich soweit weg von jedem Menschen, dass es vielleicht der beste Ort ist um zu Philosophieren, den Sinn der Reise zu diskutieren oder gar ein Gedicht zu schreiben.

Dieses könnte ich dann auf dem Rückweg den vielen Kühen, Pferden, Hunden, Schafen, Vögeln und Hühnern vorstellen. Am Traumstrand zurück, warte ich dann einfach auf den Bus und schaue den Bootstouranbieter*innen beim Federballspielen zu. Ihr Job bietet offensichtlich auch viel Freizeit. Irgendwann kommt der Bus. Dieser fährt direkt auf dem Strand entlang, durchquert ein breites Flussbett mit Anlauf und nimmt dann die Schlängel-Straße zurück nach Ancud.


Nov 27 2018

Erst Obdachlos und dann Traumlagune

Von Karl

 

Noch vor meiner Abreise aus Temuco wurde mein folgendes Unterfangen als irrsinnig eingestuft. Ich wollte eine SIM-Karte in Santiago abholen, um an alle meine Kontakte zu kommen, und bin dafür über Nacht nach Santiago gefahren um dann wieder über Nacht nach Puerto Montt zu kommen. Also ein längeres Unterfangen. Die Post bräuchte für den Postdienst wohl nur einen halben bis ganzen Tag, so erfahre ich kurz vorher. Hätte ich doch einfach darum gebeten den Brief abzuschicken. Naja. Warum ich die chilenische Post nicht so gut eingestuft habe, weiß ich gar nicht. Nun ist es einmal so. Leider musste ich auch feststellen, dass die Busse an Feiertagen doppelt so teuer sind, als sonst. So bezahle ich für 8 Stunden Busfahrt das Doppelte im Vergleich zu 15 Stunden am nächsten Tag.

Meine neue Couchsurferin in Puerto Montt hatte mir geschrieben, dass 11 Uhr frühs eine gute Zeit ist um bei ihr anzukommen, also suche ich eine Verbindung, die mich um 8 Uhr frühs in Puerto Montt rauswirft. Mit möglicher Verspätung und Gehweg sollte dies also klappen. Mitten in der Nacht bleibt nun der Bus für mehrere Stunden stehen und ich seh‘s schon kommen, dass wir alle umsteigen müssen. Doch er fährt dann weiter und wir kommen mit einiger Verspätung an. 10:40 Uhr starte ich am Busbahnhof meine Wanderung zum Haus der baldigen Unterkunft. Leider schaffe ich es erst 11:10 am Haus zu sein … und es ist niemand da. Eine ruhige Einfamilien-Nachbarschaft am Ende einer kleinen Sackgasse. Ich stell den Rucksack ab und warte.

Sollte sie nun auf Arbeit sein, wäre es natürlich viel Zeit die ins Land geht, wenn ich warten würde bis zum späten Abend. Ich bringe meinen Rucksack also in die äußerste Ecke der kleinen Hofeinfahrt, decke ihn ab, schreibe einen kleinen Brief an meine Gastgeberin, schiebe den unter der Tür durch und schließe mit einer Kette aus dem Hof meinen Rucksack an einer Leitung fest. Nicht, dass er trotzdem ausgeraubt werden könnte, aber die Gegend erscheint mir sehr friedlich. Ich befürchte nix.

Also auf geht‘s, die Stadt erkunden. Nach nur wenigen Metern bleibe ich vor einer kleinen Bäckerei stehen und schau mich mal um. Ein Drittel der Auslage ist Kuchen, der auch so genannt wird. Der Plural ist „Kuchenes“. Tatsächlich sieht er aus wie gewöhnlicher Blechkuchen vom Geburtstag meiner Oma. Ich nehm‘ ein Stück und bekomm tatsächlich ein schönes großes Stück eingepackt. Gleich unten am Wasser werde ich mir das zu Gemüte führen. Lecker Streusel mit Waldfrucht und Pudding. Na, Hände hoch, wer will ein Bissen?

Der Strand besteht aus vielen großen runden Steinen, die von Muscheln, Moos, Algen und Möwen übersät sind. Neben ein paar bunten Fischereibötchen schauen mir ein paar alte Männer hinterher. In diesem Stadtteil kommen vermutlich keine Touris. Der Strand geht in einer Mole über auf der eine Straße einen Halbbogen um die Bucht macht. Das Wasser liegt kühl und ruhig da. Obschon die Stadt nicht die allerkleinste ist und zeitweise viele hin- und herwuseln, wirkt sie doch sehr friedlich. Immer wieder kommt die Sonne und dann ein Regenschauer. Sie wissen noch nicht wer heute das Wetter prägen soll.

Puerto Montt bietet eine unsichtbare Grenze in Chile. Ist der Süden sowieso arm und dünn besiedelt, so ist er südlich noch viel weniger besiedelt und erschlossen. Die Anden beginnen sukzessiver kleiner zu werden und das Tal zwischen Küste und Anden geht hier direkt ins Wasser über. Nun bleiben nur noch Inseln vor der Küste, die die Überreste der Küstenkordillere sind, bevor sie ganz versinken. Die Insel Chiloé ist die letzte große Landmasse dieses kleinen Gebirgszug am Wasser, der nur wenige hundert Meter hoch wird.

Buchtform von Puerto Montt wird auch durch eine kleine Insel geprägt, die südöstlich und seitlich vorgelagert ist und so nah am Festland sich befindet, dass mensch immer um die Ecke ein Zusammenfließen der beiden Landmassen vermutet. Bei schönen Wetter lassen sich in der Ferne ganze Gruppen weißer Gipfel in den Anden entdecken. Sie sind zwar deutlich kleiner, aber durch das kühlere Klima beginnt die Schneegrenze auch viel tiefer als beispielsweise in Nord-Chile.

Die Bucht liegt im Süden und nach Norden hin steigt die Stadt schnell an, sodass eine Anreise mit dem Bus aus dem Norden schnell einen weiten Blick über die Bucht eröffnet. Ein schöne Umarmung gleich zu Beginn. Am Wasser sind einige Hochhäuser entstanden und natürlich tummeln sich alle in der Shopping Mall die zur Zeit nochmal erweitert wird. Ist sie doch schon jetzt ziemlich groß. Im Zentrum befinden sich flachere Häuser und es offenbart sich wieder der Einfluss der deutschen Emigration. Holzhäuser, Kneipen, urige Restaurants, deutsche Vereine, etc.

Der Busbahnhof gleicht einen Flughafenterminal und vereint überregionale mit regionalen Verbindungen. Unweit gibt es auch das Büro der Fährgesellschaften, da ab hier auch einiges über Fähren abgewickelt wird. Wer also weiter in den Süden will, kommt um sie nicht herum, oder muss nach Argentinien reisen. und selbst das ist nicht ganz einfach. Ganz im Westen, hinter dem Hafen, kommt noch der große Fischmarkt mit einigen Restaurants und Handwerksläden. Aus dunkelrot-gestrichen Holz wurden zig Häuser aufgebaut, teilweise mit Stelzen im Wasser. Im Erdgeschoss ganz hinten befindet sich auch ein Markt mit Fischen und Meeresfrüchten aller Art. Die Anwerberinnen sind heute nicht so motiviert, vermutlich wegen des stetig wiederkehrenden Regens. Es liegt eine Mystik über diesen Ort, die unbeschreibbar ist. Es ist ein entspannter Ort mit verschlossenen Türen. Ein dunkler Ort mit hell erleuchteten Stuben. Ein regennasser Ort mit trockenen Gesichtern.

Nach meinem langen Rundgang durch das friedliche Puerto Montt, kehre ich zum Haus zurück und finde alles so vor, wie ich es verlassen habe. Leider aber auch keine Couchsurferin. Ich warte wieder. Ich lese etwas, mal in der Sonne mich wärmend, dann wieder unter dem langen Dach vor Regen schützend.

Ich unternehme noch eine Wanderung zu einer nahen großen Brücke, die mir einen großartigen Ausblick über einen Teil der Stadt verschafft. Noch kann ich den Ausblick genießen, aber irgendwie machen sich Sorgen breit. Ich hoffe, sie kommt noch. Aber insgeheim habe ich tiefes Vertrauen, dass ich auch heute ein warmes und trockenes Bett habe.

Kurz vor Sonnenuntergang kehre ich wieder auf ihr Grundstück zurück, aber immer noch niemand da, der oder die mir die Tür öffnen kann. Gut, es gibt die weiße Katze, die mir ihre Pfote unter dem Türspalt hindurch reicht, aber sie öffnet leider nicht die Tür. Ich lese wieder etwas. Schreibe einen Text auf dem Computer. Mach mir Abendbrot. Stunde um Stunde verrinnt und ich merke, wie dumm es vielleicht war, unendlich zu warten. Ich überlege immer mehr, die Einfahrt als Nachtlager zu nutzen und mein Schlafsack auszurollen.

Jetzt durch die Stadt zu ziehen, die jetzt kaum bezahlbare Unterkünfte bietet, scheint mir noch irrsinniger. Doch irgendwie kann ich nicht in Ruhe schlafen und so richtig warm ist es auch nicht. Die Temperaturen sind ja schon einstellig, der Boden hart und kalt. Meine Iso-Matte musste ich schon vor Wochen aufgeben, weil sie kaputt ist. Immer wenn ein Auto vorbei fährt, steigt meine Aufmerksamkeit und Konzentration auf hundert Prozent. Was war das? Hoffentlich sehen mich die Nachbar*innen nicht. Oder vielleicht doch und sie bekommen Mitleid? Soll ich klingeln, fragen? Oder sind es gar Einbrecher, die mich aus dem Weg räumen müssen. Oder ein blöder Hund, der mich anfällt. Naklar ist das Blödsinn, aber irgendwie hält mich das Gedankenkarussell wach.

Wieder ein Auto. Nachbar*innen kommen und gehen, aber diese Einfahrt bleibt unberührt. Ich habe das Tor geschlossen, damit es von außen so aussieht wie immer und keine Hunde reinkommen. Erneuter Versuch einzuschlafen. Wieder ein Auto. Ich kenne mittlerweile alle Autos aus der kleinen Straße und weiß sofort, dass dieses keine Hoffnung bringt. Ich versuch zu schlafen. Es wird auch nicht warm im Schlafsack und der Boden erweist sich schon jetzt als unangenehm hart. Doch was tun … Hätte ich doch mal in der Stadt Internet gesucht und Kontakt aufgenommen. Oder mir eine Notlösung gesucht.

Wieder ein Auto. Diesmal ein kleines rotes und hält direkt vor dem Tor. Sofort bin ich wach. Schnell bin ich in den Schuhen und geh langsam zum Tor. Blöde Situation. Ist sie das oder ist sie es nicht? Wenn ja, wie mach ich auf mich aufmerksam ohne sie zu erschrecken. Ich rufe etwas zögerlich. Als sie anfängt das Tor aufzuschieben, merke ich, dass sie mich nicht wahrgenommen hat, dabei stehe ich nur einen Meter dahinter, aber halt im Dunkeln. Sie scheint in Gedanken versunken, aber ist offensichtlich die gesuchte Bewohnerin.

Sie erschrickt. Im Nachhinein denke ich, dass ich deutlich stärker erschrocken wäre, als sie das war. Ohne großes Tamtam gehen wir – es ist schon Elf – in die Wohnung.

Ich dachte du kommst morgen?

Hä?, denke ich, wieso morgen. Mist, ich hab mich bestimmt verzählt, als ich nach einer Unterkunft gefragt hatte. Später merke ich, dass ja mein Rechner auf deutscher Zeit läuft und dort ist es bekanntermaßen später als hier, sodass, wenn ich abends suche, sich schon der nächste Tag einstellt. Also hab ich mich tatsächlich verzählt. Richtig dumm von mir.

Doch kein Problem für Nicole. Die kleine und resolute Frau, Anfang 30, zeigt mir mein kleines Zimmer und schmeißt den Ofen an. Die einzige Wärmequelle. Da mir wirklich kalt ist, freue ich mich sehr über die wohlige Wärme. Sie hat lange gearbeitet. Sie ist als Psychologin für die Mitarbeitenden-Zufriedenheit in einem Lachs-Fischerei-Konzern zuständig. Wir unterhalten uns noch ein wenig bei Wein und sie erklärt, dass zur Zeit die größte Messe der Südhalbkugel in Puerto Montt ist. Die Agua Sur. Natürlich geht es um Fischerei und da ist sie grad sehr eingebunden und muss auch morgen viel arbeiten.

Als ich an diesem Abend frisch geduscht, in ein trockenes, weiches und bald warmes Bett steige, freue ich mich umso mehr darüber. Nur fünf Meter entfernt, lag ich noch wenige Stunden zuvor und war bitterlich von mir enttäuscht. Doch das Glück kam ganz am Ende doch noch. Wie ein Happy End.

 

Nichtsdestotrotz bleibt die Moral der Geschichte, dass das Glück nicht unbedingt herausgefordert worden sollte. Auch am nächsten Tag werde ich enttäuscht. Ich habe erfahren, dass es kostenlose Busse zur Messe gibt, die ich mir gern anschauen möchte. Ich erfahre, dass sie stündlich die verschiedenen teuren Hotels der Stadt anfahren. Doch jedes Mal wenn ich zur gegebenen Uhrzeit warte, kommt der Bus nicht. Warum, kann ich mir nicht erklären. Später sage ich Nicole, dass die Busse vermutlich unsichtbar sind. Ich ziehe es vor, das warme Zuhause zu genießen, doch meine Feuerkünste lassen zu wünschen übrig. Tja, ist halt kein Heizkörper mit Thermostat und ich nicht auf einem Bauernhof mit Feuerheizung aufgewachsen.

 

Auf Nicoles Anraten mache ich einen Ausflug nach Frutillar und Puerto Varas. Beide liegen am Lago Llanquihue, einem großen See nördlich von Puerto Montt. Seine Hauptattraktion: Von den beiden Orten aus liegen die großen weißen Vulkankegel genau gegenüber und spiegeln sich im stillen See. Doch nicht nur das, sie sind auch das Herz der ehemals deutschen Immigration. Feuerwehr, Kuchen, deutsche Schule.

Irgendwie passt das Bild Frutillars auch zu einem bayerischen Bergsee. Als die Schüler*innen aus der deutschen Schule kommen, tragen sie – wie in Chile üblich – ihre Schuluniform, nur diesmal mit schwarz-rot-goldenen Streifen auf der Krawatte. In Fruttilar gibt es auch ein Museum der deutschen Kolonisierung. Es wirkt doch irgendwie befremdlich. Doch viel zu entdecken gibt es schlussendlich dann nicht, bis auf die ganze Deutschtümelei. Zurück in der Wohnung trinken wir mit dem Nachbarn noch ein Glas Rotwein und so erfahre ich, dass ziemlich viele in der Region in der Lachs-Industrie arbeiten. Es scheint ein wichtiges wirtschaftliche Standbein zu sein.

(warum wir immer Wein trinken? … einige Chilen*innen sind sehr stolz auf den chilenischen Wein)

Teil des Museums zur deutschen Kolonisierung, Frutillar

 

Am nächsten Tag, der auch mein letzter in Puerto Montt ist, ist dann Wochenende und wir unternehmen einen Ausflug mit einer Freundin von ihr. Die Saltos de Petrohué sind unser Ziel. Saltos meinen oft Wasserfälle. Touristisch gut erschlossen, können wir über Holzwege sehr nah rangehen. Es sind nun keine hohen oder großen Wasserfälle, aber es sind – und das lässt sich nicht immer sagen – äußerst beeindruckende. Das wuchtige hier, sind die türkisen Wassermassen die das kleine Tal entlang preschen. Sie stieben auseinander um im nächsten Moment wieder zu einem reisenden Strom zusammenzufallen. Es ist gewissermaßen die Rafting-Super-Klasse, nur dass der Versuch als Suizid einzuordnen wäre. Den äußerst wilden Wassermassen trotzen grüne Ränder und Bäume auf den tiefschwarzen Steinen. Es ist ein magisches Schauspiel. Als wenn sich alles in Bewegung gesetzt hätte. Und doch bleiben ja die Steine wo sie sind, aber dass sie der Wucht des Wassers standhalten, scheint wundersam zu sein. Am Ende so manches kurzen Falls, scheint das türkise Becken zu kochen. Doch vermutlich ist das Wasser frisch geschmolzener Gletscher. Was das ganze Bild umso schöner macht: Ganz in der Nähe erhebt sich der Vulkan Osorno. Majestätisch und makellos beginnt der Kegel direkt neben dem Fluss und die Sonne wird vom vielen Schnee prächtig reflektiert. Nicole fordert mich auf weiter zu gehen.

Wir erreichen noch einen Weiler, der auch Filmkulisse sein kann. Ein idealtypisches Becken, mit lauter grünen Bäumen außenrum, ein kleiner Sandstrand, klares Wasser, auf der anderen Seite ein kleiner Wasserfall und alles völlig einsam und unberührt. Es ist faszinierend, aber genau so stelle ich mir die ideale Lagune vor.

Mit diesem Eindruck im Gepäck bringen die beiden mich noch zum Busbahnhof.


Jun 17 2018

Eine fast unendliche Geschichte

von Rosa

Alles hat ein Ende, nur Huancayo nicht. Aus den ursprünglichen zwei Tagen wurden sechs, dann acht, dann neun und zwölf.

Wie alles begann…

Die Busfahrt war mal wieder unruhig. Ich hatte Mühe und Not mich auf meinem Sitz zu halten und meine Beine so zwischen die Absperrung zur Bustreppe zu klemmen, dass ich nicht bei jeder Kurve das Gleichgewicht verlor. Schlagloch um Schlagloch. Zwischen kalt und warm. Zwischen Schlaf und Wachkomma. In den frühen Morgenstunden eines Donnerstags hatte auch diese Fahrt ihr Ende. Freudig stieg ich nun endlich aus dem Bus ins…kalte Schwarz. Es war unerwartet kalt. Wir warteten im improvisierten Busbahnhof auf die Sonne. Unseren Host sollten wir erst 9 Uhr treffen. Noch vier Stunden. Mit den ersten Sonnenstrahlen fahren wir zum verabredeten Treffpunkt. Nach einer Weile kommt die Polizei auf uns zu. Schnell wird das Coca versteckt, obwohl es ja in Peru nicht verboten ist. Nur das Ausführen ist nicht erlaubt. Es stellt sich heraus, dass es nur die Touristenpolizei ist, die uns von den Sehenswürdigkeiten Huancayo überzeugen will.

Javier, unser Host zeigt uns seine Wohnung, die er mit einer Familie teilt. Seine eigene Familie ist quer in der Welt verteilt, sein Vater in den USA, seine Mutter in Italien und sein Bruder in Lima. Er irgendwo dazwischen. Javier sieht nach Metropole aus, leicht Hipster mit Nerdbrille und für peruanische Verhältnisse sehr groß. Darauf ist er stolz. Sein Vater war wohl ein erfolgreicher Torhüter in Peru und hat ihm seine Größe vererbt. Viel mehr ist ihm von seinem Vater nicht geblieben. Ab September will Javvier einen Master in Fotografie in Rom machen. Geldprobleme hat die Familie nicht. Ihnen gehören ein paar Immobilien, die sie an Studenten vermieten. Trotz seiner 29 Jahre wirkt er eher, wie jemand der nicht erwachsen werden will. Eben ganz „La Dolce Vita“.

Wir laufen mit Javier bis ins Zentrum der Stadt, Huancayo wirkt modern, die Menschen sehen nach Großstadt aus. Wieder kommen uns zwei junge Frauen entgegen, die uns eine Tour anbieten wollen. Rund um Huancayo gibt es viel zu sehen. Nur die Touristen fehlen. In Huancayo selbst tut sich unser Gastgeber schwer uns Besonderheiten der Stadt zu zeigen. Zufällig treffen wir seine Cousine Maria und sie lädt uns zum Abendessen ein. Es gibt Pasta „a la Peruana“. Der Abend wird lustig mit Rotwein, Zaubertricks und Politik. In Peru ist man der Auffassung, dass Europa das Paradies wäre und in Europa alles läuft. Vor allem in der Politik. Doch diesen Glauben müssen wir ihnen rauben. Vielleicht wirken die Probleme über den Pazifik weniger groß, doch auch in Deutschland gibt es Korruption, große Wirtschaftskonzerne werden nicht sanktioniert, weil sie zu mächtig sind. Eben auch wie überall auf der Welt. Die Wohnung von Maria ist modern eingerichtet. In ihrer Wohnstube steht ein zweiter unbenutzte Herd. Wir sprechen sie darauf an. Sie lächelt. Es wäre ein Hochzeitsgeschenk gewesen. Dann zählt sie auf was sie noch alles zu ihrer Hochzeit bekommen hat. Es sind fast alle Möbelstücke der Wohnung inklusive der Wohnung selbst. Heiraten in Huancayo lohnt sich. Nicht selten entsteht ein Wettstreit zwischen den Familien. Da kann auch schon mal ein Auto oder ein Apartment verschenkt werden. Na mal sehen was sich machen lässt in den paar Tagen in Huancayo scherzen wir. Da wird uns schon Hilfe bei der Partnersuche angeboten. Wir lehnen trotz des verlockenden Angebot ab.

Aus zwei mach sechs

Am nächsten Morgen sind wir endlich mit Yannet verabredet. Sie ist die Chefin von Agropia. Der Grund warum wir eigentlich in Huancayo sind. Agropia stellt Chips und frittierte Maiskörner aus okölogischem und fairem Anbau her, die dann schon als Fertigprodukte nach Deutschland und Frankreich verschickt werden. Am Stadtrand steht die kleine Fabrik. Alles sieht sehr ordentlich aus. Uns werden erst einmal die produzierten Chips als Kostprobe angeboten. Ich kenne Chips schon aus Deutschland und bin amüsiert jetzt am Produktionsort zu sein. Die Besprechung dauert eine Weile, weil viel zu tun ist, einiges nicht gefilmt werden kann, weil der Prozess zu lange dauert und wir immer wieder darum bitten müssen alles noch einmal langsam zu wiederholen. Am Wochenende wird nicht gearbeitet, d. h. wir können erst ab Montag drehen. Drei Tage Leerlauf für uns. Arbeitsmeeting auf Spanisch beendet. Es hat alles geklappt, aber der Kopf raucht etwas.

Als wir nach Hause kommen hat Javier eine Überraschung für uns. Vor der Tür steht ein kleiner gelber VW Käfer. Besonders in Huancayo sind uns die vielen alten Autos aufgefallen. Es gibt sogar ein Kinderspiel. Man ruft „Sapito“ (kleiner Frosch) und die jeweilige Farbe, wenn man einen sieht. Auch wir beteiligen uns am Spiel. Der Gang geht schwer, doch dann fährt er los, der alte Rennwagen. Mit dabei ist diesmal Javiers Cousin Hernán. Er ist nicht überzeugt von den Fahrkünsten seines Verwandten, steigt aber trotzdem ein. Der kleine Käfer quält sich den Berg bis zu einem Aussichtspunkt hinauf. Beim Ausblick über die Stadt fragt uns Hernán, ob wir nicht Lust hätten morgen mit auf eine Hochzeit zu kommen. Wir sagen zu, aber verweisen auf unsere eher kaputten Schuhe und unsere sportliche Kleidung. Der Anzug für Sponatanhochzeiten hat dann doch nicht mehr in den Rucksack gepasst. Wir werden kurz gemustert. Dann nickt Hernán ab.

Den Samstagmorgen verbringen wir, wie scheinbar andere Familien in Huancayo auch in der Werkstatt. Bei dem Verkehr in Huancayo kein Wunder. Der kleine Sapito war im Stadtverkehr nicht stark genug. Die Lampe ist kaputt und der Lack ab. Es gibt aber tatsächlich noch einen Fachbedarfladen für Käfer Ersatzteile. Der Lack wir abgeschliffen, neue Masse aufgespachtelt, wieder abgeschliffen und mit Farbe bespritzt. Wie neu. Glück gehabt.

Samstag ist großer Hochzeitstag in Peru. So verwundert es auch nicht, dass wir erst einige Minuten auf der falschen Hochzeit tanzen, bis ein Freund von Hernán bemerkt, dass er das Brautpaar gar nicht kennt. Wir ziehen uns mit einem leichten Schmunzeln zurück. Vor der richtigen Hochzeit begrüßt uns dann schon ein LKW mit Bierkästen. Das Brautpaar feiert in einer Art Halle, die spärlich geschmückt ist. Als wir gegen frühen Nachmittag ankommen, übergeben einige der 200 Gäste gerade ihre Geschenke. Das Überreichen der Geschenke ist eine Zeremonie. Vom Gemüsekorb bis zum Auto ist alles dabei. Eine Blaskapelle spielt den Takt vor und die Schenker tippeln in in kleinen Schritten nacheinander bis sie beim Brautpaar angekommen sind. Dann wird dieser Vorgang noch einmal mit Bierkästen wiederholt. Irgendwann dürfen die Gäste dann auch trinken, aber das erfolgt ebenfalls nach einer bestimmten Regel. Es gibt eine Bierflasche und einen Becher. Alle stehen im Kreis. Der erste in der Reihe schenkt sich einen kleinen Schluck in den Becher und gibt die Bierflasche an seinen Nachbarn weiter. Dann wird sich zugeprostet. Aber nur der mit dem Becher trinkt. Der Becher wird maximal in 2 Schlucken fast leer getrunken. Der kleine Rest im Becher wird auf den Boden geschüttet für die Pachamama (Mutter Erde). Dann geht der Becher weiter an den nächsten, der schenkt sich wieder ein und gibt die Bierflasche an seinen Nachbarn und so weiter. Wir haben relativ schnell gemerkt, dass weniger mehr ist, denn im Kreis können auch schon mal mehre Bierflasche rotieren. Durch die kleinen Schlucke wird man weniger schnell betrunken. Wenn nicht getrunken wird, dann tanzen alle. Aber es geht auch beides gleichzeitig. Entweder zu Blasmusik in kleinen Tippelschritten oder zu Cumbia (traditioneller peruanischer Musik) in größeren Tippelschritten mit etwas mehr Hüfte. Man hat Freude daran den Deutschen Tanzen beizubringen, mit uns Fotos zu machen oder uns zu Fragen wie wir die Peruaner finden. Gegen zehn Uhr abends leert sich der Saal etwas, alle sind gut angetrunken. Wir besorgen uns noch etwas zu Essen, denn das haben wir nicht so richtig auf der Hochzeit gefunden.

Es gibt nicht alles soviel wie Bier in Huancayo. Es fehlt vor allem an Wärme, Wasser und Toilettenpapier. Es ist normal in geschlossenen Räumen mit dicker Jacke zu sitzen. Kinder haben sogar Wollmützen auf. Heizungen gibt es nicht. Meine Nase ist eigentlich permanent kalt. Es sei denn, die Sonne scheint. Dann brennt sie und man darf sich nicht zu sehr an den Sonnenstrahlen laben, um keinen Sonnenstich zu bekommen. Das Schlafen ist nur im Schlafsack oder mit mehreren Decken möglich. Wärme bringt auch eine heiße Dusche, die ist dann aber wirklich sehr heiß. Dieser Plan funktioniert aber nur, wenn es tatsächlich Wasser gibt. Manchmal kommen nur Tropfen aus dem Wasserhahn und manchmal gar kein Wasser. Am nächsten Morgen geht es dann plötzlich wieder. Toilettenpapier, was eigentlich in ganz Peru auf Toiletten nicht vorhanden ist, sollte man immer bei sich haben. Man sieht auch Leute, die mit so einer Papierrolle spazieren gehen und auch in unserer Unterkunft hat jeder seine eigene Rolle. Dafür kann man es auch an jeder Ecke kaufen wie Zigaretten eben. Man muss es eben nur wissen. Rauchen ist in Peru übrigens nicht üblich.

Dann acht, wer hät‘s gedacht

Aus dem Schlafsack zu klettern, ist eine besondere Herausforderung. Halb sieben am Morgen umso mehr. Es ist Dienstag und wir können endlich anfangen zu drehen. Wir besorgen uns noch ein paar Blätterteigspezialitäten und ein Brötchen mit Ei. An jeder Ecke, wirklich an jeder Ecke, kann man sich irgendetwas kaufen. Es gibt unzählige Tante-Emma-Läden, Essensstände mit gegrilltem Fleisch, belegten Brötchen, Süßigkeiten oder frischen Säften. Javier erklärt uns, dass sich jeder irgendwie über Wasser halten muss und so werden die Menschen kreativ und verkaufen alles was geht. Wir laufen gerade an einer Schule vorbei. Die Süßigkeiten und Spielzeugstände werden von Schülern belagert. Sich etwas Kleines zu gönnen scheint bei dem Angebot unvermeidlich. Wir haben uns schnell an diese Lebensart gewöhnt. Kurz nach acht sitzen wir dann im Auto von Silvestre und Pedro. Silvestre ist der Technik-Chef von Agropia und Pedro sein Assistent. Gut 45 Minuten geht es bergauf nach Aymara. Aus den Lautsprecher des Autos tönen Gitarrenklänge und spanischer Gesang. Die Musik untermalt perfekt den Anblick, der sich uns bietet. Grüne Berge und Täler, unterbrochen von Anbauflächen, die sich über weite Strecken der Berghänge verteilen. Wir treffen auf Schafhirten und Schafe, die uns den Weg versperren. Es ist Andenromantik pur.

In Aymara angekommen werden die Schlaglöcher größer und der Nebel dichter. Wir laufen einen kleinen Hügel hinauf und dort bereiten gerade ein paar Bäuerinnen und Bauern ein Feuer vor. Es ist für unser Mittagessen gedacht. Neomi, eine Kartoffelproduzentin, hat extra ihren festlichen Rock mitgebracht und eine Blume steckt in ihrem Hut.

Normalerweise würde sie so nicht auf dem Feld arbeiten, aber heute ist ein besonderer Tag. Noemi ist etwas aufgeregt, als wir ihr Kamera und Mikrofon vor die Nase halten. Um sie herum stehen die anderen Mitglieder der Kooperative und schauen ihr gespannt über die Schulter. In 4000 Meter Höhe wachsen nicht nur gelbe Kartoffeln in der Erde, sondern auch rote und blaue. Es ist ein ungewöhnlicher Anblick.

Noemi erzählt, dass sie als Bäuerinnen den Klimawandel bei ihrer Produktion deutlich merken. Seit fünf Jahren hat sich die Regenzeit stark verändert, manchmal regnet es zu viel, manchmal zu wenig. Neue Schädlinge sind aufgetaucht und in einem Jahr ist die gesamte Ernte ausgeblieben, weil es zu stark geregnet hatte. In der Mittagspause gibt es dann eine Kostprobe von den blauen und roten Kartoffeln mit Käsecreme und Lamm. Alles gegart auf Steinen im Erdloch. Nach dem Mittag hält Silvestre noch eine Ansprache und auch wir werden zu ein paar Worten überredet. Dann müssen wir noch in den Arbeitsnachweishäften der Bäuerinnen und Bauern unterschreiben. In diesem Heft wird alles genau protokolliert. Einkauf, Ernte, Düngemittel und Weiterbildungen. Auch bei Naomi geht es genau zu. Alle ihre Utensilien für ihre Arbeit sind beschriftet. Die Kartoffeln für Agropia und die Kartoffeln für den Markt. Dann zeigt uns Naomi noch stolz ihr Meerschweinchenzucht. 120 der kleinen Nager tummeln sich in einer kleinen Halle. Auch Hasen gibt es. Zurück in der Fabrik von Agropia, erklärt uns Yannet, dass es besser wäre am Donnerstag weiterzufilmen, d. h. wir haben wieder einen Tag frei.

Zum Feierabend gönnen wir uns ein Eis. Genauer genommen frittiertes Eis. Dabei wird eine fetthaltige Milch mit Früchten oder Schokolade gemixt und auf einer geraden Fläche auf -15 Grad gefroren. Dann wird mit einem Spachtel die dünne Eisschicht zu Rollen abgetragen. Es gibt noch verschiedene Toppings dazu. Die Zubereitung ist ein Spektakel. Als wir hören, dass es das ganze auch schon in Dresden gibt und zwar für 7 Euro statt den hier 1,50 Euro beschließen wir am nächsten Tag wiederzukommen.

Dann neun

Seit einer Woche sind wir in Huancayo. Wir sitzen gerade beim Frühstück, als die Kinder der Familie wieder nach Hause kommen und der Vater uns erklärt, dass es einen Generalstreik gibt. Alle Transportunternehmen und der Schulsektor sind betroffen. In diesem Moment klingelt unser Telefon. Es ist Yannet. Sie erklärt uns, dass der Weg zur Fabrik durch Straßenspeeren blockiert wäre und wir erst am Freitag kommen könnten. Dumm gelaufen. Die Tickets für den Nachtbus nach Lima sind schon gekauft, aber nicht umtauschbar. Im Zentrum ist es anders als angekündigt relativ ruhig. Auf dem Weg dahin begegnen uns weniger Taxis und Busse. Einige Läden haben geschlossen. Die Polizei steht vor Regierungsgebäuden und Banken. Ein Zug von 100 Menschen zieht mit Kochtöpfen und Stöcken durch die Straßen. Ab und zu kommen neue Protestzüge vorbei. Ein Mann erklärt uns, dass seit einer Woche der Ölpreis gestiegen ist und alle Bereiche davon betroffen sind. Zum Beispiel sind die Lebensmittel teurer geworden.

Und zwölf

Neben mir hustet es. Karl ist krank. Fieber. Auch heute ist das Filmen nicht möglich. Es ist Freitag. Das heißt noch ein Wochenende in Huancayo. Wir rufen Yannet an, dass wir erst am Montag kommen, um die letzten Bilder zu drehen. Ich verbringe die Tage im „Parque de la Identidad“ (Park der Identität). Die Gestaltung erinnert mich an Hundertwasser. Ich lausche der Musik, beobachte Wolken und lese Destojewski. Dünne Fäden ziehen sich aus den Wolken wie Zuckerwatte. Stunden vergehen. So schnell wie das Fieber gekommen ist, ist es auch wieder verschwunden. Unser Host muss nach Lima und wir ziehen in ein Hostel um.

Dann ist es endlich Montag, wir stehen vor der Fabrik und treffen noch einmal Noemi. Bevor es losgeht, müssen wir noch Schutzkleidung anziehen. Dann kommen die ersten Kartoffeln, werden geschnitten, gewaschen, frittiert und verpackt. Immer wieder kontrolliert von der Produktionschefin. Es läuft wie am Schnürchen und doch steckt im ganzen Prozess mehr Handarbeit als wir gedacht hätten. Zum Mittag gibt es, wie sollte es anders sein, die frischen Chips. Die Chefin erzählt stolz, dass hier viele Frauen arbeiten, die einen guten Lohn bekommen und somit unabhängiger sind.

Uuund Cut. Die letzte Szene ist im Kasten. Was lange währt, wird endlich gut. So sitzen wir nach 12 langen, kalten und schönen Tagen wieder im Bus. Wir verlassen nach einiger Zeit das Hochgebirge, um in wärmere Regionen an die Küste Perus zu fahren.