Mai 28 2018

die Gewerkschaft der Herzen

21. Mai 2018

Cusco

von Karl

 

Es muss ja auch mal ein Ende haben. Unser Pech. Dass wir eigentlich in 1,5 Tagen die Strecke Porto Velho bis Cusco schaffen wollten, ist schon jetzt illusorisch, aber vielleicht kommt jetzt die verdiente Wende. Wir sind gerade aus dem Bus vor dem brasilianischen Grenzposten herausgepurzelt, schon werden uns Plätze im einzigen Mini-Bus nach Puerto Maldonado zu besten Preisen angeboten. Sofort schlagen wir zu, hieven unser Gepäck mit aufs Dach und gehen mit unseren Reisepässen zum Polizei-Büro. Der Grenzbeamte erklärt uns, dass wir bei der Einreise nur 15 Tage Aufenthalt in Brasilien angegeben haben, heute wäre schon der Tag 24 und für jeden Tag drüber wird eine Steuer fällig. Er ist aber so kulant und verlängert das im System. Ich hielte diese Angabe für bloße Statistik, aber offensichtlich hat sie Folgen. Gibt es doch nette Polizist*innen? Als uns der Bus bei dem peruanischen Büro rauswirft geben wir auch gleich 60 Tage an. Bestimmt viel zu viel, aber sicher ist sicher. Grenzbeamt*innen sind vielleicht nicht immer gut drauf.

Peru gibt uns etwas Sicherheit wieder, weil wir nun unser gebüffeltes Spanisch auch etwas anwenden können. Wir können uns selbst verständigen, das gibt uns mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Der Mini-Bus düst so schnell er kann durch den schon gewohnten Regenwald. Nach Sonnenuntergang erreichen wir Puerto Maldonado und nehmen ein dreirädriges Moped-Taxi zum Busbahnhof von dem die Busse nach Cusco abfahren. Für uns ist es ungewohnt überraschend, dass ein Dutzend verschiedener Anbieter nahezu zeitgleich abends zum selben Zielort abfährt. Das muss diese Marktwirtschaft sein, wo alle umeinander konkurrieren und niemand verdient. Etwas gerädert von den letzten Tagen nehmen wir ein „Bett“, statt des üblichen Sitzplatzes. Das heißt dann aber nur, dass der Sitz etwas komfortabler ist. Die Lehne lässt sich weit zurückklappen. Der Reisebus fährt über Nacht. Da es an einer Klimaanlage fehlt, wird es auch zusehend kälter im Bus, während wir uns merklich Serpentinen hochschlängeln. Erste Kopfschmerzen machen sich breit.

In Cusco fallen wir aus dem Bus, greifen das Gepäck und fangen an uns zu orientieren. Ohne Ansage, ziemlich abrupt, waren wir einfach da. Ich verlasse den Busbahnhof, das Terminal Terrestre, und merke wie beim leichten Anstieg mein Herz anfängt ungewöhnlich schnell und stark zu pochen.

Ein Taxi bringt uns dann zum Couchsurfer, der bei unserer Ankunft auch aus dem Fenster winkt, aber dann nicht die Tür öffnet. Etwas verärgert warten wir noch eine viertel Stunde, aber jedes Klingeln und Klopfen hilft nicht. Wir sind verblüfft und rätseln warum er nun die Tür nicht öffnet und uns hier sitzen lässt. Wir ziehen um die Ecke und der Zufall bietet uns direkt ein Hostel an. Nennen wir es Glück im Unglück.

Endlich ankommen. Es ist das schöne Gefühl, endlich einen Anker zu haben. Endlich können wir wieder unseren Kram aus dem Rucksack in allen Ecken verteilen. Der neue Gastgeber lässt mit sich reden und wir bekommen sogar noch Frühstück. Der Weg in den vierten Stock bringt mein Herz erneut auf Höchsttouren, wo ich doch sonst kein Problem mit Treppen habe. Bei meinem ersten Coca-Tee kann ich den Blick über Cusco schweifen lassen. Wir haben in unserem Glück sogar noch einen fulminanten Ausblick auf Cusco erhalten.

Cusco schmiegt sich zwischen Bergen in einem weitläufigen Tal und ist im Zentrum durch rote Kolonial-Dächer geprägt. Der übliche Morgennebel über Cusco zieht gerade langsam von dannen. Die Berge um Cusco haben nur wenige Bäume. Nicht verwunderlich auf ca. 3.500 m über Meeresspiegel, da beginnt in den Anden die Baumgrenze. Ja, Cusco ist eine der höchsten Städte und deshalb auch die ganzen körperlichen Beschwerden. Die Höhenkrankheit hat uns erwischt. Kopfschmerzen, etwas Übelkeit, allgemeine Benommenheit. Vor allem aber schlapp. Eigentlich fühle ich mich den ganzen Tag wie frisch aufgestanden, nach einer hart durchzechten Nacht. Der berühmte Kater danach. Nur, dass er nicht weggeht. Mensch kann sich nur bedingt dran gewöhnen. Oft werden die Coca-Blätter empfohlen. Die sollen etwas helfen. Zum Kauen oder als Tee aufgebrüht. Schmeckt übrigens wie Kräuter-Tee nur in leckerer. Die Höhe bringt auch ungewohnte Kälte mit sich, so gehen hier die Temperaturen bis kurz vor dem Gefrierpunkt runter und erreichen selten 20 Grad.

Wir versuchen uns eine peruanische SIM-Karte zu organisieren, aber das gestaltet sich als Schnipsel-Jagd. Die ersten Läden verkaufen keine SIM-Karten, obwohl Handy-Netz-Werbung draußen dran ist. Dann versuchen wir es in den Handy-Läden, aber die verweisen auf einen größeren. Den endlich gefunden, stellen wir fest, dass die SIM-Karten dieses Anbieters nicht mit unseren Handys funktionieren. Also geht das Spiel auf ein neues los, aber tatsächlich funktioniert es dann irgendwann.

Wir kommen immer wieder an Touri-Sachen vorbei wie alte Kirchen und Inka-Ruinen. Die ganze Stadt ist ein einziges Tourismus-Zentrum. Alles ist darauf ausgerichtet. Ein Hostel reiht sich manchen Orts ans andere. Die Sehenswürdigkeiten haben stolze Preise, sodass wir nix von innen sehen und eigentlich dreht sich auch alles um Machu Picchu, den Inka-Ruinen einige Kilometer von hier. Machu Picchu gehört zu den Top Ten Sehenswürdigkeiten in Südamerika und entsprechend viele Touris sind hier unterwegs. Uns interessiert das erstmal nicht, denn für uns ist die Fahrt zur Fair-Trade-Kakao-Plantage angedacht. Dafür bereiten wir uns vor.

Wir müssen dafür in Quillabamba umsteigen, und suchen das Busterminal nach Quillabamba. Tatsächlich finden wir das mit Hilfe sehr netter Bahnmitarbeiter. So wie wir das Terminal betreten, prasseln die Rufe auf uns ein. Die zig Anbieter möchten uns alle ihren Bus verkaufen. Sie verstehen auch nicht, dass wir gar nicht zum Machu Picchu möchten. Es gibt nämlich eine günstigere Route zu Machu Picchu über Santa Maria, was auf halber Strecke nach Quillabamba liegt. Montag wollen wir zurückkehren zum Busterminal.

Die nun übrige Zeit nutzen wir für einen Aufstieg zum Christo Blanco. Eine kleine Jesus-Statue, ähnlich der berühmten in Rio de Janeiro, thront am Rande der Stadt. Es ist auch die einzige Sehenswürdigkeit ohne teuer Eintritt zahlen zu müssen. Tausende Stufen führen uns zu ihm.

Wir müssen einige Pausen machen, weil unsere Herzen rebellieren. Es tut schon richtig weh. Das Herz pocht mit einer Gewalt gegen die Rippen, dass ich das Gefühl habe, es würde ohne Brustkorb herausspringen. Wenn unsere Herzen eine Gewerkschaft gründen würden, sie hätten schon längst gestreikt. Es kostet uns einiges an Zeit die Stufen zum Jesus zu erklimmen, aber wer sagt schon, dass der Weg zu Gott einfach ist. Scheint mir aber auch kein guter Gott zu sein, wenn er uns so quält. Dieser Gott kam mit den Konquistadoren nach Cusco. Vormals war Cusco Hauptstadt des Inka-Reiches, aber die Spanier*innen haben erstmal alle versklavt, alle Reichtümer geplündert und die Stadt zerstört. Danach wurde ihre Kolonie auf den Überresten errichtet und nun sind die europäischen Touris überall.

Zu Jesus‘ Fuße genießen wir den Überblick, horchen den Touri-Guides der Gruppenreisenden und schauen uns vom Aufstieg fertige Touris an. So vergeht etwas Zeit in der Sonne.

Selbst der spätere Abstieg macht uns noch zu schaffen und wir steuern nach kleinen Umwegen unsere Unterkunft an. Geplagt von der Sonne und den rebellierenden Herzen, versuchen wir uns etwas zu beruhigen, sodass wir morgen fit sind wenn es nach Quillabamba geht.

PS.: Die Stadt-Flagge von Cusco ist wunderschön (-;


Mai 24 2018

Kaltes Fieber

Ich blinzle, es ist hell. Durch das große Fenster scheint die warme Morgensonne. Langsam merke ich den Schmerz im Kopf und in den Gliedern. Dazu ein Unwohlsein. Ich richte mich auf. Mein Kopf fühlt sich an wie ein Nagel, der mit voller Kraft von einem Hammer getroffen wurde, immer und immer wieder. Ich bin krank. Ein Zustand, der eine Menge Unannehmlichkeiten bereitet, erst Recht auf Reisen.

Gestern noch lagen wir in unseren Hängematten auf dem Schiff am Hafen. Haben den Arbeitern beim Ent- und Beladen der unterschiedlichen Waren zugeschaut. Mehre Säcke Reis trugen sie auf ihren Schultern die kleine Planke bis in den hinteren Teil des Schiffes. Wie die Ameisen reihen sie sich aneinander. Mindestens 60 kg müssen das pro Ladung und Mann sein. Der Schweiß tropft ihnen von der Stirn. Bis spät in die Nacht arbeiten sie. Wir hingegen schaukeln neben Carlos aus Argentinien und Alex aus Brasilien in unseren Hängematten und schauen auf die Lichter des Hafens. Die beiden haben uns erst auf die Idee gebracht länger zu bleiben. Sie würden noch drei Tage hier schlafen bis ihr Auto mit einem anderen Schiff in Porto Velho ankommt. Nun hätten wir uns etwas besseres vorstellen können als noch eine weitere Nacht auf diesem Schiff zu verbringen, aber unserer Couchsurfer ist nicht zu erreichen und eine kostenlose, sichere Unterkunft ist besser als keine. Am nächsten Morgen sind die Arbeiter immer noch am Beladen. Der Mensch als billige Arbeitskraft. Inzwischen hat sich unser Couchsurfer Homely gemeldet. Wir verabschieden uns von Carlos und Alex und wollen uns in Argentinien wiedersehen.

Die Schranke der Wohncommunity öffnet sich. Das Taxi darf einfahren. Wir sind in einer abgeschirmten Wohngegend gelandet. Über 450 Wohnungen gibt es hier. Ein kleines Dorf hinter hohen Mauern und Stacheldraht. Es gibt alles was man braucht. Ein Schwimmbad, einen Fußballplatz und einen Einkaufsladen. Homely bittet uns in sein Haus mit Garten, moderner Küche und riesigem Flachbildfernsehen. Unser Host steht seinem Haus in nichts nach. Er ist sehr groß, muskulös, kurze Haare und achtet auf sein Äußeres. Seine 38 Jahre sieht und merkt man ihm nicht an.

Einige Kilometer entfernt vom Hafen befinden wir uns in einer anderen Welt. Der Lohn der Hafenarbeiter reicht hier wahrscheinlich gerade mal für die Abgaben fürs Rasenmähen. Homely ist Couchsurfer durch und durch. Auf einer Karte an der Wand ist der Weg zum Bus und zum Supermarkt eingezeichnet. Daneben Flaggen von Ländern, die er schon besucht hat und Fotos von glücklichen Gästen. Bei einem Host zu übernachten, ist wie ein Überraschungsei. Man weiß nie was man bekommt. Durch vorheriges Prüfen wie etwa leichtes Schütteln oder dem Profil des Hosts lassen sich Indizien feststellen. Doch wie wir schmerzlich aus unserer Kindheit wissen, muss sich hinter dem dumpfen Klappern nicht die ersehnte Sammelfigur verstecken. Sondern kann auch ein schnödes Puzzle sein. So oder so weckt der Inhalt unser Interesse. Diesmal haben wir den aktiven, interessierten, motivierten Couchsurfer-Typ gezogen. Er zeigt uns seine Stadt, ein kleines Kunstmuseum und das groß angekündigte Highlight: eine alte Eisenbahnstrecke. Sie hat unzähligen Menschen beim Bau während des Kautschukbooms das Leben gekostet. Die alten Wagons stehen verrostet in einer großen Halle. Hier könnte man gut Horrorfilme drehen.

Porto Velho haut uns nicht wirklich vom Hocker. Einen zentralen Platz, ein Zentrum suchen wir vergebens. Verkaufsläden und Bürogebäude reihen sich aneinander. Während Homely zum Pilates geht, treffen wir Susi. Sie ist auch Mitglied in der Couchsurfing Community, sehr aufgeweckt, hat ein schrilles lautes Lachen, das wir alle zwei Sätze hören und liebt Selfies. Hier scheinen alle im Couchsurfing-Fieber zu sein. Mitten im Regenwald ihr Tor zur Welt. Couchsurfing heißt aufgenommen zu werden, in ein Haus, in eine Stadt, in eine Lebenswelt. Es heißt Freunde zu treffen, so schnell wie vielleicht damals nur im Kindergarten. Es heißt aber auch zu teilen und zu geben. Seine Privatsphäre, seine Geschichten, seine Reisefreude. Es heißt zu Lachen, zu sozialisieren, zu erzählen. Immer wieder das gleiche Programm. Wo kommst du her? Was machst du? Wie lange reist du schon? Was gefällt dir an Brasilien? Wie findest du die Menschen in Brasilien? Dann antworte ich meistens: Sie sind nett, freundlich, aufgeschlossen. Aber ich keine nur 15 von 200 Millionen. Deswegen mag ich mir kein Urteil bilden. Dafür kenne ich aber mindestens 100 Moskitos und die sind alle böse. Da bin ich mir sicher. Mal sind die Antworten lustig, mal ehrlicher. Und dann ist da noch die Sprachbarriere, die die ganz großen Fragen der Menschheit manchmal verhindern. Aber daran scheitern selbst die Philosophen, die es in ihrer Muttersprache mit sich selbst diskutieren. Die kürzeste Verbindung zwischen Menschen ist dann immer noch ein Lächeln oder ein Bier. Man sagt auf Reisen ist die Freiheit am Größten. Aber es heißt auch sich anzupassen. Seine Bedürfnisse zurückzustellen und nach Nächten mit wenig Schlaf eine weitere in Kauf zu nehmen. Homely und Susi nehmen uns mit in eine Bar. Der Schmerz in meinem Kopf sagt nein, aber ich will ja auch keine Spielverderberin sein. Denn genau das geht beim Couchsurfern nicht. Couchsurfing ist ein Lebensgefühl des ewig gut gelaunten Reisenden, der hungrig und durstig nach neuen Erfahrungen ist. Der Abend wird schön. Eigentlich wie immer, wenn man sich auf Neues einlässt. In Brasilien ist es nicht üblich einzeln zu tanzen, sondern zu zweit, im Paar. Doch die letzten Tanzstunden sind eine Weile her und der Tanz auch ein ganz anderer. Hier wird Foro getanzt. Eigentlich ganz einfach, ein Schritt vor und wieder zurück und dann von vorn, 2/4 Takt. Doch dann tanzt doch jeder wie er will. Am Ende des Abends können wir die scheinaberen Grundschritte. Es ist 3:15 Uhr. Die Band denkt noch nicht ans Aufhören. Mir fallen die Augen zu. Auch das ist Reisen. Müde sein.

Am nächsten morgen bin ich endgültig an die Couch gefesselt. Der Weg zum Bad bereitet mir schon Schwierigkeiten. Mir ist heiß. Mir ist schwindelig. Ich will nie wieder etwas essen. Und das soll bei mir schon was heißen. Die Moskitos, die über mir Kreisen erinnern mich an das Schreckgespenst Malaria. Doch meine Temperatur liegt bei 37 Grad. Zum Arzt oder nicht? Das ist hier die Frage. Ach das ist bestimmt nur eine Grippe denke ich und bin etwas unglücklich darüber, dass der Stress mit der Rückerstattung und der Krankenversicherung meine Entscheidung beeinflusst. Ich google die Malaria-Symptome. Es muss nicht notwendigerweise Fieber auftreten. Es gibt auch Malariafälle mit sogenannten Kaltem Fieber. Dabei hat man die gleichen Symptome nur ohne Temperatur. Ich bin so schlau wie zuvor. Drei weitere Tage werde ich auf der Couch verbringen. Hauptsächlich mit schlafen, einem schlechtem Gewissen gegenüber unserem Host und Filme schauen. Immerhin können wir das zusammen machen. Ein Gruß aus Deutschland bringt mich zum Lachen. Der Film Familienfieber. Wie passend. Eine Komödie mit wunderbaren Dialogen zwischen Berlinern und Brandenburgern und neurotischen Charakteren. Am Ende wird natürlich alles gut und darauf hoffe ich auch. Mein Fieber bleibt kalt und so entschließen wir uns nach fünf Tagen in Porto Velho aufzubrechen und die zweitägige Fahrt nach Cusco aufzunehmen.

Ich blinzle, es ist hell. Das Licht der Neonröhren im Busbahnhof in Rio Branco und die Metallkante in meinem Rücken machen mich alle halbe Stunde wach. Die Couch wurde zwangsweise gegen eine Metallbank in der Wartehalle getauscht. Unser Bus aus Porto Velho hatte aufgrund eines Streiks Verspätung. Die einzige Busverbindung an diesem Tag verpasst, sehen wir uns gezwungen 20 Stunden am Busbahnhof zu warten. Jetzt ist es 00:30 Uhr. Fünf Stunden liegen noch vor uns. Auch das ist Reisen. Es kommt immer anders. Nur diesmal warten wir auf den Bus nach Peru. Die Vorfreude ein neues Land zu entdecken, lassen das harte Nachtlager etwas weicher werden. Und da ist er wieder, der Hunger nach neuen Erlebnissen.


Mai 12 2018

Caesar ist stark

Porto Velho

9. Mai 2018

 

Ein schrilles Pfeifen zerreißt die Stille. Stille in die ich seit zehn Minuten hineingehört habe. Immer mal unterbrochen von Flip-Flops die über Metallboden scharen. Die Stille wäre keine Stille wenn ich das laute Brummen des Schiffsdiesel noch hören würde. Doch das ist zu einem Grundrauschen geworden. Irgendwo im Hintergrund. Vor zehn Minuten hat der oder die erste an meiner Hängematten-Aufhängung gerüttelt. Unabsichtlich bestimmt. Im Vorbeigehen. Seitdem habe ich den begrenzten Ausschnitt beobachtet den ich rechts an meiner Hängematte vorbei sehen kann. Hinter der Reling liegt der Rio Madeira und Regenwald an dessen Ufer. Willkommen auf der „Almte Moreira IX“ unserem Schiff, unserem zu Hause, unseren Fenster in den Amazonas-Regenwald, unserem Bus nach Porto Velho, unserem Gefängnis und unserer Klassenfahrt.

Unser Fenster

Unser Schiff fährt dicht am Ufer, weil wir flussaufwärts unterwegs sind und am Ufer die Strömung weniger stark ist. So kann ich die vielen großen und kleinen Sträucher und Bäume gut beobachten. Mit ihren ausladenden Zweigen. Das Ufer ändert sich ständig. Manchmal kommt Schwemmland und dann tritt die Vegetation hinter riesigen Pfützen zurück. Manchmal rote Steilhänge. Manchmal stehen Holzhütten auf Stelzen mit oder ohne Menschen davor. Hölzerne Boote schaukeln in unserer Bugwelle oder fahren an uns vorbei. Die Holzboote sind ungefähr zehn Meter lang und auf der Heckreling ist ein unverdeckter Motor angebracht. Die Welle zur Schraube ist gute zwei Meter lang, sodass mensch den Eindruck erlangen kann, die Boote fahren mit übergroßen Stab-Mixern die flach ins Wasser gehalten werden.

Bei Holzhütten gibt es meist auch kleine Plantagen. Je mehr Holzhütten beieinander stehen, desto öfter kommt noch ein Sozial-Zentrum, eine Schule, ein Fußballplatz oder eine Kirche hinzu. Alles entsprechend klein, aus Holz und bunt angestrichen. Menschliche Siedlungen unterbrechen lediglich die unendliche Strecke des Regenwald-Ufers. Immer wieder schlüpfen aus den Wipfeln die langen weißen und die schnellen Blauen Vögel hervor. Die weißen stehen mit ihren langen Beinen oft am Ufer. Die grauen treten in Scharen auf und machen Lärm wie hundert ungeölte Fahrräder. Einmal lag am Ufer auch ein schwarzes Krokodil (Anmerkung: Der Autor hat keine Ahnung von Tieren und Pflanzen. Das Tier hält er für ein Krokodil, weil es halt so aussieht, wie er sich ein Krokodil vorstellt.) Aus dem kaffee-braunen Wasser des Rio Madeira taucht auch hin und wieder einer der grauen oder rosanen Flussdelphine auf.

Unsere Klassenfahrt

Schon mit Beginn der Reise merken wir, dass viele sehr gut gelaunt sind. Viele sind sehr gesprächig, sodass auch ich viele Menschen sehr schnell kennen lerne. Ein Großteil der Menschen ist auf dem Weg aus Venezuela in ein schöneres Leben in einem spanisch-sprachigen Land. So auch Kevin, mein Hängematten-Nachbar. Als er sich aus seiner Hängematte schält, werde ich erneut geweckt und mache es ihm gleich. Aufgrund der Enge geschieht das nicht, ohne dass wir uns gegenseitig wecken. Kevin ist auf dem Weg nach Peru. Er grinst fast ausnahmslos und ich habe ihn seinem Erscheinen nach auf 18 Jahre geschätzt. Tatsächlich ist er 25. Kurze schwarze Haare, langes Gesicht, dünn gebaut und flott zu Fuß. Kevin ist allein unterwegs. Wir unterhalten uns abends manchmal, von Hängematte zu Hängematte und dabei lerne ich venezolanisches Spanisch. „Pingue“ zum Beispiel ist eine starke Steigerung, die vor allem zusammen mit heiß und kalt verwandt wird. Mensch könnte es mit „bastante“ oder im weitesten Sinne mit „mucho“ gleichsetzen. Kevin ist ein wenig wie Mickey Maus‘ Goofy. So richtig scheint er keinen Plan zu haben, aber irgendwie hat er ständig das Glück, zufällig an sein Ziel zu kommen. ohne jemals wirklich traurig zu sein.

Diese ständige Freude, die Enge und die Zeit machen die Reise zu einer Art Klassenfahrt. Schnell freunden sich viele an. Da ist der Musiker, da der Draufgänger und dort der Ruhige. Einer erzählt mir, dass er drei Jobs in Venezuela hatte, von dessen Einkommen er sich im Monat gerade mal ein Huhn leisten konnte. Ein anderer fordert, dass der Bolivar, die venezolanische Währung, mit dem US-Dollar gekoppelt wird, damit die Hyperinflation ein Ende hat. Sie vereint die Flucht und das Wissen, dass Venezuela nicht so schnell stabil wird. Die nächsten Wahlen sind keine echten Wahlen, meint der eine. Wenn Maduro nicht gewinnt, gibt der Gewinner seine Macht an Maduro ab. Das Land hätte keine andere Wirtschaft außer die Erdöl-Industrie. Das macht die Situation zu einer Katastrophe. Hector erzählt, dass er zwei Töchter und eine Frau zu Hause hat. Er möchte in Peru arbeiten und diese versorgen oder nachholen.

Joseph, Caesar und Ramon reisen zusammen und möchten von Argentinien aus ihre Eltern und Geschwister unterstützen. Caesar ist 27, vielleicht 1,70m groß, ärmelloses türkises T-Shirt, muskulös gebaut. Caesar ist nicht ganz so überschwänglich und erklärt mir, dass Venezolaner*innen auch dann freudig sind, wenn ihnen grad was schlechtes widerfahren ist. Caesar hat Informatik studiert und einen Bruder in Buenos Aires. Sein Traum ist es, ein eigenes sicheres und freies Betriebssystem zu programmieren, dass viele verwenden. Er ist Fan von freier Software wie Linux. Wir können uns viel unterhalten und ich lerne dabei zusehend spanisch. Es ist hart. Den Satz „Kannst du es nochmal langsam sagen“ kann ich auf spanisch mittlerweile auswendig. Ich erzähle viel von unserer Reise, unseren Vorhaben, meinem Leben in Deutschland. Er ist sehr interessiert. Hinter den freudig-freundlichen Gesichtern vermute ich aber auch eine traurige Seite. Ich kann es mir schwerlich ausmalen, dass so viele Menschen so beschwingt ihr Land verlassen. Umso schöner, dass sie es mit Leichtigkeit machen. Ob er eine Freundin hat, frag ich Caesar.

Ja und Nein, sagt er.

Pause.

Ja, aber wir machen grad eine Pause, solange wie ich unterwegs bin.

Es klingt aufrichtig, aber nicht mehr so sorgenlos.

Unser Schiff – unser zu Hause – unser Gefängnis

Der Pfiff hat uns zum Frühstück gerufen. Vor dem Eingang in den Essensbereich steht schon eine Schlange. Ich reihe mich ein und schau mich wartend um. Das erste Obergeschoss ist im vorderen Bereich Stauraum und in der hinteren Hälfte der Hängematten-Bereich. Dieser Bereich ist auch überdacht durch den 2. Stock. Am Heck befindet sich, durch ein Plastikgitter abgetrennt, der Essensraum. Unten stehen noch mehr Sachen, die transportiert werden, wie beispielsweise, Farbdosen, Para-Nüsse oder Holzkohle. Vor allem aber stehen dort Autos. Auf dem obersten Deck gibt es eine überdachte Fläche mit Stühlen, ein Kiosk mit Fernseher, der Crew-Bereich und natürlich die Brücke. Sogar auf dem obersten Dach transportieren wir Materialien, wie beispielsweise Stühle. Auf dem Vorschiff ist alles verdeckt durch Planen, bis auf die Fahrräder und Stühle. Die Brücke ist sehr eng und gesteuert wird mit einem historisch wirkenden roten Steuerrad. Schon die Gesamterscheinung des Schiffes mutet historisch an. Besonders die anderen hölzernen Varianten dieser Schiffe, die wir öfters sehen, geben den Eindruck, dass schon im 19. Jahrhundert diese auf den Flüssen unterwegs waren.

Nach und nach dürfen wir in den Speisesaal, und wenn Menschen fertig gegessen haben, werden neue eingelassen. Ich lasse mir etwas vorgesüßten Kaffee in den Plastikbecher und zwei süße Milchbrötchen. Nach ein paar Tagen gibt‘s keine Brötchen mehr, dann gibt‘s kleine Kekse. An langen steinernen Tischen, nehme ich auf einen der weißen Plastikhocker platz. In den Margarine-Schachteln stecken Messer, mit dem ich die Brötchen aufschneiden und mit der salzigen Margarine bestreichen kann. Das ist das Frühstück hier an Bord.

Auf dem Rückweg schlängele ich mich an wartenden Menschen und Hängematten vorbei. Gute 50 Hängematten in allen Farben gibt es hier. Die meisten aus Stoff und nicht so billiger Plaste-Kram wie unsere. Wir glauben nicht, dass wir sie mehrmals brauchen, aber für das Schiff ist eine Hängematte unerlässlich. Die Hängematte hängen quer zum Schiff und überlappend passen drei nebeneinander. Mein Tag beginnt mit der Naht-Kontrolle. Jedes Mal wenn ich mich in die Hängematte setze, macht sie ein Geräusch, als wenn gleich Nähte reißen. Deswegen das Sicherheitsritual nach dem Frühstück. Auch tagsüber verbringe ich und viele andere ihre Zeit in der Hängematte. Lesen, schlafen, Musik-hören, Podcast-hören, unterhalten. Bei fünf Tagen die das Schiff braucht, haben wir viel Zeit für alles mögliche. So nähe und lese ich viel, was ich sonst nicht machen würde. Eingezwängt zwischen vielen Menschen, ohne Privatsphäre und kaum Raum in dem ich mich bewegen kann. Es hat auch etwas von Gefängnis.

Unser „Bus“ nach Porto Velho

Unser Weg führt von Manaus nach Porto Velho. Etwas den Amazons runter und dann rechts abbiegen in den Rio Madeira. Eine andere Verbindung über Land als das Schiff gibt es nicht. Es gab und gibt Planungen über eine Straße, aber diese ist wieder zugewachsen. Die Transamazonica soll Höhe des Äquators vom Atlantik bis zum Pazifik reichen. Sie würde auch Manaus und Porto Velho verbinden. In Brasilien heißt sie BR-319. Die anderen Länder neben Brasilien befürchten den brasilianischen Einfluss, sodass sie nicht ganz so eifrig hinter dem Projekt stehen. Aber auch indigene Völker und Umweltschützer protestieren, teils mit Besetzungen. Bis nach Manaus und damit ein erhebliches Stück ist schon fertiggestellt. Das Stück nach Porto Velho und weiter Richtung Grenze ist allerdings überwuchert und wurde nicht komplett asphaltiert. Sollte die Straße zukünftig Städte an das Straßennetz verbinden, würde das deren Wirtschaft unterstützen. Diese besteht aber zu nicht unerheblichen Teilen aus der Forstwirtschaft, der Landwirtschaft und dem Bergbau. Alle drei reduzieren den Regenwald schon jetzt nachhaltig, sodass im Bundesstaat Rondonia, wo wir hinfahren, ein Viertel des Waldes abgeholzt ist. Die Rohstoffe gehen oft nach Europa. Die Landwirtschaft produziert vor allem Soja, das Haupt-Futter in der industriellen Massentierhaltung. Für neue Felder wird Regenwald abgebrannt oder abgeholzt.

Schon jetzt hat Brasilien entlang der Transamazonica eine Blutspur gezogen. Mindestens 9 indigene Völker wurden ganz oder fast vollständig umgebracht. Da die Völker nicht gegen die selben Krankheiten immun sind, wie die zugewanderten Europäer*innen, wurden vielen der Völker bspw. mit Windpocken vergiftete Geschenke gemacht. Eine Windpocken-Pandemie tötete dann das indigene Volk. Erst spät wurde das europäische Märchen vom nahezu unbewohnten Regenwald widerlegt. Von den ehemals fünf Millionen Indigenen im Amazonas-Regenwald gibt es heute nur noch ca. 300.000. Viele werden noch heute diskriminiert oder durch Holzfäller und Bauern vertrieben. Die übrigen unkontaktierten Völker im Regenwald verhalten sich oft sehr aggressiv gegenüber Fremden, weil der mörderische Umgang der europäischen Nachfahren mit ihnen bekannt ist. Hätte es eine Busverbindung über die Transamazonica für uns gegeben, ich hätte mir sehr schwer getan, diese zu nutzen.

Porto Velho kommt

Zurück aufs Schiff. Wir halten an Tag 4 für ungefähr acht Stunden in Humaitá, wo etwas Ladung und vor allem Brasilianer*innen von Bord gehen. Mittlerweile nimmt das Langeweile-Gefühl zu und das Essen bleibt einseitig. Reis, Spaghetti, Bohnen und gekochtes Fleisch. Mittags und Abends. Jeden Tag. An einigen Tagen wird zusätzlich gegrillt auf dem Oberdeck. Ich unterhalte mich mit Ramon und frage ihn nach den Holzhaus-förmigen Booten, die vor jeder noch so kleinen Siedlung liegen. Es sind Baggerschiffe, sagt er. Später sehe ich auch größere im Fluss. Mittels einer Pumpanlage wird der Fluss-Schlamm angesaugt und über breite Holzrinnen geleitet. Dort soll sich das gesuchte und schwerere Gold ablagern. Vermutlich unter dem Einsatz des giftigen Quecksilbers, das die Arbeit effektiver macht.

An Tag 5 ist es endlich so weit. Agraranlagen werden sichtbar. Eine große Brücke und Hochhäuser kommen ins Blickfeld. Wir sind glücklich, weil bald können wir das Boot verlassen. Alle packen. Wir auch. Wir verabschieden uns von unseren neuen Freunden und wünschen uns gegenseitig viel Erfolg auf unseren neuen Wegen. Ich tausche mit Caesar Kontaktdaten und muss an unseren letzten Abend denken.

Er erzählte von seinen Eltern, die ihn ungern gehen ließen. Er selber würde nicht so viel an zu Hause denken und meint, seine Eltern seien halt sentimental. Er verkauft sich als stark, aber ich empfinde Mitgefühl. Es ist diese Stärke, die die andere Schwäche ausgleichen soll. Er erzählt, dass er seinen Eltern nicht gesagt hat, dass er mit Karten-Tricks in den Straßen Geld hinzuverdient hat. Touris seien sehr leichtgläubig. Dadurch konnte Caesar sich schickere Kleidung und Schuhe kaufen. Er und ich führen den herumstehenden Menschen unsere Karten-Tricks auf. Nachdem die meisten sich schlafen gelegt hatten, um bis zum 6-Uhr-Pfeifen zu schlafen, sitzen Caesar und ich noch unter dem imposanten Sternenhimmel, der durch keine Stadtlichter beeinträchtigt wird. Wir sprechen über die ungerechte Welt. Dass Touris immer höhere Preise zahlen und das Latinos/as immer Preise unter den angezeigten verhandeln können.

Dann zeigt er mir ein Photo auf seinem Handy.

Völlig ungefragt.

Seine Freundin.

und seine Augen verraten mir, dass auch der starke Caesar nicht nur stark ist.