Dez 7 2018

Im Kreise der Familie

Von Karl, Esquel, Argentinien

 

Selten habe ich so gut geschlafen. Als ich kurz drauf versuche Schuhe anzuziehen, merke ich wie sehr mitgenommen sie sind. Größere Blasen verweisen auf eine lange und ungewöhnliche Wanderung.

Tulpen und fliegende Teppiche

Die Mutter, die als Psychologin arbeitete und bereits in ihrer Praxis ist, hat uns ein feines Frühstück vorbereitet, dass einem wohligen Schmaus gleich kam. Mailén und ich konnten nun unsere Konversation fortsetzen, die auch von einigen nicht ganz ernsten Episoden geprägt ist. So philosophieren wir den ganzen Tag über fliegende Teppiche. Wie sie uns wann helfen könnten und welche Probleme sie bereiten könnten. Brauchen sie Sicherheitsgurte? Gibt es extra Fahrschulen und Fahrerlaubnisse? Müssen sie ab und zu getankt werden und wenn ja, mit was?

Wir fahren im Auto zweier Freundinnen und einer Mutter derer zu einem Ausflug. Lustigerweise die Hälfte der Strecke zurück Richtung Grenze, von wo ich gekommen bin. Eine der Freundinnen ist Jüdin und Enkelin polnischer und russischer Emigration. Das ist insofern interessant, weil die Einwanderung im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg steht. Einwanderung ist ein generelles Thema in Argentinien, weil aus aller Welt Menschen immer wieder kamen. Die größte Gruppe soll aber aus Italien gekommen sein.

Wir halten an einem Tulpen-Feld. Das heißt, auf einem Feld werden reihenweise verschiedene Tulpen gepflanzt und verkauft. Sie blühen in allen Farben, sodass es beispielsweise auch schwarze Tulpen gibt. Eingerahmt von den schönen weißen Bergketten im Hintergrund ist der Blick auf das bunte Tulpen-Feld kaum zum satt sehen. Als ich für den Eintritt einen 50-Pesos-Schein zurück erhalte, der mit den Falkland-Inseln bedruckt ist, muss ich wieder unfreiwillig lachen. Der empörte Blick von Mailén zeigt mir aber, ich sollte vorsichtig mit dem Thema sein. Einige meinen das Ernst mit der „Rück“-Eroberung.

Irgendwie sind Wasserfälle immer etwas berauschendes,weil es ja doch nicht so häufig kommt. Wir fahren nach den Tulpen zu einem Waldstück mit verschiedenen großen und kleinen, mächtigen und schmächtigen Wasserläufen. Beeindruckend, dass die hügelige Landschaft, versteckt im engen Nadelwald Patagoniens doch tiefe Schluchten aufweist, die dann zu größeren Wasserfällen führen. Erstmals wird mir versichert, dass ich im berühmten Patagonien bin. Nun fügt sich das Bild zusammen. Die raue Landschaft mit ihren trocken-kalten Pflanzen. Lange Zeit war die Sonne auch etwas vor dem ich in den Schatten geflohen bin und hielt Siesta für eine clevere Idee, aber hier ist sie wieder was wohlig wärmendes.

Doch hat die Natur zunehmend Probleme. So gibt es im nahmen Naturschutzgebiet noch seltene Zypressen, die aber von Käfern befallen sind, die erst durch Tourismus eingeschleppt werden können. Auch größere Tiere, wie Füchse, bringen die kleinen Tiere weiter, aber insbesondere Schuhe sind geeignet sie zu transportieren.

Für besonders schick wird das Nachbarstädtchen Trevelin gehalten. Vielleicht ein wenig schöner mag es sein, aber auch ziemlich zersiedelt. Wie halten am zentralen Platz, der sich angeblich Sonntags in einen wunderbaren Markt verwandeln soll.

Esquel

Esquel an sich

Wieder eine Stadt im exakten Schachbrett, aber deren Straße nur zum Teil asphaltiert sind. Das Leben läuft ruhig ab und Siesta klar zum Tagesablauf. Auffällig sind einige aufwändige Graffiti die auf die Kampagne „No a la Mina“ (in etwa: „Nein zur Mine“) verweisen mit deren Webseite noalamina.org. Wie ich später erfahre geht es um Goldbergbau nördlich von Esquel, der aber überhaupt nicht auf Gegenliebe getroffen ist und deswegen noch auf Eis liegt. Die breite Bevölkerung soll dem Projekt sehr ablehnend gegenüber sein, sodass erstmal nicht damit zu rechnen ist, dass die Firma anfängt zu graben.

An vielen Ecken befinden sich auch „Verdulerías“, das heißt Gemüsehandlungen. Meist verkaufen sie noch Obst und was zum Zubereiten von Gemüße noch so gebraucht wird (Gewürze, Öl, …). Sie sind auch günstiger als die wenigen Supermärkte im Ort. Hier wird noch alles einzeln gekauft, das heißt Brot in der Bäckerei, Fleisch bei der Fleischerei, und so weiter und so fort … Chiles riesige Einkaufszentren hab ich also hinter mir gelassen.

Was mir jetzt erst auffällt, ist auch die abschließende Bauweise mit spitzen Dach. Das zeugt ja vor allem von größeren Niederschlägen oder gar Schneelast. Im Winter könne es tatsächlich auch mal schneien, aber da grad Frühling ist, bleibt die Winterjacke im Haus.

Blick aus meinem Zimmer. Es ist Frühling, der Baum treibt aus.

Zum Akt in der Kleinstadt wird das Geld tauschen. Ich hab noch chilenische Pesos die ich nicht benötige und es gibt nur ein Laden mit regionalen Holzprodukten („La Estacion“), der laut Touri-Info tauschen würde. Ich werde aber erstmal weggeschickt und soll um 12 Uhr wiederkommen, wenn sie wie alle Geschäfte während der Siesta schließt. Gesagt, Getan, da bin ich wieder. Nein, wir haben leider keine chilenischen Pesos. Ich sage, dass ich sie habe und dann geht es doch. Allerdings nur zu schlechten Bedingungen. Warum? Niemand will nach Chile reisen. Chile ist wirtschaftlich stabil, aber Argentinien erlebte oder erlebt noch hohe Inflation. Das kam in der Geschichte Argentiniens schon dutzend Mal vor, sodass ich annehme, dass die Argentinier*innen auch sensibel auf Inflationen anspringen. Der argentinische Peso ist relativ schwach, aber zumindest bekomme ich Geld für die nächsten Wochen.

Am sehr späten Abend wollen Mailén, Freundinnen und ich ausgehen. Da der Freund der Mutter leckeren Tequila ausgeschenkt hat, ging es schon etwas früher los, aber ansonsten trifft sich hier wohl niemand vor um Elf. In modernen Design und gedämpften Licht gehüllt wird eine Unmenge verschiedener Handwerks-Biere ausgeschenkt. Die meisten erinnern aber eher an Irland oder Großbritannien: IPA, Stout und Red Ale haben die Vorrang vor Pilsener. So begann der Abend.

Familienausflug mit Mate

Es ist Wochenende, der Freund der Mutter im Hause, der sonst die Woche über in Bariloche arbeitet. Er hat einen Jeep und wir passen mit dem Extra-Sitz im Kofferraum tatsächlich alle in das Fahrzeug. Interessanterweise nehmen sie alles mit, was ein längeren Ausflug rechtfertigt: Kanu, Angel, Stühle, …

Auch die Oma mit ihrer Schwester bevölkern die Rückbank. Als das Radio Tango anstimmt fallen Mutter, Freund, Oma und Großtante freudig ein und trällern aus vollstem Herzen.

Ich bin voll in der Familie integriert und versuche mich mit allen zu unterhalten, bzw. versuchen sie es auch. Mailén, die gern als Übersetzerin hilfesuchend angeschaut wird, wird nicht müde immer wieder zu erklären, dass ich ja Spanisch verstehe, aber halt nur langsam und klar ausgesprochen. Nicht nur ich lerne während meiner Zeit hier.

Mit dem Ausflug bekomme ich das Gefühl Teil der Familie zu sein. Als wenn ich der Bruder von Mailén wäre. Der echte wohnt auch im Haus, aber geht die meiste Zeit seine eigenen Wege. Es ist schön, einfach zu Hause zu sein. Auch wenn ich gerne unterwegs bin, hier kann ich es mal genießen. Den Rucksack packe ich oft genug. Deswegen: Hier frag ich nach Verlängerung und das wird wohlwollend aufgenommen.

Wir fahren zum Nationalpark „Los Alerces“ und obschon eines der regenreichsten Gebiete ist, haben wir das schönste Wetter. Es gibt einen 80km langen See, der viele verlassene Ecken bietet. Gegenüber erhebt sich eine elegante Bergkette. Sie ist von Bäumen gesäumt, aber leider auch von großen Flächen verbrannter Bäume. Waldbrände nehmen wohl zu und schon in Chile schien das kein unwichtiges Thema zu sein.

Während die älteren Frauen sich dem Mate-Trinken hingeben … bevor ich weiter erzähle … Mate-Trinken! Argentiniens Nationalgetränk. Immer und überall dabei. Das ist ein faustgroßes Gefäß, welches bunt, schlicht, verziert, Leder, Plastik, … alles möglich sein kann, aber es ist meistens bauchig geformt und hat einen wulstigen Rand. Darin steht der Bombilla. Im Prinzip ein innen hohler Teelöffel mit einer siebähnlichen Löffelfläche. Das obere Ende ist wie das Mundstück eines Instrumentes geformt und daran wird mit dem Mund gezogen. Der Bombilla wird nie bewegt und meistens noch nicht mal berührt. Er steht einfach im Becher. Das Gefäß wird Mate genannt, aber auch die Pflanze deren getrocknete und gehäckselte Blätter in die Mate kommen. Nicht wie beim Tee, sondern bis einem fingerbreit unterm Rand wird aufgefüllt. Manche machen nun ein Ritual daraus, dass die Blätter etwas zur Seite geschoben und auf der anderen Seite kommt heißes Wasser. Das zieht kurz und dann kann am Bombilla gesaugt werden. Danach füll ich gegebenenfalls das heiße Wasser wieder auf und reiche es der nächsten Person. Mate-Trinken ist auch eine soziale Tradition, weil immer alle gemeinsam aus einem Mate trinken. Menschen treffen sich zum Mate-Trinken. Aber es kann auch sonst in allen erdenklichen Momenten getrunken werden und es soll schon mit Kleinstkindern losgehen. Während die Mate die Runde macht, kommt das Gefäß immer mal zurück zum Ausgangspunkt um neues heißes Wasser aus der Thermoskanne nachzufüllen. Nach und nach kann der seitlich aufgehäufte Berg genutzt werden um im Becher frische Blätter zu haben.

Immer wieder habe ich Argentinier*innen gesehen die an allen möglichen Orten nach heißen Wasser für ihre Thermoskanne fragen. Auch in den Supermärkten sind die meterlangen Regale zu finden. Die getrockneten Blätter werden dann „Yerba Mate“ genannt. Ich versichere nochmal: Es gibt keinen Ort, wo mensch nicht auch noch Mate trinken kann. Die Mate sollte übrigens nicht mit der Club-Mate verwechselt werden. Das Getränk schmeckt sehr herb und ich würde sagen wie aufgegossene Wiese. Gewöhnungssache.

Zurück: Also die Oma, ihre Schwester und die Mutter setzen sich am Rande des Sees und beginnen das Mate-Ritual. Mit den beiden anderen brechen wir zu einem Spaziergang auf. Durch Nadelwald kommen wir auf einen schönen Aussichtspunkt und passieren Araukarien und kommen an den Fuß eines schönen Wasserfalls. Auf der Plattform unterhalb des Falls werden wir Nass vom Sprühregen. Auf halber Höhe endet der Weg, aber mit etwas Kletterkunst komme ich an das obere Ende vom Wasserfall. Ein Panorama, wie gemalt, öffnet sich. Im wilden Zickzack spritzt das Wasser über die Steine und erreicht die Fallkante um dann mit lauten Brüllen aufzuschlagen und weiter zu flitzen. Alles gerahmt von stolzen hochgewachsenen Bäumen. Die Gipfel verdecken nicht ganz, dass im Hintergrund ein breiter ruhiger See liegt. Darüber wächst die Bergkette …

In Gedenken an alte Zeiten konnte ich es mir nicht nehmen lassen, dann mal in den kalten See zu hüpfen. Nicht lange, weil der gletschergespeiste Pool eher einstellige Temperaturen hat. Aber das Gefühl danach ist einzigartig. Wie neu geboren. Wir müssen dann auch schnell aufbrechen. Ihr wisst schon. Das heiße Wasser ist alle.

Auf der anderen Seeseite wird mir dann noch ein interessanter Baum gezeigt, der eine orange Rinde hat. Die Rinde hat allerdings eine sandige Schicht. Angeblich waren die orangen Bäume der entscheidende Hintergrund für eine Bambi-Verfilmung in der Region.

Asado

Wenn ich schon in einer argentinischen Familie bin, wo Tango gesungen wird und Mate geschlürft. Dann darf auch das Asado nicht fehlen. Sonntags, wenn es passt, wird immer Asado gemacht. Auch das ist typisch Argentinien, so heißt es. Aber … Eigentlich ist das auch nix anderes als ein thüringisches Grillerchen. Die besten Freund*innen und Nachbarn kommen, sodass die Runde immer größer wird und auf dem Grill kommt sämtliches Tier, was in der Region lebt. Viel zu viel natürlich, sodass am Ende immer ein Berg Fleisch übrig bleibt, aber auch das ist bekannt.

Reichhaltig ist der Tisch gedeckt, mit Baguette, gegrillten Zwiebeln, Salate, etc. und es wird – natürlich argentinischer – Wein ausgeschenkt. Da es dann doch mal regnet, endet das Asado am späten Nachmittag.

Am letzten Abend bin ich dann sogar noch zum Theater eingeladen, weil Mailéns Mutter mit auftritt. Dafür bekam ich dann von Mailén, der studierten Politologin, noch eine Erkläreinheit in argentinischer Geschichte vorab. In den Jahren der faschistischen Militärdiktatur sind gut 30.000 Menschen verschwunden, d.h. sie wurden von den Militärs als links eingestuft, ohne Aufsehen in Geheimgefängnisse gebracht, gefoltert und meist ermordert worden. Das hat natürlich Spuren hinterlassen in der Gesellschaft und die Aufarbeitung ist noch nicht abgeschlossen.

Es ist die Uraufführung und das Stück beginnt schon vor dem Einlass. Die Regisseurin gibt einleitende Worte, mit zitternder Stimme. Eine junge Frau auf der Treppe beginnt unerwartet mit dem Stück, ohne dass ich dies erwartet hätte. Doch dann geht alles zu schnell. Nach dem wir sitzen wechseln schnell die Szenen und obschon ich ein ernstes Stück erwartet hatte, ist es doch eher belustigend. Ich bin positiv beeindruckt von der Leistung der Laienschauspieler*innen. Ein knappes Dutzend hat am „Theater für Identität“ mitgewirkt, wie das Stück heißt, was nun auf kleine Tour geht in der Provinz Chubut, wo ich gerade bin.

Mailén trifft dann ihren eigenen Vater, während ich mit den beiden Omis den Heimweg antrete. Als sie aber kurzfristig sich für ein Käffchen (irgendwie ist die Verniedlichung hier allgegenwärtig …) entscheiden, treffen wir dort den Vater, aber nicht Mailén. Ja, die Omis sind schon sehr kurios. Mailéns Oma hat erst vor einem Jahr ihren Ehemann verloren und dann entschieden auf Reisen zu gehen.

Irgendwie bin ich froh dass es auch zu Ende geht, denn ich muss weiter … nicht dass ich mich zum wirklichen Mitglied der Familie entwickle.

Doch Bus

Mailén hat viele gute Erfahrungen mit Trampen geteilt und ich bin doch wieder motiviert es zu wagen. Voller Hoffnung stehe ich in aller frühe auf und bin schon um 7 mit dem Daumen an Esquels einziger Verbindung gen Osten, Süden und Norden. Fünf Stunden, so nehme ich mir vor, dann geh ich zum Busbahnhof. Gegenüber von mir ist eine Kaserne und ich sehe wie die Soldat*innen Frühsport machen, wie frische Brote geliefert werden und wie sie ausreiten. Ja tatsächlich, Argentinien unterhält als eines der letzten Länder tatsächlich noch eine moderne Kavallerie, also berittene Soldat*innen für den modernen Ernstfall. Viel passiert sonst nicht. Ich wandere mit der Sonne etwas nach hinten und schaue mir ein feierlichen Konvoi hinter einem Leichenwagen an. Offensichtlich eine Beerdigung steht bevor.

Aber was soll ich sagen. Ich stand lange, aber ich hab nur drei Fahrten nach Bariloche (Norden) angeboten bekommen, will aber an den Atlantik (Osten). Stundenlang rasen die Autos an mir vorbei, machen wirre Handbewegungen, aber für mich ist nix dabei.

Niedergeschlagen geht es die zwei Kilometer zurück und der nächste Bus fährt erst um 22 Uhr. Das war nicht ganz einfach herauszufinden, weil die argentinische Aussprache sich deutlich unterscheidet. So wird das „Du“, was sonst ein „tu“ ist, zum „vos“. Alle Buchstaben die wie ein „j“ klingen werden zum „sche“. Dann noch alles schnell aussprechen und zusammenenziehen und schon heißt die Busfirma „Mar y Valle“ „Mariwasche“. Ich such tatsächlich erstmal eine Busfirma mit dem Namen Marie … Naja, so ist das Leben.

Was mach ich den restlichen Tag … Ich schau dem Touri-Zug zu, wie er Esquel verlässt. Ja, es gibt auch einen Zug, aber der ist teuer und fährt auch zu keinen spannenden Ort. Ich wärme mich mit Buch und Snack in der Sonne und als die kalte Nacht herreinbricht, fiebere ich schon dem Bus entgegen. Über Nacht ans Meer.

 

PS.: und hier ist Esquel auf der Argentinien-Karte …


Jun 27 2018

Kaffee, der stresst

von Karl, 26. Juni 2018, Playas (General Villamil)

 

Heute stelle ich euch Piura vor. Piura hat für mich zwei Gesichter. Sie heißen NorAndino und Kev. Beide Gesichter möchte ich euch vorstellen. Auch wenn es vielleicht unglücklich losgeht, so seid beruhigt, es wird besser.

(Nicht) Willkommen bei NorAndino

Unser zentrales Anliegen in Piura war der Besuch der großen Exportfirma „NorAndino“. NorAndino beliefert die ganze Welt, vor allem aber Europa, mit fairen Kaffee, Kakao und Rohrzucker. Schon in Huancayo kannten Leute NorAndino. Mehrere Tausend Bäuerinnen und Bauern arbeiten für NorAndino und es gibt mindestens eine große Fabrik, sowie eine Geschäftsstelle. Wir haben Probleme Informationen von unserer Kontaktfrau zu bekommen und werden sie nicht einmal zu Gesicht bekommen. Am ausgemachten Tag rufen wir an und können dann doch einfach vorbei kommen. Nun warten wir lange, doch Interesse an uns hat hier niemand. Das war bei den anderen Firmen meist anders, weil unser Film oft eine Gelegenheit ist, auch die eigenen Produkte vorzustellen. Gratis Werbung halt. Irgendwann sprechen wir mit einem Ingenieur, aber auch ihm erzählen wir alles von vorn. Dann schickt er uns mit einen Fahrer in die Kaffee-Fabrik.

Unbegleitet schlendere ich zwischen riesigen Lagern von Kaffee-Säcken und lauten staubigen Rüttelmaschinen und Transportbändern umher und mache Photos und Filmaufnahmen. Ich verstehe nicht, was die Maschinen machen. Die Lagerhallen sind beeindruckend groß und es prangern die großen Bio- und Fair-Handels-Siegel der importierenden Länder an den Wänden. NorAndino ist offensichtlich eine große und stolze Firma. Neben den Maschinen ist es kaum auszuhalten. Es ist extrem laut und staubig. Obschon es sehr aufgeräumt aussieht, ist der Boden von dem staubigen Sand bedeckt. Der Staub entsteht in der Produktion und stammt von den Kaffee-Bohnen. Die Kaffee-Schalen torkeln neben manchen Maschinen durch die Luft. Die staubige Luft wird matt von den Lampen erhellt und taucht die Umgebung in dunkles Gelb. Ein Arbeiter begegnet mir, alle anderen sind in der Mittagspause. Die Maschinen laufen wohl auch ohne Arbeiter*innen ganz gut.

Unser Begleiter taucht wieder auf und erklärt uns, dass wir am nächsten Tag zu den Kaffee-Feldern können, allerdings müsste NorAndino für uns ein Auto mieten. 60 Soles meint er. Das sind ca 15 Euro. Wir überlegen lange, ob wir den Film weiter verfolgen, wenn wir sogar für unsere Arbeit zahlen sollen. Schlussendlich gewinnt die Neugier und wir willigen ein. Er erklärt uns noch, dass eine Präsidentin einer deutschen Firma oder NGO gerade bei NorAndino zu Gast ist und sie uns gern treffen mag. Wir sollen um 4 Uhr nochmal zum Büro kommen.

Punkt um 4 sitzen wir wieder an gewohnter Stelle und warten. Irgendwann ist es nach um 5 und ein Angestellter fragt uns, ob wir sie gern heute oder morgen treffen mögen. Auf heute haben wir kein Bock mehr. Wir kommen uns ziemlich verarscht vor.

Tags drauf sind wir dann schon um 7 Uhr in der Frühe vor der Geschäftsstelle und finden unseren wortkargen Fahrer samt Geländewagen. Auf geht‘s. Auf der neuen Landstraße geht es mit 160 Sachen voran. Nur für die Bodenwellen wird abgebremst, die extra dafür da sind, dass langsam gefahren wird; und wohl auch in den Dörfern an der Strecke die einzige Überlebensversicherung ist, die Straßenseite zu wechseln. Irgendwann wird die Straße zu Beton und dann zu Schotter. Wir durchqueren Bachläufe und sehen die Berge. Ich bin überrascht, dass der Fahrer gar nicht von NorAndino ist und auch nicht den Weg kennt. Er hat nur einen Namen und einen Ort. Wir fahren durch die Berge in verschiedene Dörfer und mehrere Dutzend Mal fragt unser Fahrer nach dem Weg. Nach über vier Stunden und mehren Hin und Her finden wir den gesuchten Mann und folgen seinem Motorrad.

In einem NorAndino-Kaffee-Tal

Ricces ist Agrar-Ingenieur und das erst seit ein paar Monaten bei NorAndino. Hinzu kommt noch seine Kollegin, die den selben Job mit der selben Erfahrung macht. Sie betreuen Bäuerinnen und Bauern bei der Kaffee-Produktion. Er zeigt mit der Hand in das Tal und erklärt uns, dass hier überall Kaffee von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern angebaut wird und auch alle für NorAndino arbeiten. Das ganze Tal. Ein NorAndino-Kaffee-Tal. Jede*r der Ingenieur*innen hat eine bestimmte Region und kümmert sich um eben jene Kaffee-Bäuerinnen und -Bauern dieser Region. Entlang eines steilen schlammigen Pfades steigen wir mit den beiden von dem Dorf abwärts gen Tal. Ricces und Kollegin sind sehr geduldig und freundlich mit uns und erklären uns alles mögliche zur Kaffee-Produktion.

Es werden verschiedene Sorten angebaut, die verschieden schnell tragen und verschieden ertragreich sind. Normal sind die Beeren an den Sträuchern grün und wenn sie geerntet werden rot bis dunkelrot. In etwa wie kleine Kirschen. Es gibt aber auch Sorten, die gelbe Beeren tragen. Ricces quetscht den Kern aus der Kirsche und zeigt uns damit, worum es bei der Kaffee-Produktion geht. Der Kern verliert noch seine Schale in der Fabrik und in Europa werden die Kerne dann geröstet, wodurch sich erst das Aroma entfaltet. Da das wichtig ist und das Aroma mit der Zeit verschwindet, wird nicht in Peru geröstet, sondern erst vor Ort.

Die Bäuerinnen und Bauern haben Bäche mit Gräben umgeleitet und fangen zum Teil das Wasser auf. Damit kann dann an den entscheidenden Stellen gewässert werden. Die Kaffee-Felder liegen am Hang im Bergregenwald versteckt. Es sind nur wenige Hektar große Flächen, die von außen für uns nicht zu erkennen sind. Zumal zwischen den Kaffee-Sträuchern noch Bäume gepflanzt wurden, die verschiedene Zitrusfrüchte tragen. Sie bringen den nötigen Schatten, weil sie allesamt größer sind als die nur menschenhohen Kaffee-Sträucher. Ricces bestätigt unser Frage nach dem Klimawandel so schnell wie wir sie gestellt haben. Unsichere Regen- und Trocken-Zeiten seien die Folge, sowie das verstärkte Auftreten von Schädlingen. Vor dem Klimawandel waren die Jahreszeiten eindeutiger. Start und Ende sind ungewisser.

Es ist erstaunlich, wie für alle Bäuerinnen und Bauern die wir schon in Südamerika getroffen haben, es offensichtlich ist, dass es den Klimawandel gibt. Während in Europa und Nordamerika es immer noch Menschen gibt, die daran zweifeln.

Wir haben großes Glück mit der von Ricces Kollegin gewählten Plantage, weil gerade geerntet wird, obwohl es nicht Erntezeit ist. Der Bauer und viele Bäuerinnen sammeln in Körben per Hand die roten Kirschen ein. Sie schauen etwas schüchtern als sie uns sehen. Als wenn sie sich etwas schämen. Ich habe den Eindruck, dass sie es jetzt besonders gut machen möchten. Wir platzieren Ricces, als den selbstbewusstesten, zwischen den Reihen mit Kaffee-Pflanzen und interviewen ihn. Er schlägt sich ganz gut und freut sich, fast schon wie ein Kleinkind, ein erstes Interview in seinem Leben gegeben zu haben.

Wir verabschieden uns von den Arbeitenden und arbeiten uns zwischen den Sträuchern den Steilhang hoch. Auf dem Weg angekommen begrüßt uns eine Tarantula, größer als meine Hand. Gefährlich sei sie wohl, aber Ricces vertreibt sie mit einem Holzstab. Eine Distanz, die mir etwas zu wenig ist. Für mich zu nah an der schon fast kuschelig anmutenden Spinne.

Wir schauen uns noch Verarbeitungsanlagen an, um zu verstehen, wie die Kerne vom Fruchtfleisch getrennt werden. Allerdings sind diese weitgehend klein und draußen. Mit einen umgeleiteten Bach werden die Bohnen gereinigt und später auf einer schwarzen Plane getrocknet. Laster bringen die Säcke voll mit Kernen dann in die vier Stunden entfernte Fabrik in Piura.

Erst gegen Sonnenuntergang sind wir wieder zurück in Piura und unserer Fahrer nimmt nur wenige Meter vor unserem Ausstieg einen Kollegen auf, der deutlich kräftiger und bedrohlicher ist. Beim Ausstieg will dieser dann das Geld abrechnen, aber nun sind es 770 Soles und damit ca. 200 Euro. Wir sind sehr verärgert und diskutieren lange mit ihm. Wir haben das Geld einfach nicht und können es auch nicht bezahlen. Die Situation ist sehr beschissen für uns. Erst will er mit uns zu NorAndino fahren, um zu erfragen ob die den Betrag teils übernehmen, aber er verfolgt seinen Vorschlag nicht. Plötzlich bietet er uns an, die eben getankten 160 Soles (40 Euros) zu zahlen. Für uns deutlich annehmbarer. Als die beiden dann glücklich gestimmt lächeln, erscheint uns dieser Deal als ziemliche Verarsche. Wir sind schnurstracks abgedampft und ärgern uns noch eine Weile. Selbst wenn sie 160 Soles vertankt haben, so hat der Fahrer an dem Tag ja nix verdient. Warum dann die Freude? Wir können es uns nicht erklären. Wir denken zumindest: Nie wieder NorAndino.

Kev

Kev ist die positive Seite der Medaille Piura. Kev ist unser Gastgeber. Der erste Eindruck ist nicht, dass er offen auf Menschen zugeht, aber seine vielen Fragen strafen diesen Eindruck Lügen. Auch für uns hat er viel Zeit und Beratung. Als Ingenieur verdient er selbst für peruanische Verhältnisse extrem gut. Besitzt ein fünfstöckiges Haus mit zig Wohnungen, welche er an Angestellte, aber vor allem Studierende vermietet. Im fünften Stock können wir ein Zimmer beziehen. Ein anderes wird von einem jungen Venezolaner, 19 Jahre, und einer Venezolanerin, etwa Anfang 30, bewohnt. Das Wohnzimmer ist sehr groß und beherbergt auch eine geräumige Küche. Befremdlich wirkt der große Monitor an der Wand der in Echtzeit die Aufnahmen der Überwachungskameras im ganzen Hans anzeigt. Zu Kev gehört Alexandra, seine Freundin. Sie ist Studentin, aber verbringt viel Zeit im Wohnzimmer mit schlafen und fernsehen.

An den meisten Abenden sitzen wir bis nach Mitternacht und tauschen uns über Deutschland und Peru aus. Er erklärt uns, wie größere Firmen in Peru ihre Steuern zurück bekommen können, sodass sie unterm Stricht so gut wie keine zahlen. Ähnlich wie in Deutschland sind Spenden steuerlich absetzbar.

Auch seien viele Peruaner*innen sehr rücksichtslos untereinander, währenddessen sie sehr zuvorkommend gegenüber Ausländern seien. Kev ist großer Freund von Bier, sodass wir den einen Abend mit einer kurzen Motorradfahrt zur Tankstelle beginnen. Dabei zeigt er mir welche Bereiche beim letzten „El Niño“ überschwemmt wurden.

El Niño, zu deutsch „das Christkind“, ist ein ca. alle vier Jahre zur Weihnachtszeit auftretenden Klimaphänomen vor der Westküste Südamerikas. Normalerweise trägt der Humboldtstrom das Pazifik-Wasser vom Land weg, Richtung Westen, Richtung Indonesien. Dabei steigt kaltes Tiefenwasser vor der Küste auf, sodass das Klima an der Küste etwas kühler und sehr trocken ist. Wüste. Bei El Niño versiegt der Strom und das Wasser vor der Küste wird aufgeheizt. Es entsteht ein warm-feuchtes Klima mit starken Niederschlägen. Bäche werden zu riesigen Strömen. Kev meinte, dass das Wasser bis in die Häuser gelaufen ist, obwohl der aktuelle Flusslauf gut 10 bis 20 Meter tiefer liegt und ein sehr breites Flussbett hat. Alle Straßen waren überschwemmt. 2016 hat ein El Niño die Westküste heimgesucht. Aber nicht nur diese Region ist dann betroffen, sondern das Wettergleichgewicht auf der ganzen Erde gerät aus dem Fugen. Selbst in Europa soll es dann kälter sein. Die Meeresflora und -fauna an der Küste ist dadurch massiv gestört, sodass viele Tiere hungern und sterben, weil die Nahrungskette zu einer Art Domino-Kette wird. Peruanische Fischer haben, weil Weihnachten plötzlich keine Fische mehr da waren, dieses Phänomen irgendwann El Niño getauft.

Kev berät uns aber auch, wie wir den zusätzlichen Tag nutzen können, der uns geschenkt wurde, als wieder mal zu spät uns um Bustickets gekümmert haben. Also stehen wir eines vormittags an der Kreuzung um die Ecke und suchen den Bus ins empfohlene Catacaos. Ein touristisches Dorf ganz in der Nähe. Tatsächlich finden wir ihn irgendwann, doch Catacaos ist uns keinen langen Besuch wert. Es gibt sehr viel Handwerk mit Gold und Silber, doch brauchen wir gerade kein Schmuck. Nach nur wenigen Stunden nehmen wir den Bus in die Gegenrichtung.

 

Mit Kev habe ich einen Freund auf der Reise kennengelernt. Der viel Geduld mit mir hatte, obschon ich seine Sprache nur schlecht spreche. Bei der Verabschiedung ist er dann wieder ganz der distanzierte. Für uns geht es weiter, nächster Stopp ist an der Grenze. Seid gespannt (-;


Mai 12 2018

Caesar ist stark

Porto Velho

9. Mai 2018

 

Ein schrilles Pfeifen zerreißt die Stille. Stille in die ich seit zehn Minuten hineingehört habe. Immer mal unterbrochen von Flip-Flops die über Metallboden scharen. Die Stille wäre keine Stille wenn ich das laute Brummen des Schiffsdiesel noch hören würde. Doch das ist zu einem Grundrauschen geworden. Irgendwo im Hintergrund. Vor zehn Minuten hat der oder die erste an meiner Hängematten-Aufhängung gerüttelt. Unabsichtlich bestimmt. Im Vorbeigehen. Seitdem habe ich den begrenzten Ausschnitt beobachtet den ich rechts an meiner Hängematte vorbei sehen kann. Hinter der Reling liegt der Rio Madeira und Regenwald an dessen Ufer. Willkommen auf der „Almte Moreira IX“ unserem Schiff, unserem zu Hause, unseren Fenster in den Amazonas-Regenwald, unserem Bus nach Porto Velho, unserem Gefängnis und unserer Klassenfahrt.

Unser Fenster

Unser Schiff fährt dicht am Ufer, weil wir flussaufwärts unterwegs sind und am Ufer die Strömung weniger stark ist. So kann ich die vielen großen und kleinen Sträucher und Bäume gut beobachten. Mit ihren ausladenden Zweigen. Das Ufer ändert sich ständig. Manchmal kommt Schwemmland und dann tritt die Vegetation hinter riesigen Pfützen zurück. Manchmal rote Steilhänge. Manchmal stehen Holzhütten auf Stelzen mit oder ohne Menschen davor. Hölzerne Boote schaukeln in unserer Bugwelle oder fahren an uns vorbei. Die Holzboote sind ungefähr zehn Meter lang und auf der Heckreling ist ein unverdeckter Motor angebracht. Die Welle zur Schraube ist gute zwei Meter lang, sodass mensch den Eindruck erlangen kann, die Boote fahren mit übergroßen Stab-Mixern die flach ins Wasser gehalten werden.

Bei Holzhütten gibt es meist auch kleine Plantagen. Je mehr Holzhütten beieinander stehen, desto öfter kommt noch ein Sozial-Zentrum, eine Schule, ein Fußballplatz oder eine Kirche hinzu. Alles entsprechend klein, aus Holz und bunt angestrichen. Menschliche Siedlungen unterbrechen lediglich die unendliche Strecke des Regenwald-Ufers. Immer wieder schlüpfen aus den Wipfeln die langen weißen und die schnellen Blauen Vögel hervor. Die weißen stehen mit ihren langen Beinen oft am Ufer. Die grauen treten in Scharen auf und machen Lärm wie hundert ungeölte Fahrräder. Einmal lag am Ufer auch ein schwarzes Krokodil (Anmerkung: Der Autor hat keine Ahnung von Tieren und Pflanzen. Das Tier hält er für ein Krokodil, weil es halt so aussieht, wie er sich ein Krokodil vorstellt.) Aus dem kaffee-braunen Wasser des Rio Madeira taucht auch hin und wieder einer der grauen oder rosanen Flussdelphine auf.

Unsere Klassenfahrt

Schon mit Beginn der Reise merken wir, dass viele sehr gut gelaunt sind. Viele sind sehr gesprächig, sodass auch ich viele Menschen sehr schnell kennen lerne. Ein Großteil der Menschen ist auf dem Weg aus Venezuela in ein schöneres Leben in einem spanisch-sprachigen Land. So auch Kevin, mein Hängematten-Nachbar. Als er sich aus seiner Hängematte schält, werde ich erneut geweckt und mache es ihm gleich. Aufgrund der Enge geschieht das nicht, ohne dass wir uns gegenseitig wecken. Kevin ist auf dem Weg nach Peru. Er grinst fast ausnahmslos und ich habe ihn seinem Erscheinen nach auf 18 Jahre geschätzt. Tatsächlich ist er 25. Kurze schwarze Haare, langes Gesicht, dünn gebaut und flott zu Fuß. Kevin ist allein unterwegs. Wir unterhalten uns abends manchmal, von Hängematte zu Hängematte und dabei lerne ich venezolanisches Spanisch. „Pingue“ zum Beispiel ist eine starke Steigerung, die vor allem zusammen mit heiß und kalt verwandt wird. Mensch könnte es mit „bastante“ oder im weitesten Sinne mit „mucho“ gleichsetzen. Kevin ist ein wenig wie Mickey Maus‘ Goofy. So richtig scheint er keinen Plan zu haben, aber irgendwie hat er ständig das Glück, zufällig an sein Ziel zu kommen. ohne jemals wirklich traurig zu sein.

Diese ständige Freude, die Enge und die Zeit machen die Reise zu einer Art Klassenfahrt. Schnell freunden sich viele an. Da ist der Musiker, da der Draufgänger und dort der Ruhige. Einer erzählt mir, dass er drei Jobs in Venezuela hatte, von dessen Einkommen er sich im Monat gerade mal ein Huhn leisten konnte. Ein anderer fordert, dass der Bolivar, die venezolanische Währung, mit dem US-Dollar gekoppelt wird, damit die Hyperinflation ein Ende hat. Sie vereint die Flucht und das Wissen, dass Venezuela nicht so schnell stabil wird. Die nächsten Wahlen sind keine echten Wahlen, meint der eine. Wenn Maduro nicht gewinnt, gibt der Gewinner seine Macht an Maduro ab. Das Land hätte keine andere Wirtschaft außer die Erdöl-Industrie. Das macht die Situation zu einer Katastrophe. Hector erzählt, dass er zwei Töchter und eine Frau zu Hause hat. Er möchte in Peru arbeiten und diese versorgen oder nachholen.

Joseph, Caesar und Ramon reisen zusammen und möchten von Argentinien aus ihre Eltern und Geschwister unterstützen. Caesar ist 27, vielleicht 1,70m groß, ärmelloses türkises T-Shirt, muskulös gebaut. Caesar ist nicht ganz so überschwänglich und erklärt mir, dass Venezolaner*innen auch dann freudig sind, wenn ihnen grad was schlechtes widerfahren ist. Caesar hat Informatik studiert und einen Bruder in Buenos Aires. Sein Traum ist es, ein eigenes sicheres und freies Betriebssystem zu programmieren, dass viele verwenden. Er ist Fan von freier Software wie Linux. Wir können uns viel unterhalten und ich lerne dabei zusehend spanisch. Es ist hart. Den Satz „Kannst du es nochmal langsam sagen“ kann ich auf spanisch mittlerweile auswendig. Ich erzähle viel von unserer Reise, unseren Vorhaben, meinem Leben in Deutschland. Er ist sehr interessiert. Hinter den freudig-freundlichen Gesichtern vermute ich aber auch eine traurige Seite. Ich kann es mir schwerlich ausmalen, dass so viele Menschen so beschwingt ihr Land verlassen. Umso schöner, dass sie es mit Leichtigkeit machen. Ob er eine Freundin hat, frag ich Caesar.

Ja und Nein, sagt er.

Pause.

Ja, aber wir machen grad eine Pause, solange wie ich unterwegs bin.

Es klingt aufrichtig, aber nicht mehr so sorgenlos.

Unser Schiff – unser zu Hause – unser Gefängnis

Der Pfiff hat uns zum Frühstück gerufen. Vor dem Eingang in den Essensbereich steht schon eine Schlange. Ich reihe mich ein und schau mich wartend um. Das erste Obergeschoss ist im vorderen Bereich Stauraum und in der hinteren Hälfte der Hängematten-Bereich. Dieser Bereich ist auch überdacht durch den 2. Stock. Am Heck befindet sich, durch ein Plastikgitter abgetrennt, der Essensraum. Unten stehen noch mehr Sachen, die transportiert werden, wie beispielsweise, Farbdosen, Para-Nüsse oder Holzkohle. Vor allem aber stehen dort Autos. Auf dem obersten Deck gibt es eine überdachte Fläche mit Stühlen, ein Kiosk mit Fernseher, der Crew-Bereich und natürlich die Brücke. Sogar auf dem obersten Dach transportieren wir Materialien, wie beispielsweise Stühle. Auf dem Vorschiff ist alles verdeckt durch Planen, bis auf die Fahrräder und Stühle. Die Brücke ist sehr eng und gesteuert wird mit einem historisch wirkenden roten Steuerrad. Schon die Gesamterscheinung des Schiffes mutet historisch an. Besonders die anderen hölzernen Varianten dieser Schiffe, die wir öfters sehen, geben den Eindruck, dass schon im 19. Jahrhundert diese auf den Flüssen unterwegs waren.

Nach und nach dürfen wir in den Speisesaal, und wenn Menschen fertig gegessen haben, werden neue eingelassen. Ich lasse mir etwas vorgesüßten Kaffee in den Plastikbecher und zwei süße Milchbrötchen. Nach ein paar Tagen gibt‘s keine Brötchen mehr, dann gibt‘s kleine Kekse. An langen steinernen Tischen, nehme ich auf einen der weißen Plastikhocker platz. In den Margarine-Schachteln stecken Messer, mit dem ich die Brötchen aufschneiden und mit der salzigen Margarine bestreichen kann. Das ist das Frühstück hier an Bord.

Auf dem Rückweg schlängele ich mich an wartenden Menschen und Hängematten vorbei. Gute 50 Hängematten in allen Farben gibt es hier. Die meisten aus Stoff und nicht so billiger Plaste-Kram wie unsere. Wir glauben nicht, dass wir sie mehrmals brauchen, aber für das Schiff ist eine Hängematte unerlässlich. Die Hängematte hängen quer zum Schiff und überlappend passen drei nebeneinander. Mein Tag beginnt mit der Naht-Kontrolle. Jedes Mal wenn ich mich in die Hängematte setze, macht sie ein Geräusch, als wenn gleich Nähte reißen. Deswegen das Sicherheitsritual nach dem Frühstück. Auch tagsüber verbringe ich und viele andere ihre Zeit in der Hängematte. Lesen, schlafen, Musik-hören, Podcast-hören, unterhalten. Bei fünf Tagen die das Schiff braucht, haben wir viel Zeit für alles mögliche. So nähe und lese ich viel, was ich sonst nicht machen würde. Eingezwängt zwischen vielen Menschen, ohne Privatsphäre und kaum Raum in dem ich mich bewegen kann. Es hat auch etwas von Gefängnis.

Unser „Bus“ nach Porto Velho

Unser Weg führt von Manaus nach Porto Velho. Etwas den Amazons runter und dann rechts abbiegen in den Rio Madeira. Eine andere Verbindung über Land als das Schiff gibt es nicht. Es gab und gibt Planungen über eine Straße, aber diese ist wieder zugewachsen. Die Transamazonica soll Höhe des Äquators vom Atlantik bis zum Pazifik reichen. Sie würde auch Manaus und Porto Velho verbinden. In Brasilien heißt sie BR-319. Die anderen Länder neben Brasilien befürchten den brasilianischen Einfluss, sodass sie nicht ganz so eifrig hinter dem Projekt stehen. Aber auch indigene Völker und Umweltschützer protestieren, teils mit Besetzungen. Bis nach Manaus und damit ein erhebliches Stück ist schon fertiggestellt. Das Stück nach Porto Velho und weiter Richtung Grenze ist allerdings überwuchert und wurde nicht komplett asphaltiert. Sollte die Straße zukünftig Städte an das Straßennetz verbinden, würde das deren Wirtschaft unterstützen. Diese besteht aber zu nicht unerheblichen Teilen aus der Forstwirtschaft, der Landwirtschaft und dem Bergbau. Alle drei reduzieren den Regenwald schon jetzt nachhaltig, sodass im Bundesstaat Rondonia, wo wir hinfahren, ein Viertel des Waldes abgeholzt ist. Die Rohstoffe gehen oft nach Europa. Die Landwirtschaft produziert vor allem Soja, das Haupt-Futter in der industriellen Massentierhaltung. Für neue Felder wird Regenwald abgebrannt oder abgeholzt.

Schon jetzt hat Brasilien entlang der Transamazonica eine Blutspur gezogen. Mindestens 9 indigene Völker wurden ganz oder fast vollständig umgebracht. Da die Völker nicht gegen die selben Krankheiten immun sind, wie die zugewanderten Europäer*innen, wurden vielen der Völker bspw. mit Windpocken vergiftete Geschenke gemacht. Eine Windpocken-Pandemie tötete dann das indigene Volk. Erst spät wurde das europäische Märchen vom nahezu unbewohnten Regenwald widerlegt. Von den ehemals fünf Millionen Indigenen im Amazonas-Regenwald gibt es heute nur noch ca. 300.000. Viele werden noch heute diskriminiert oder durch Holzfäller und Bauern vertrieben. Die übrigen unkontaktierten Völker im Regenwald verhalten sich oft sehr aggressiv gegenüber Fremden, weil der mörderische Umgang der europäischen Nachfahren mit ihnen bekannt ist. Hätte es eine Busverbindung über die Transamazonica für uns gegeben, ich hätte mir sehr schwer getan, diese zu nutzen.

Porto Velho kommt

Zurück aufs Schiff. Wir halten an Tag 4 für ungefähr acht Stunden in Humaitá, wo etwas Ladung und vor allem Brasilianer*innen von Bord gehen. Mittlerweile nimmt das Langeweile-Gefühl zu und das Essen bleibt einseitig. Reis, Spaghetti, Bohnen und gekochtes Fleisch. Mittags und Abends. Jeden Tag. An einigen Tagen wird zusätzlich gegrillt auf dem Oberdeck. Ich unterhalte mich mit Ramon und frage ihn nach den Holzhaus-förmigen Booten, die vor jeder noch so kleinen Siedlung liegen. Es sind Baggerschiffe, sagt er. Später sehe ich auch größere im Fluss. Mittels einer Pumpanlage wird der Fluss-Schlamm angesaugt und über breite Holzrinnen geleitet. Dort soll sich das gesuchte und schwerere Gold ablagern. Vermutlich unter dem Einsatz des giftigen Quecksilbers, das die Arbeit effektiver macht.

An Tag 5 ist es endlich so weit. Agraranlagen werden sichtbar. Eine große Brücke und Hochhäuser kommen ins Blickfeld. Wir sind glücklich, weil bald können wir das Boot verlassen. Alle packen. Wir auch. Wir verabschieden uns von unseren neuen Freunden und wünschen uns gegenseitig viel Erfolg auf unseren neuen Wegen. Ich tausche mit Caesar Kontaktdaten und muss an unseren letzten Abend denken.

Er erzählte von seinen Eltern, die ihn ungern gehen ließen. Er selber würde nicht so viel an zu Hause denken und meint, seine Eltern seien halt sentimental. Er verkauft sich als stark, aber ich empfinde Mitgefühl. Es ist diese Stärke, die die andere Schwäche ausgleichen soll. Er erzählt, dass er seinen Eltern nicht gesagt hat, dass er mit Karten-Tricks in den Straßen Geld hinzuverdient hat. Touris seien sehr leichtgläubig. Dadurch konnte Caesar sich schickere Kleidung und Schuhe kaufen. Er und ich führen den herumstehenden Menschen unsere Karten-Tricks auf. Nachdem die meisten sich schlafen gelegt hatten, um bis zum 6-Uhr-Pfeifen zu schlafen, sitzen Caesar und ich noch unter dem imposanten Sternenhimmel, der durch keine Stadtlichter beeinträchtigt wird. Wir sprechen über die ungerechte Welt. Dass Touris immer höhere Preise zahlen und das Latinos/as immer Preise unter den angezeigten verhandeln können.

Dann zeigt er mir ein Photo auf seinem Handy.

Völlig ungefragt.

Seine Freundin.

und seine Augen verraten mir, dass auch der starke Caesar nicht nur stark ist.