Nov 29 2018

Bei Magellan und Humboldt

Von Karl

 

Auf nach Chiloé

Über einen Betonkai schleicht der Bus, setzt an und fährt die Fährrampe hinauf und kommt am anderen Ende der  zum Stehen. Ich steig aus und schon beginnt die Fähre abzulegen und hebt die Heckklappe an. Die Sonne neigt sich zum Horizont. Der Wind pfeift eisig und kalt über die glatte See. Flach liegt sie da. Flach und grün, die Küste vom Festland und gegenüber, hinter dem Vorhang eines Regenschauers, die Küste der Insel Chiloé. Als wenn sie ruhig und stumm ist. Voller spannender Geheimnisse. Wie ein*e Seefahrer*in. Ohne viele Worte, doch voller Erlebnisse und Geschichten.

Die steife Brise trägt Tröpfchen mir ins Gesicht. Auch wenn es äußerlich kalt ist, so strahlt doch irgendwie die Begeisterung über die raue Natur in mir. Doch nach einer Weile wird mir ziemlich kalt und ich geh dann doch lieber in den warmen Bus. Der hat zum Glück Fenster.

Ich bin nun also auf der Insel Chiloé. Sie ist zehn Mal so groß wie Rügen, hat aber nur ein fünftel so viele Einwohner*innen pro Quadratkilometer. Besonders der südwestliche Teil ist so gut wie unbesiedelt. Es gibt zwei „größere“ Städte mit 27.000 Menschen in Ancud, ganz im Norden, und 41.000 Menschen in Castro, ganz im Osten der Insel.

Der einzig verlässliche ständige Zugang zur Insel führt über die Fähre zwischen Pargua und Chacao, ganz im Nordosten. Andere Fähren fahren nur selten. Buslinien von und auf die Insel gibt es auch nur über diese Fähre. Es wurde zwar mit dem Bau einer der weltgrößten Hängebrücken begonnen, jedoch später wurde das Projekt wieder aufgegeben.

Ich steige in Ancud aus und beginne etwas durch die Straßen zu schlendern. Die Wege sind feucht und nass. Die Häuser aus Holz und einfach gehalten. Reichtum gibt es hier nicht. Große Shopping Malls gibt es nicht mehr und die günstigen Supermärkte sind namenlos. Unter wenigen diffusen Straßenlaternenlicht begebe ich mich nach einer Weile auf die Suche nach meiner heutigen Unterkunft. Wir hatten uns auf 21 Uhr verabredet. Die Stadt ist sehr hügelig und manche Straße verlässt ihren Asphalt und wird schlammig. Ich sehe kaum Menschen oder Autos.

Seit längerem sortieren sich Straßenzüge in etwa so, dass meist die hunderter zwischen zwei Blöcken sich befinden, dass heißt nach der Kreuzung beginnt der nächste Hunderter. Wenn ich also vor Hausnummer 332 stehe, dann kommt nach der nächsten Kreuzung mindestens die Nummer 400 oder 299. Manchmal sind auch die geraden Nummern auf einer Seite und die ungeraden auf der anderen. Ich orientiere mich aus Erfahrung und gelange an das Ende der Straße. Dort liegt eine kleine Polizeikaserne und ich frage, ob sie meine gesuchte Hausnummer kennen. Ich werde direkt zum Chef gebracht, aber der denkt, ich suche eine Unterkunft und zeigt auf die angrenzenden unbeleuchteten Cabañas (Bungalows). Heute also kein Freund und Helfer. Der Wachpolizist vor der Baracke zeigt mir dann auf seinem Handy wo mein gesuchtes Ziel liegt. Irgendwie hatte ich es schon gerochen, dass hier andere Nummerierungsregeln herrschen.

Maria und Matias

Maria macht mir die Tür auf und ich betrete das wohlig gewärmte Haus. Auch ihr Freund Matias begrüßt mich sehr freundlich. Wir fangen direkt an alles zu teilen und sie öffnen eine Flasche guten chilenischen Wein. Salzkekse, Käse, Hummus, … ein Träumchen sag ich euch. Auch sie heizen die zwei Stockwerke ausschließlich mit dem Ofen in der Küche. Nebenan hacken die beiden ab und zu das Holz dafür. Es ist halt die günstigste Möglichkeit und das Holz kommt mit dem LKW zur Haustür. Alle Häuser auf Chiloé sind aus Holz und werden damit geheizt. Was sonst. Sie sind nicht die reichsten und irgendwann tropft es von der Decke.

Wir kommen sehr gut ins Gespräch. Beide sind sehr belesen und können über Mistral und Neruda streiten. Maria und ich bevorzugen Neruda, Matias Mistral. Beide sind auch Mitglieder der jungen Partei „Revolución Democratica“ (demokratische Revolution) und bekennende Sozialist*innen. Die junge Partei entstand 2011/12 aus den starken Bildungsprotesten in Chile, die bis heute eine kostenfreies Bildungssystem fordern. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2017 war sie Teil der „Frente Amplio“ (breite Front), einem Zusammenschluss verschiedener linker Parteien um eine eigene Kandidatin (Beatriz Sánchez) nach vorn zu bringen. Völlig unerwartet erreichte das Bündnis über 20% und verpasste damit die Stichwahl nur um 2,5%. Trotzdem sind sie nun mit 20 Abgeordneten im Kongress vertreten und stellen den Senator in Valparaiso. Die meisten Stimmen für die Frente Amplio holte die Revolución Democratica.

Maria ist deswegen besonders stolz und war sogar Wahlkampfmanagerin für zwei Kandidat*innen in Santiago. Zur Zeit ist sie so was wie die innerparteiliche Juristin und kann entspannt von zu Hause aus z.B. Schiedsgerichtsfragen klären. Gewonnen hat die Wahl der rechts-konservative Präsident Sebastián Piñera, den wir ab der zweiten Flasche Wein nur noch „den Clown“ nennen. Der bringt das Land zwar nicht nach vorne, aber macht auch nur irgendwelchen populistischen Schnickschnack. So gilt seit März eine Begrenzung von maximal 2 Plastiktüten pro Einkauf. Das ist ja ganz cool, aber es kann nicht kontrolliert werden. Und ansonsten gibt es kaum ökologische Bestrebungen. Der Bergbau als wirtschaftlicher Motor des Landes, sucht immer neue Ressourcen und natürlich wird auch auf Chiloé gesucht. Aber die Chilot*innen gelten als strikte Umweltverteidiger*innen, sodass größere Eingriffe in die Natur zu massiven Protesten führen würden.

So erklärt mir Matias, dass eine gelb-blühende Pflanze auf Chiloé sich invasiv ausbreitet und dabei andere Pflanzen durch ihre Wurzeln killt. Sie sieht tatsächlich sehr hübsch aus, aber ist dummerweise eine Gefahr für die Natur der Region. Ähnliches gilt für die industrielle Lachs-Produktion. Immer wieder brechen Lachs-Schwärme aus ihren Aufzucht-Gefängnissen aus und bedrohen die vielfältige Meeresflora. In dem Zusammenhang steht auch die invasive Ausbreitung einer roten Alge in allen Gewässern rund um die Insel.

Blick von Ancud; hinten: eine weitere Insel; vorne rechts: die invasive Pflanze

Als wir wieder über den Clown sprechen, meinen sie, dass die wirkliche Gefahr in Lateinamerika bald von Jair Bolsonaro ausgeht. Der frisch gewählte brasilianische Staatspräsident bedient die faschistische Klaviatur und ist in seinem Populismus mit Trump zu vergleichen. Er befürwortet die Militärdiktatur, hetzt gegen Frauen, Homosexuelle, die freie Presse, Schwarze und beabsichtigt Klima- und Umweltschutzmaßnahmen komplett zurück zu nehmen. Was das bedeutet, wird die Welt nun ab dem 1. Januar 2019 sehen, wenn er dann sein Amt antritt.

Mittlerweile ist es schon 3 Uhr nachts durch und der Wein alle. Nachdem wir diskutiert haben, ob wir angesichts des Klimawandels noch warten können bis sich der oder die letzte freiwillig entschieden hat, ob er vielleicht auf eine Plastiktüte verzichten mag, oder ob es unpopuläre Methoden bedarf … gehen wir dann ins Bett.

Ancud und 1960

Ich nutze den schönen neuen Tag um Ancud etwas zu erkunden. Tatsächlich erscheint mir die Stadt wie Warnemünde im Frühling. Der stete Wind treibt die Wellen gegen die Wasserkante. Immer wieder speit dann eine Welle über den Betonmauer. Es ist grad auflaufende Flut. Die flachen bunten Häuser liegen geduckt in dem grün der Hügel. Das Zentrum am Wasser wird grad neu gestaltet und ist deshalb als Baustelle gesperrt. Es gibt noch ein altes spanisches Fort, aber das eigentlich bedruckende ist die Landschaft außenrum. Ein versteckter Strand, die Bucht, das ständige Grün (mit gelben Punkten), die Muschel-Wege, … Ja tatsächlich wurden manche Wege einfach aus Muscheln gemacht. Im Zentrum gibt es einen traditionellen Markt in einer neu gestalteten Halle. Hier gibt es Muscheln, Algen und andere Wasser- und Waldpflanzen in Unmengen. Bei 95% kann ich nicht sagen, was das ist, oder wozu das gegessen wird. Es gibt auch eine Sonderart des Knoblauchs. Die Zehen sind gut dreimal so groß wie gewöhnlich und die Knollen machen locker den Zwiebeln Konkurrenz. Auf einen ersten flüchtigen Blick sieht mensch dann auch nicht unbedingt, dass es Knoblauch und keine Zwiebel ist.

Überall hängen Plakate, wie auch schon in Puerto Montt, dass bald eine Erdbeben– und Tsunami-Übung bevorsteht. Alle sind aufgefordert an der Übung teilzunehmen. Es werden schon Regionen definiert, die besonders von der Übung betroffen sind. Eigentlich alle, die von einem größeren Tsunami überschwemmt werden könnten. Ich verlasse die Insel leider kurz vor der Übung in den nächsten Tagen. Solche Übungen haben für die Region eine besondere Bedeutung.

1960 kam es in ganz Süd-Chile, mit dem Epi-Zentrum bei Temuco, zum größten je aufgezeichneten Erdbeben der Welt. Mit 9,5 auf der Richter-Skala kam es zu katastrophalen Zerstörungen. Ein bis zwei Millionen Chilen*innen wurden obdachlos, was ca. ein Viertel der gesamten Bevölkerung war. Erdbeben dauern normalerweise nur wenige Sekunden, doch dieses hielt ganze fünf Minuten an. Der ausgelöste Tsunami erreichte eine Höhe von 25 Metern. Die Bucht von Valdivia war für eine Stunde trockengelegt, weil sich erst das Wasser zurückzieht bevor die Welle kommt. Der Tsunami erreichte noch in Hawaii 11 Meter und tötete noch über hundert Menschen in Japan. Selbst erdbebensichere Gebäude hielten den Erschütterungen nicht stand. Auch Vulkanausbrüche wurden ausgelöst und die Küstenlandschaft hat sich mancherorts erheblich verändert.

Bild aus dem Regionalmuseum in Ancud: Meerbeben 1960, Am Donnerstag den 22. Mai 1960 um 15:11 Uhr …

Vor der Küste Chiles schiebt sich die ozeanische Platte unter die kontinentale Platte, wodurch es die Vulkane, Erdbeben, Tsunamis und Anden überhaupt gibt. Bei dem „großen Chile-Erdbeben“ wurde ruckartig ein 200 Kilometer breiter kontinentaler Block 20 Meter nach Westen bewegt und angekippt. Die extreme Energie die durch das Beben freigesetzt wurde, führte auch dazu, dass sich die Erdachse um drei Zentimeter verschoben hat. Ich bin ganz froh, dass ich hier kein Erfahrungsbericht dazu niederschreiben kann.

Maria allerdings kann von einem Beben und Tsunami in Valdivia berichten. Tatsächlich ist sie auch nicht die erste, die mir davon berichtet Beben erlebt zu haben. Es gehört zum Leben der Menschen in Chile dazu, wie es für uns normal ist, dass es mal schneit. Bei ihr aber ist es besonders interessant, weil tatsächlich die Familie des Cousins evakuiert wurde, dann später ihr Haus nicht mehr vorfinden konnte, weil es der Tsunami mitgerissen hat und deshalb für eine Weile in dem Haus von Marias Familie in Santiago leben musste.

„Kaum zur Macht sie sind gekommen, mit dem Pinguinen sie sind geschwommen“ (Zitat Ken der Guru, siehe Känguru-Offenbarung)

Deutlich friedlicher geht es dagegen am Strand von Puñihuil zu. Einem beschaulichen Traumstrand im Nordwesten der Insel. Vom Regionalbusbahnhof in Ancud fahren nur wenige Busse, aber für die handvoll Touris sogar vier Mal am Tag ein Bus nach Puñihuil. Am breiten und weiten Sandstrand warten schon die Touranbieter*innen. Der Ort ist der einzige in der Welt wo Humboldt– und Magellan-Pinguine gemeinsam brüten. Um das touristisch zu erschließen, haben die Fischer*innen des Strandes eine Art Genossenschaft gebildet und bieten gemeinsam die gut halbstündigen Rundfahrten an. Auf einem speziellen Gefährt werden wir dann trockenen Fußes zu einem der Boote gebracht, die dann um die vorgelagerten Inseln tuckern.

Und tatsächlich, da wackeln sie, die kleinen Pinguine. Viel kleiner als ich gedacht hatte und mit hängenden Kopf schwanken sie über ihre kleinen felsigen Inseln. Die Felsinseln ragen hoch heraus und oben drauf, auf der Wiese, sollen sie brüten und leben und kommen lediglich die schmalen Pfade zum Futtern nach unten. Manchmal ganz allein, oder zu dritt, je nachdem.

Ich bin schon etwas beeindruck, sind es doch die ersten Pinguine die ich sehe und tatsächlich leben sie nicht nur in der Antarktis, sondern auch schon viel weiter nördlich. Sie sind deutlich weniger agil als die ganzen Zeichentrick-Held*innen in den Kinos der letzten Jahrzehnte. Sie gelten übrigens als sehr neugierig und haben kaum Scheu gegenüber Menschen, sodass Annäherung auf wenige Meter sie in ihrem Lebensraum kaum beeinträchtigt.

Doch nicht nur die Pinguine genießen die Abgeschiedenheit hier. Auch eine Gruppe brauner Robben chillt in der Sonne und guckt uns ganz gelangweilt an. Vielleicht kennen sie das Boot schon zur Genüge, denn es kommt ja drei mal täglich. Uns werden noch weitere seltene Tiere gezeigt, wie z.B. Pelikane und eine graue Ente, wo ich aber schon vergessen habe, warum die so besonders ist.

Alles ist an dem Ort gut abgestimmt und sobald das Boot zurück am Strand ist, kommt auch schon der Bus, der den Großteil der Touris einsammelt. Ich entscheide mich aber für eine Wanderung in die Umgebung. Schnell erreiche ich einen höheren Punkt und erlange einen spannenden Ausblick über die kaum berührte Natur. Der einzige Weg ins Hinterland verbindet nur alle paar Kilometer einen Bauernhof, die Teils nur aus Wellblechverschlägen bestehen.

Nach einer guten Stunde erreiche ich die andere Seite der kleinen Halbinsel und setze mich vom Atem beraubt hin: Es ist die komplette Einsamkeit. Die Natur der Küste und ich. Niemand anderes. Die Küstenkordillere ist vom wilden Pazifik zu einer Steilküste abgearbeitet worden. Grün hügelt sich die Insel, begrenzt von dunkelbraunen Fels, schwarzen Kies-Strand und umspült von dunkelblauen Wasser. Es ist wie eine übergroße Malerei, die einem ermöglicht über Stunden immer neue Details zu entdecken. Noch lange beobachte ich, wie das Meer über die Felsen faucht und wie ein flüssiger Geist versucht, die Küste hochzuklettern. Immer wieder greifen die großen Wellen über die Felsen auf den Strand, rutschen aber dann doch wieder zurück ins Meer. Hier bin ich soweit weg von jedem Menschen, dass es vielleicht der beste Ort ist um zu Philosophieren, den Sinn der Reise zu diskutieren oder gar ein Gedicht zu schreiben.

Dieses könnte ich dann auf dem Rückweg den vielen Kühen, Pferden, Hunden, Schafen, Vögeln und Hühnern vorstellen. Am Traumstrand zurück, warte ich dann einfach auf den Bus und schaue den Bootstouranbieter*innen beim Federballspielen zu. Ihr Job bietet offensichtlich auch viel Freizeit. Irgendwann kommt der Bus. Dieser fährt direkt auf dem Strand entlang, durchquert ein breites Flussbett mit Anlauf und nimmt dann die Schlängel-Straße zurück nach Ancud.


Nov 1 2018

Eine Stadt mit Seilbahn und Tal – Ein Land mit Pulli und Lederjacke

Von Karl

 

La Paz, El Alto, Bolivien

Nun bin ich also in Bolivien und unser erster Aufenthalt ist gleich La Paz, in dem sich auch der höchstgelegene Regierungssitz der Welt befindet. Die Hauptstadt allerdings ist Sucre, die größte Stadt, die sich mehr im Zentrum des Landes befindet. La Paz liegt im Westen und ist durch seine Tal-Lage geprägt. Zwischen 3200 und 4100m befindet sich das Stadtgebiet, das am oberen Tal-Rand fließend in das angrenzende El Alto übergeht. Der Name sagt es schon, denn El Alto heißt so viel wie „die Hohe“, El Alto liegt hoch und ist nochmal größer als La Paz selbst. Eigentlich könnten beide auch eine Stadt sein und dann wäre es auch die größte Boliviens. Knapp 2 Millionen Menschen lebten in dieser. Auf dem Weg nach La Paz muss mensch fast immer durch El Alto fahren, sodass auch wir am Übergang der beiden Städte einen kurzen spektakulären Ausblick vom Tal-Rand aus auf La Paz bekamen.

Hauptverkehrsstraße in El Alto

Die Höhe wirkt sich auf das Klima aus, und damit auf die Einkommensverteilung. In La Paz‘ Süden lebt es sich wärmer, tiefer und moderner. Einfamilienhäuser, fast wie in Westeuropa. Sogar Supermärkte, was in Bolivien tatsächlich etwas ungewöhnliches ist, weil schon in La Paz‘ höheren Norden sind die Straßen voll mit Verkaufsständen, Regierungsgebäuden, ärmer und auch touristischer. Weiter nördlich und westlich schließt sich dann El Alto an. Hier geht es im Winter (Juli) schon in den Minus-Bereich. El Alto, aber auch Bolivien als solches, ist durch Indigene Gruppen geprägt. So leben in El Alto drei Viertel Aymara-Sprechende. Auch ist Bolivien eines der ärmsten Länder Südamerikas. Über 50 Prozent der Bevölkerung El Altos sind unter 20 Jahre, was auch an der hohen Landflucht liegt. 70 Prozent leben unter der Armutsgrenze und die meisten Haushalte haben weder Strom- noch Wasseranschluss.

El Alto ist in gewisser Hinsicht also das Armenhaus zu La Paz‘ Reichtum. Boliviens Besucher*innen landen größtenteils im Zentrum von La Paz‘, was aufgrund der einzigen Ausdehnungsmöglichkeit nach Süden, im Norden liegt. Auch wir haben unsere Unterkunft nahe der touristischen Hauptroute bezogen und sind froh als wir in dieser gebirgigen Stadt unsere Rucksäcke ablegen können.

Blick auf La Paz

Hexenmarkt

Noch des Abends machen wir einen Rundgang durch unsere Gegend und zum ersten Mal erleben wir, dass so gut wie alles an der Straße verkauft wird. Offizielle Geschäfte gibt es nicht. Zufällig biegen wir auch in den Hexenmarkt ein, der als touristisches Highlight angepriesen wird. Aber an sich hat er eine ernste Funktion. Der Markt verkauft vieles von dem, was für indigene Rituale gebraucht wird. So wird oft Pachamama („Mutter Erde“) gehuldigt in dem ihr Sachen gespendet werden und sie mag wohl gerne Geschenke und am liebsten Alkohol. Insbesondere beim Hausbau wird auf gutem Segen vertraut und deshalb wird ein totes Baby-Lama oder –Alpaka im Fundament mit eingegraben. Dafür werden nicht extra welche gezüchtet, sondern Halter*innen verkaufen ihre, die beispielsweise durch Krankheiten, Kälte oder Unfälle gestorben sind. Als wir aber an den Ständen des Hexenmarktes vorbei liefen, ist es doch etwas unheimlich, dass unzählige tote ausgetrocknete Baby-Lamas über der Laden-Theke baumeln.

Wir erfahren auch, dass für größere Bauvorhaben auch größere Opfer erbracht werden müssen. So werden obdachlose Alkoholiker*innen befragt, um herauszufinden, ob sie von jemanden vermisst werden, bevor sie dann völlig betrunken, aber lebend begraben werden. Das Leben muss nämlich Pachamama ihnen nehmen. Sollte das Ritual unterbleiben, so werden Tote beim Bau oder im Haus später darauf zurückgeführt, dass die Pachamama sich ihre Opfergabe holt. Wir haben uns lieber während unseres Aufenthaltes in La Paz vom Alkohol fern gehalten. Sicher ist sicher.

Das indigene Leben spiegelt sich vielfach in den Straßen wieder. Besonders die Frauen tragen weite mehrlagige Röcke, verschiedenste Hüte, von denen manche der neuste Schick im 20sten Jahrhundert waren, feine Sandaletten und oft Schürzen oder gestrickte Pullover. Die langen Haare zu zwei Zöpfen gemacht und mit gestrickten Bommeln verlängert. Auf dem Markt gibt‘s die Haarverlängerungen zwischen den Wollsachen zu kaufen. Auf dem Rücken werden in bunten Decken, die vorne verknotet werden, allerlei Sachen transportiert. Der Einkauf, die Auslage für den Markt, das eigene Kind oder was auch immer zu transportieren ist.

Auf den Märkten sind vor allem die indigenen Frauen, die die Sachen verkaufen. Zum Teil entwickeln Käufer*innen und Verkäuferinnen eine enge Bindung, das heißt, menschen gehen immer zur selben – also zu ihrer – Verkäuferin. In Marktgesprächen weiß die Verkäuferin dann nicht nur was mensch kaufen möchte, sondern in etwa so viel wie die eigene Mutter, oder gar noch mehr. Mensch kann also auch mal sein Herz ausschütten, Bestätigung finden oder was sonst noch los ist. Es gehört wohl zum bolivianischen Leben dazu, seine Verkäuferin des Vertrauens zu finden, wo mensch jedes Mal die Sachen kaufen geht und einen Schnack hält.

Männer dagegen tragen weniger oder kaum traditionelle Kleidung. Der indigene Schick ist zwar in Bolivien deutlich zu sehen, ist aber auch beispielsweise in Peru anzutreffen und variiert deutlich von Region zu Region.

Minibusse bestimmen den Stadtverkehr (wie hier in El Alto)

Seilbahn

Zwischen den ganzen Märkten, die unglaublich lang und weitläufig sind, schlängeln sich die vielen kleinen Micros bzw. Kleinbusse. Neun-Sitzer mit einer Nummer und lauter Schildern in der Windschutzscheibe, wo es überall hingeht. Sie sind fast die einzigen Fahrzeuge in La Paz und El Alto. Die hellen kleinen Busse fahren auf festen Routen durch die Stadt und halten, wenn mensch sie ranwinkt oder wenn mensch grad aussteigen will. Haltestellen gibt es nicht beziehungsweise sind so gut wie überflüssig. Ein System was weit über La Paz hinaus seine Anwendung findet. In La Paz gibt es einige hundert Routen, sodass Nachfragen ob dort oder wo der Bus hinfährt, der Standard ist.

Ein weiteres öffentliches Verkehrsmittel sind die Seilbahnen, die zum Teil noch im Bau sind. Von Stationen aus geht es mit einem Schwung schnell in luftige Höhen. Eine gute Möglichkeit einen Blick über die Stadt zu bekommen, ist die rote Linie, die am alten Bahnhof von La Paz auf 3800m startet und dann am Rande von El Alto auf 4100m endet. Direkt schließt sich die blaue Linie in El Alto an, die dann tief nach El Alto hineinführt.

Besonders auf der blauen Linie wird Propaganda für einen Zugang Boliviens zur Pazifikküste betrieben. Schon im 19. Jahrhundert (Salpeterkrieg) verlor Bolivien den Zugang zum Pazifik, was wirtschaftlich ungünstig ist. Neben Paraguay ist Bolivien das einzige Land Südamerikas ohne Zugang zu einem Ozean. Die ehemals bolivianische Pazifikküste ist schon länger Teil von Chile, aber Bolivien und auch Evo Morales fordern weiterhin einen eigenen Zugang.

Evo Morales

Evo Morales ist aktueller und berühmtgewordener Präsident des Landes. Seit Amtsantritt trägt er bei allen öffentlichen Auftritten sein Chompa, eine Art indigener Pullover. Da dieser aus teurer Vicuña-Wolle gefertigt ist, ist er vergleichbar mit teuren Anzügen der westlichen Welt. Darüber trägt er dann eine Chamarra, eine Art traditionelle Lederjacke. Die Bilder, wo er anderen Staatspräsident*innen mit Pulli und Lederjacke die Hand gab, gingen um die Welt. Grund dafür, ist seine Betonung der indigenen Rechte und seiner indigenen Herkunft.

Morales stammt aus ärmsten Verhältnissen. Teils gab es nur Maissuppe zu essen. Er hat kaum die Schule besucht. Seine politische Karriere begann er im Sindicato, eine Art Dorfversammlung. Neben den offiziellen Strukturen, gibt es oft indigene Strukturen, die eine Selbstverwaltung und Selbstorganisierung darstellen. Insbesondere als durch den Druck der USA der Koka-Anbau bedrängt wurde, bekam der nun Anführer der Koka-Bäuer*innen-Bewegung gewordene Morales, Auftrieb. Seine Politik gilt als populistisch, anti-USA und anti-imperalistisch. Mittlerweile soll er bei den Indigenen und Koka-Bäuer*innen wieder an Rückhalt verlieren.

Als wir in La Paz an einer Führung teilnahmen, endete diese in einem Hinterzimmer eines Restaurants. Grund dafür ist, dass wir so leichter über Politik reden können. Das Land ist gespalten und stark politisiert. Für oder gegen Morales ist auch eine emotionale Frage. Öffentlich über Politik zu reden, kann dazu führen, dass schnell mal jemand wutentbrannt dazwischengeht. Zudem wird er teils als „Trump Boliviens“ bezeichnet. Seine Art sei es wohl, kaum nachzudenken und einfach Sachen öffentlich zu sagen. Einmal meinte er, dass Coca-Cola und Hühnchen schwul machen und ein paar Tage drauf wurde er dann mit Cola und Hühnchen photographiert. Danach musste er zurückrudern. Beispiele für diese unüberlegten Äußerungen gibt es viele. Auch ist er ein Befürworter der Kinderarbeit als kulturelle Eigenheit Boliviens. Kinderarbeit ist tatsächlich weit verbreitet in Bolivien, aber auch in anderen Anden-Staaten, weswegen es aber nicht gut sein muss. An vielen Verkaufsständen beispielsweise begegnen einen Kinder.

Gleichwohl hat er viel für Bildung, Sport und Gesundheit, insbesondere im ländlichen Bereich getan und die Rechte der Indigenen gestärkt. Auch was Diskriminierung als solches betrifft, gab es Fortschritte. Neben der offiziellen bolivianischen Flagge ist auch die indigenen Flagge offizielle Staatssymbolik und jede*r Soldat*in trägt diese auf der Uniform. Zudem auch die blaue Seekriegs-Flagge, die den Anspruch auf einem Zugang zum Pazifik unterstreicht.

Von der Macht wieder lassen, kann er allerdings nicht. Normalerweise können nur maximal zwei Amtszeiten für einen Präsidenten möglich sein, aber durch eine Verfassungsänderung wurde Bolivien von „Republik Bolivien“ in „Plurinationaler Staat Bolivien“ umbenannt, wodurch Morales argumentiert, dass ja ein neuer Staat entstanden sei und neu gezählt werden müsse. Noch macht er nicht den Anschein, dass er pünktlich aufhören wird. Auch bei den Seilbahnen in La Paz und El Alto hatte Morales mitgewirkt und verkauft das Projekt als sein Erfolg, sodass er omnipräsent von einigen Großflächenplakaten winkt.

Am zentralen Platz der Stadt steht auch das Kongressgebäude. Dessen Uhr läuft linksrum. Grund dafür ist, darauf aufmerksam zu machen, dass das Land auf der Südhalbkugel liegt. Uhren laufen rechtsrum, weil eine Sonnenuhr auch rechtsrum läuft. Allerdings nur auf der Nordhalbkugel. Auf der südlichen Hemisphere läuft sie linksrum, deswegen ist diese Uhr linksrum, also gespiegelt.

Flohmarkt

Unsere Zeit in La Paz haben wir genossen. Ein guter Grund nach El Alto mit der Seilbahn zu fahren ist der zwei Mal die Woche stattfindende Flohmarkt. Direkt an der oberen Endhaltestelle der roten Seilbahn. Hier gibt es alles. Diesmal übertreibe ich nicht. Soweit das Auge blicken kann, reihen sich Stände aneinander und es kann wirklich alles erstanden werden. Zu unglaublich günstigen Preisen sogar. Bezahle ich normalerweise ca. 1 Euro pro Gigabyte, wenn ich eine Mini-SD-Speicherkarte kaufen würde. Hier habe ich eine 128 GB Speicherkarte für 100 Bolivianos erstanden. Das sind 12 Euros. Wir sind glotzend durch die Reihen gewandert, für Stunden, ohne wirklich ein Ende zu finden. Ein großes Glas frisch gepresster Orangen-Saft zum sofort austrinken: 1,5 Bolivianos (18 Cent).

Damit endete auch unsere Zeit in La Paz und wir sind zurück zum Busbahnhof gekehrt. Über Nacht geht es weiter nach Süden!


Jul 3 2018

Zwischen Wellen und Babys

von Karl, Puerto Lopez, 30. Juni 2018

 

Wir stehen noch auf dem Fußweg, während schon die ersten Taxis neben uns halten oder „Taxi“ zurufen. Gerade hat uns der Reisebus hier rausgelassen und 50 Meter oberhalb ist der kleine Busbahnhof dieser Firma. Für 3,85 US-Dollar sind wir einmal durch die halbe Provinz Guaya von Guayaquil nach Playas gefahren. Gerade ist viel los auf den Straßen. Motos, das sind die überdachten Dreiradmotorräder, sägen die Straße hoch und runter. Dazwischen Taxen, Busse und manchmal sogar ein LKW. Aber eher ein sehr alter LKW. Die hochgestellten, die nur sehr langsam anfahren und immer eine Rußwolke produzieren, wenn sie losfahren. Meist noch Motorhaube vor dem Fahrstand und einem straßenbewährten Unterhemd-Träger mit Basecap hinterm Steuer. Alles eher alt, rustikal und repariert.

Wir gehen nur wenige Meter die Straße runter und treffen auf einen kleinen Platz mit den bunten „Playas“-Lettern. Dahinter senkt sich eine andere Straße gen Horizont ab und gibt zwischen den Häusern einen ersten Blick auf Sandstrand und Meer frei. Was wollen wir mehr?

Wir verhandeln mit einem Hostal am Platz, für eine Nacht, legen unsere Rucksäcke ab und ab geht‘s ans Meer. Tatsächlich Sandstrand und schöne große Pazifik-Wellen. Das Wasser ist sehr trüb, aber die Wellen haben es in sich. Fast schon mit kindlicher Freude springe ich zwischen die Wellen, tauche drunter durch oder lasse mich zum Strand spülen. Ein herrliches Gefühl. Als eine große Welle mich unsanft auf den flachen Sandboden wirft, verlasse ich das Meer und lege mich an den Strand.

Wir haben nun Kontakt zu Catalina bekommen. Sie hat wohl was verpeilt, aber nun sitzt sie vor mir und wir reden. Vor allem sie redet. Viel. Sie hat ihre Tochter Charlotte dabei, die aber erstmal alles auseinandernimmt, was sie greifen kann; oder heult. Über ihre Kinder und deren Väter und ihre Vorstellungen von Familie kann sie stundenlang reden. Am Ende können wir aber doch noch einen Treffpunkt ausmachen: morgen um eins vor der Kirche.

Was soll ich groß dazu sagen. Sie war nicht um eins da. Ich frag mich manchmal ob ich das blöd finden darf, oder ich das akzeptieren muss. Es kommt oft vor, dass ausgemachte Zeiten, nicht bedeuten, dass mensch sich zu dieser Zeit trifft, sondern auch erst eine halbe Stunde, oder gar zwei Stunden, später. So ist meine Erfahrung der letzten nun schon weit über zwei Monate. Manchmal wünsche ich mir, dass wir nicht die einzigen Pünktlichen sind.

Gegen halb Drei kam sie dann, nachdem ich ihr nochmal geschrieben habe. Wir folgen ihr 14 Blocks die Straße wieder hoch, bis der Asphalt aufhört. Ihr Haus ist groß und geräumig. Besteht aber nur aus dem Erdgeschoss und hat noch etwas Terrasse, die aber vollgestellt ist. Da zwei Kinder nicht reichen, zieht die Sängerin noch ein Katzenbaby auf (#Ironie). Ihren Unterhalt bestreitet sie wohl daraus, regelmäßig zu singen, z.B. in Restaurants oder auf Beerdigungen. Sie möchte auch uns sehr umsorgen und ich schaue ihr beim Käsesuppe-Kochen zu. Mit ihrer Instruktion hole ich noch Koriander aus einem Laden um zwei Ecken. Tatsächlich bezahle ich nur 5 Cent. Wenn ich den Preis nicht wüsste, hätte ich als Gringo (= weißer Ausländer) wohl deutlich mehr bezahlt. Die Käsesuppe schmeckt tatsächlich sehr lecker. Nudeln, Kartoffeln und Käsewürfel schwimmen unter den Fettaugen. Als wir schon lange den Boden unserer Schüsseln ausgeleckt haben, ist Catalinas Schüssel noch halb voll. Als ich noch höflich zuhöre, sucht Rosa schonmal das Weite, um den steten Erzählfluss zu entkommen.

Doch es ist auch spannendes dabei. So erfahren wir, dass Bildung und Gesundheit kostenlos sind in Ecuador. Der Ex-Präsident Rafael Correa hat in seinen drei Amtszeiten von 2007 bis 2017 sehr viele Veränderungen geschaffen, die die Armut stark reduziert haben. Catalina zeigt mir auch Milch und Müsli-Riegel, die zusätzlich zur kostenlosen Verpflegung in Schulen und Kindergärten, an die Familien dort ausgegeben werden. Sie meinte die Riegel wären sehr gesund. Correa hat Homo- und Heterosexualität gleichgestellt, Abtreibung legalisiert und den Einfluss der Kirche gemindert. Auch mit der Polizei und Militär legte er sich an. So kam es zu einem Streik der Polizist*innen, den Correa mittels persönlicher Gespräche besänftigen wollte, jedoch wurde er von den streikenden angegriffen und musste ins Krankenhaus. Die Bevölkerung lieferte sich daraufhin Auseinandersetzungen mit den Streikenden und schlussendlich wurde so der Aufstand beendet. Weil die Bevölkerung hinter Correa stand.

Catalina hat uns viel umsorgt und wir ihr beim Einkauf geholfen und lecker für alle gekocht, doch schlussendlich wollten wir weiter und schauten in ein trauriges Gesicht, als wir mit den großen Rucksäcken das Haus verließen.

Sie schickte uns an die Straße, statt zum Busbahnhof, weil dort eh der Bus vorbei kommt. Gesagt, getan: Der dritte Reisebus hielt tatsächlich, auch wenn es keine Haltestelle gab, aber das scheint keinen zu stören.


Jun 27 2018

Kaffee, der stresst

von Karl, 26. Juni 2018, Playas (General Villamil)

 

Heute stelle ich euch Piura vor. Piura hat für mich zwei Gesichter. Sie heißen NorAndino und Kev. Beide Gesichter möchte ich euch vorstellen. Auch wenn es vielleicht unglücklich losgeht, so seid beruhigt, es wird besser.

(Nicht) Willkommen bei NorAndino

Unser zentrales Anliegen in Piura war der Besuch der großen Exportfirma „NorAndino“. NorAndino beliefert die ganze Welt, vor allem aber Europa, mit fairen Kaffee, Kakao und Rohrzucker. Schon in Huancayo kannten Leute NorAndino. Mehrere Tausend Bäuerinnen und Bauern arbeiten für NorAndino und es gibt mindestens eine große Fabrik, sowie eine Geschäftsstelle. Wir haben Probleme Informationen von unserer Kontaktfrau zu bekommen und werden sie nicht einmal zu Gesicht bekommen. Am ausgemachten Tag rufen wir an und können dann doch einfach vorbei kommen. Nun warten wir lange, doch Interesse an uns hat hier niemand. Das war bei den anderen Firmen meist anders, weil unser Film oft eine Gelegenheit ist, auch die eigenen Produkte vorzustellen. Gratis Werbung halt. Irgendwann sprechen wir mit einem Ingenieur, aber auch ihm erzählen wir alles von vorn. Dann schickt er uns mit einen Fahrer in die Kaffee-Fabrik.

Unbegleitet schlendere ich zwischen riesigen Lagern von Kaffee-Säcken und lauten staubigen Rüttelmaschinen und Transportbändern umher und mache Photos und Filmaufnahmen. Ich verstehe nicht, was die Maschinen machen. Die Lagerhallen sind beeindruckend groß und es prangern die großen Bio- und Fair-Handels-Siegel der importierenden Länder an den Wänden. NorAndino ist offensichtlich eine große und stolze Firma. Neben den Maschinen ist es kaum auszuhalten. Es ist extrem laut und staubig. Obschon es sehr aufgeräumt aussieht, ist der Boden von dem staubigen Sand bedeckt. Der Staub entsteht in der Produktion und stammt von den Kaffee-Bohnen. Die Kaffee-Schalen torkeln neben manchen Maschinen durch die Luft. Die staubige Luft wird matt von den Lampen erhellt und taucht die Umgebung in dunkles Gelb. Ein Arbeiter begegnet mir, alle anderen sind in der Mittagspause. Die Maschinen laufen wohl auch ohne Arbeiter*innen ganz gut.

Unser Begleiter taucht wieder auf und erklärt uns, dass wir am nächsten Tag zu den Kaffee-Feldern können, allerdings müsste NorAndino für uns ein Auto mieten. 60 Soles meint er. Das sind ca 15 Euro. Wir überlegen lange, ob wir den Film weiter verfolgen, wenn wir sogar für unsere Arbeit zahlen sollen. Schlussendlich gewinnt die Neugier und wir willigen ein. Er erklärt uns noch, dass eine Präsidentin einer deutschen Firma oder NGO gerade bei NorAndino zu Gast ist und sie uns gern treffen mag. Wir sollen um 4 Uhr nochmal zum Büro kommen.

Punkt um 4 sitzen wir wieder an gewohnter Stelle und warten. Irgendwann ist es nach um 5 und ein Angestellter fragt uns, ob wir sie gern heute oder morgen treffen mögen. Auf heute haben wir kein Bock mehr. Wir kommen uns ziemlich verarscht vor.

Tags drauf sind wir dann schon um 7 Uhr in der Frühe vor der Geschäftsstelle und finden unseren wortkargen Fahrer samt Geländewagen. Auf geht‘s. Auf der neuen Landstraße geht es mit 160 Sachen voran. Nur für die Bodenwellen wird abgebremst, die extra dafür da sind, dass langsam gefahren wird; und wohl auch in den Dörfern an der Strecke die einzige Überlebensversicherung ist, die Straßenseite zu wechseln. Irgendwann wird die Straße zu Beton und dann zu Schotter. Wir durchqueren Bachläufe und sehen die Berge. Ich bin überrascht, dass der Fahrer gar nicht von NorAndino ist und auch nicht den Weg kennt. Er hat nur einen Namen und einen Ort. Wir fahren durch die Berge in verschiedene Dörfer und mehrere Dutzend Mal fragt unser Fahrer nach dem Weg. Nach über vier Stunden und mehren Hin und Her finden wir den gesuchten Mann und folgen seinem Motorrad.

In einem NorAndino-Kaffee-Tal

Ricces ist Agrar-Ingenieur und das erst seit ein paar Monaten bei NorAndino. Hinzu kommt noch seine Kollegin, die den selben Job mit der selben Erfahrung macht. Sie betreuen Bäuerinnen und Bauern bei der Kaffee-Produktion. Er zeigt mit der Hand in das Tal und erklärt uns, dass hier überall Kaffee von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern angebaut wird und auch alle für NorAndino arbeiten. Das ganze Tal. Ein NorAndino-Kaffee-Tal. Jede*r der Ingenieur*innen hat eine bestimmte Region und kümmert sich um eben jene Kaffee-Bäuerinnen und -Bauern dieser Region. Entlang eines steilen schlammigen Pfades steigen wir mit den beiden von dem Dorf abwärts gen Tal. Ricces und Kollegin sind sehr geduldig und freundlich mit uns und erklären uns alles mögliche zur Kaffee-Produktion.

Es werden verschiedene Sorten angebaut, die verschieden schnell tragen und verschieden ertragreich sind. Normal sind die Beeren an den Sträuchern grün und wenn sie geerntet werden rot bis dunkelrot. In etwa wie kleine Kirschen. Es gibt aber auch Sorten, die gelbe Beeren tragen. Ricces quetscht den Kern aus der Kirsche und zeigt uns damit, worum es bei der Kaffee-Produktion geht. Der Kern verliert noch seine Schale in der Fabrik und in Europa werden die Kerne dann geröstet, wodurch sich erst das Aroma entfaltet. Da das wichtig ist und das Aroma mit der Zeit verschwindet, wird nicht in Peru geröstet, sondern erst vor Ort.

Die Bäuerinnen und Bauern haben Bäche mit Gräben umgeleitet und fangen zum Teil das Wasser auf. Damit kann dann an den entscheidenden Stellen gewässert werden. Die Kaffee-Felder liegen am Hang im Bergregenwald versteckt. Es sind nur wenige Hektar große Flächen, die von außen für uns nicht zu erkennen sind. Zumal zwischen den Kaffee-Sträuchern noch Bäume gepflanzt wurden, die verschiedene Zitrusfrüchte tragen. Sie bringen den nötigen Schatten, weil sie allesamt größer sind als die nur menschenhohen Kaffee-Sträucher. Ricces bestätigt unser Frage nach dem Klimawandel so schnell wie wir sie gestellt haben. Unsichere Regen- und Trocken-Zeiten seien die Folge, sowie das verstärkte Auftreten von Schädlingen. Vor dem Klimawandel waren die Jahreszeiten eindeutiger. Start und Ende sind ungewisser.

Es ist erstaunlich, wie für alle Bäuerinnen und Bauern die wir schon in Südamerika getroffen haben, es offensichtlich ist, dass es den Klimawandel gibt. Während in Europa und Nordamerika es immer noch Menschen gibt, die daran zweifeln.

Wir haben großes Glück mit der von Ricces Kollegin gewählten Plantage, weil gerade geerntet wird, obwohl es nicht Erntezeit ist. Der Bauer und viele Bäuerinnen sammeln in Körben per Hand die roten Kirschen ein. Sie schauen etwas schüchtern als sie uns sehen. Als wenn sie sich etwas schämen. Ich habe den Eindruck, dass sie es jetzt besonders gut machen möchten. Wir platzieren Ricces, als den selbstbewusstesten, zwischen den Reihen mit Kaffee-Pflanzen und interviewen ihn. Er schlägt sich ganz gut und freut sich, fast schon wie ein Kleinkind, ein erstes Interview in seinem Leben gegeben zu haben.

Wir verabschieden uns von den Arbeitenden und arbeiten uns zwischen den Sträuchern den Steilhang hoch. Auf dem Weg angekommen begrüßt uns eine Tarantula, größer als meine Hand. Gefährlich sei sie wohl, aber Ricces vertreibt sie mit einem Holzstab. Eine Distanz, die mir etwas zu wenig ist. Für mich zu nah an der schon fast kuschelig anmutenden Spinne.

Wir schauen uns noch Verarbeitungsanlagen an, um zu verstehen, wie die Kerne vom Fruchtfleisch getrennt werden. Allerdings sind diese weitgehend klein und draußen. Mit einen umgeleiteten Bach werden die Bohnen gereinigt und später auf einer schwarzen Plane getrocknet. Laster bringen die Säcke voll mit Kernen dann in die vier Stunden entfernte Fabrik in Piura.

Erst gegen Sonnenuntergang sind wir wieder zurück in Piura und unserer Fahrer nimmt nur wenige Meter vor unserem Ausstieg einen Kollegen auf, der deutlich kräftiger und bedrohlicher ist. Beim Ausstieg will dieser dann das Geld abrechnen, aber nun sind es 770 Soles und damit ca. 200 Euro. Wir sind sehr verärgert und diskutieren lange mit ihm. Wir haben das Geld einfach nicht und können es auch nicht bezahlen. Die Situation ist sehr beschissen für uns. Erst will er mit uns zu NorAndino fahren, um zu erfragen ob die den Betrag teils übernehmen, aber er verfolgt seinen Vorschlag nicht. Plötzlich bietet er uns an, die eben getankten 160 Soles (40 Euros) zu zahlen. Für uns deutlich annehmbarer. Als die beiden dann glücklich gestimmt lächeln, erscheint uns dieser Deal als ziemliche Verarsche. Wir sind schnurstracks abgedampft und ärgern uns noch eine Weile. Selbst wenn sie 160 Soles vertankt haben, so hat der Fahrer an dem Tag ja nix verdient. Warum dann die Freude? Wir können es uns nicht erklären. Wir denken zumindest: Nie wieder NorAndino.

Kev

Kev ist die positive Seite der Medaille Piura. Kev ist unser Gastgeber. Der erste Eindruck ist nicht, dass er offen auf Menschen zugeht, aber seine vielen Fragen strafen diesen Eindruck Lügen. Auch für uns hat er viel Zeit und Beratung. Als Ingenieur verdient er selbst für peruanische Verhältnisse extrem gut. Besitzt ein fünfstöckiges Haus mit zig Wohnungen, welche er an Angestellte, aber vor allem Studierende vermietet. Im fünften Stock können wir ein Zimmer beziehen. Ein anderes wird von einem jungen Venezolaner, 19 Jahre, und einer Venezolanerin, etwa Anfang 30, bewohnt. Das Wohnzimmer ist sehr groß und beherbergt auch eine geräumige Küche. Befremdlich wirkt der große Monitor an der Wand der in Echtzeit die Aufnahmen der Überwachungskameras im ganzen Hans anzeigt. Zu Kev gehört Alexandra, seine Freundin. Sie ist Studentin, aber verbringt viel Zeit im Wohnzimmer mit schlafen und fernsehen.

An den meisten Abenden sitzen wir bis nach Mitternacht und tauschen uns über Deutschland und Peru aus. Er erklärt uns, wie größere Firmen in Peru ihre Steuern zurück bekommen können, sodass sie unterm Stricht so gut wie keine zahlen. Ähnlich wie in Deutschland sind Spenden steuerlich absetzbar.

Auch seien viele Peruaner*innen sehr rücksichtslos untereinander, währenddessen sie sehr zuvorkommend gegenüber Ausländern seien. Kev ist großer Freund von Bier, sodass wir den einen Abend mit einer kurzen Motorradfahrt zur Tankstelle beginnen. Dabei zeigt er mir welche Bereiche beim letzten „El Niño“ überschwemmt wurden.

El Niño, zu deutsch „das Christkind“, ist ein ca. alle vier Jahre zur Weihnachtszeit auftretenden Klimaphänomen vor der Westküste Südamerikas. Normalerweise trägt der Humboldtstrom das Pazifik-Wasser vom Land weg, Richtung Westen, Richtung Indonesien. Dabei steigt kaltes Tiefenwasser vor der Küste auf, sodass das Klima an der Küste etwas kühler und sehr trocken ist. Wüste. Bei El Niño versiegt der Strom und das Wasser vor der Küste wird aufgeheizt. Es entsteht ein warm-feuchtes Klima mit starken Niederschlägen. Bäche werden zu riesigen Strömen. Kev meinte, dass das Wasser bis in die Häuser gelaufen ist, obwohl der aktuelle Flusslauf gut 10 bis 20 Meter tiefer liegt und ein sehr breites Flussbett hat. Alle Straßen waren überschwemmt. 2016 hat ein El Niño die Westküste heimgesucht. Aber nicht nur diese Region ist dann betroffen, sondern das Wettergleichgewicht auf der ganzen Erde gerät aus dem Fugen. Selbst in Europa soll es dann kälter sein. Die Meeresflora und -fauna an der Küste ist dadurch massiv gestört, sodass viele Tiere hungern und sterben, weil die Nahrungskette zu einer Art Domino-Kette wird. Peruanische Fischer haben, weil Weihnachten plötzlich keine Fische mehr da waren, dieses Phänomen irgendwann El Niño getauft.

Kev berät uns aber auch, wie wir den zusätzlichen Tag nutzen können, der uns geschenkt wurde, als wieder mal zu spät uns um Bustickets gekümmert haben. Also stehen wir eines vormittags an der Kreuzung um die Ecke und suchen den Bus ins empfohlene Catacaos. Ein touristisches Dorf ganz in der Nähe. Tatsächlich finden wir ihn irgendwann, doch Catacaos ist uns keinen langen Besuch wert. Es gibt sehr viel Handwerk mit Gold und Silber, doch brauchen wir gerade kein Schmuck. Nach nur wenigen Stunden nehmen wir den Bus in die Gegenrichtung.

 

Mit Kev habe ich einen Freund auf der Reise kennengelernt. Der viel Geduld mit mir hatte, obschon ich seine Sprache nur schlecht spreche. Bei der Verabschiedung ist er dann wieder ganz der distanzierte. Für uns geht es weiter, nächster Stopp ist an der Grenze. Seid gespannt (-;


Jun 26 2018

Der alte Mann und das Meer

von Rosa

Die letzten Stunden vor den Sommerferien vergingen immer besonders langsam. Zwar wurde nicht mehr viel gemacht, ein Film geschaut oder Bankrutschen gespielt, aber umso unnötiger kam mir die Wartezeit dann vor. Viel lieber wollte ich meinen Schulranzen in die Ecke schmeißen und den Koffer für den Urlaub packen. Endlich Sommer, Sonne, Strand und Meer!

Doch dann kam alles ganz anders. Stau auf der Autobahn, die Taucherbrille vergessen und an der Ostsee 19 Grad und Regen. So ähnlich ging es mir mit Trujillo, der am Pazifik gelegenen und größten Stadt Nordperus. Endlich wieder Strand nach zwei Monaten in Brasilien und Peru, endlich wieder Wärme nach vier Wochen im Hochland und endlich wieder Sonnenschein nach drei Tagen Miesepeter-Nieselwetter in Lima – dachte ich. Die Wetterapp versprach 34 Grad und keine Wolke am Himmel. Wie ich später herausfand, gibt es wohl mehrere Trujillos in dieser Welt. Nach der Busfahrt, seit der ich endlich weiß, wie sich Ölsardinen in einer Dose fühlen, war ich zwar froh aus dem Bus zu fallen und mich wieder bewegen zu können, aber ich fiel auch von meiner Traumwolke. Der Himmel über Trujillo in tiefstem grau, das Meer nicht zu sehen und höchstens 19 Grad Ostseewetter. Manche Tage fangen eben so an, wie der vorhergehende aufgehört hat. So wie die Suche nach einem Busticket am Vortag, gestaltete sich auch die Suche nach einem Hostel in Trujillo schwierig. Unsere Erfahrung einfach mal drauf loslaufen und spätestens nach 200 Metern findet sich eine Unterkunft sollte sich in Trujillo nicht bestätigen.

Bepackt mit unseren Rucksäcken machen wir uns auf Richtung mehr. Doch kein Schild mit „Hospedaje“ weit und breit zu sehen. Bis zum Meer schaffen es die Füße nicht. Entnervt geben wir auf und fahren mit dem Taxi zurück zum Hauptplatz der Stadt, der in Peru fast immer „Plaza de Armas“ heißt. Kein guter Start für uns in Trujillo. Für die peruanischen Fußballspieler bei der WM auch nicht. In den letzten Tagen haben wir zahlreiche Stände mit Fußballartikeln in rot-weiß gesehen. An diesem Morgen begegneten uns viele Menschen in Trikots und mit geschminkten Fahnen im Gesicht. Man war aufgeregt vor diesem ersten Spiel bei einer WM nach 36 Jahren. Fußball im Fernsehen, auf den Straßen und das Smalltalk-Thema Nummer Eins. In den Geschäften kleben die Menschen vor den Fernsehern, ab und zu dröhnt ein Raunen aus den Restaurants. Doch keiner jubelt. Auch wir haben wenig Grund zum Jubeln. Aus dem Taxi ausgestiegen, spricht uns ein Tourguide an, ob wir ein Hostel suchen. Wir trotten dem kleinen Mann hinterher. Das Zehnbettzimmer, was er uns anbietet, ist zu eng und seinen Preis nicht wert. Als wir unverrichteter Dinge gehen, tönt er uns hinterher, dass wir kein Zimmer unter 25 Euro finden werden. Wir finden eins, ein paar Straßen weiter. Vor unserem Hotel wird alles Mögliche verkauft. Der Fußweg wird als Verkaufsfläche genutzt. Langsam schlängelnd kommen wir zwischen den Menschenmassen voran. An verschiedenen Ständen türmen sich die gleichen Produkte. Nur ein Restaurant ist schwer zu finden. Wir wollen gerade um eine Ecke biegen, da spricht uns ein Kellner auf englisch an. Wir diskutieren eine Weile und er überzeugt uns mit „Arroz a la Cubana“ und frischem Saft. Der junge Mann mit roter Schürze und einnehmenden Lächeln heißt Marco und kommt aus Venezuela. Wie viele andere ist er hier um zu arbeiten und seiner Familie Geld zu schicken. Wie viele andere kann er nicht in seinem früheren Job arbeiten. Stolz zeigt er uns ein Foto von sich in schwarzer Robe und seinem Abschlusszeugnis. Er hat Jura studiert. Was macht ein Anwalt in Peru, der sich mit venezolanischem Recht auskennt? Er räumt Teller ab. Marco und ich sind beide in Peru, beide 25, haben beide unser Studium beendet. Ich lebe gerade meinen Traum, Marco kann es nicht. Ich versuche das schlechte Gefühl runterzuschlucken, doch genau wie der trockene Reis meines Mittagessens, bleibt ein Rest im Hals stecken.

Trotz des schlechten Wetters machen wir uns am nächsten Tag auf zum Strand. Dafür müssen wir allerdings in das 15 Kilometer entfernte Huanchaco fahren. Nach einiger Zeit finden wir den gelb-roten Bus, der uns für 50 Cent zum Badeort bringt. Auf den ersten Blick sieht es hier etwas verlassen aus. Ein mutiger Tourist hat sich bis zum Bauch ins Wasser getraut. Seine Begleiter nur bis zu den Füßen. Am Strand zwischen den Steinen laufen ein paar Einheimische. Die meisten Bars haben geschlossen. Die Badesaison geht erst in ein paar Monaten wieder los. Trotzdem gibt es in dem kleinen Fischerdorf einen Markt mit Kunsthandwerk und zahlreiche Restaurants, die Meeresfrüchte anbieten. Die kleine Seebrücke in der Mitte des Dorfes kostet Eintritt und ist wohl die Hauptattraktion hier. Ich ziehe die Schuhe aus, krempel meine Hose hoch und laufe auf die strandenden Wellen zu. Das Wasser ist kalt. Karl ist mutiger und springt mit Badehose und Taucherbrille in den Pazifik. Bei den ganzen Steinen und den Wellen, fällt das Schwimmen allerdings schwer. Mit Windjacke lege mich in den Sand. Ein schönes grau in grau. Wasser und Himmel. Aber mit Augen zu und Sand zwischen den Zehen fühlt es sich für ein paar Minuten wie Urlaub an. Dann kommt der Wind und es wird ungemütlich. Wie Ostsee eben.

Am Nachmittag sind wir mit Elder verabredet. Er will uns für eine Nacht aufnehmen. Elder ist Ende 30, hat kurzes braunes Haar, etwas stämmig und baut nach jedem Satz ein kurzes Lachen, bei dem seine großen Schneidezähne zum Vorschein treten, ins Gespräch ein. Wir fahren mit dem Taxi zum Haus seines Nachbarn, denn da sollen wir heute schlafen. Er selbst hat Besuch von seinem Schwager. Nur ist dieser Nachbar, der eigentlich 20 Minuten von ihm entfernt wohnt, nicht auffzufinden. Elder hat sein Handy vergessen und kann ihn nicht anrufen. Wir warten eine Weile vor dem Haus, bis Elder doch zu sich nach Hause geht, um sein Handy zu holen. Bis 18 Uhr will der Nachbar zurück sein, berichtet Elder als er schnaufend zurückkommt. Heute ist Vatertag in Peru und sein Nachbar wäre noch bei einer Feier. Auch um sieben Uhr ist noch nichts von dem Nachbarn, dessen Namen wir immer noch nicht kennen, zu sehen. Eine Frau, die mit ihm im Haus wohnt, erzählt uns, dass ein Freund bei ihr angerufen hätte und der ominöse Nachbar auf der Feier betrunken eingeschlafen sei. Elder ist kurz ratlos, nimmt uns dann aber mit zu sich nach Hause. Wir dürfen allerdings nicht ins Haus, sondern warten auf der Terrasse. Elder ruft seinen Cousin an, bei dem wir jetzt übernachten sollen. Die ganze Konstellation ist etwas seltsam, aber wir steigen wieder ins Taxi und fahren zum Haus des Cousins. Besagter Cousin ist ein freundlicher kleiner alter Mann in sportlicher Kleidung und heißt Guillermo. Er unterrichtet Englisch und ist leidenschaftlicher Sammler von antiken Keramiken der Inkas und anderen Urvölkern. Seine ältesten Stücke sind über 2000 Jahre alt. Teilweise gekauft von Grabräubern wie er offen zugibt. Wäre sein kleines Wohnzimmer nicht mit Bierkisten vollgestellt, könnte man es für einen Ausstellungsraum halten. Guillermo findet Deutsche generell clever und möchte das mit uns beim Schach auf die Probe stellen. Der Fall „was zu beweisen war“ tritt nicht ein und so wurde an diesem Abend ein weiteres Klischee widerlegt. Dafür sind wir gerne da. Guillermo ist nicht nur für Couchsurfer aus aller Welt da, sondern auch für seine Nachbarn und Freunde. Er verkauft Bier und Schnaps, wann immer sie es brauchen. Sozusagen ein kleiner Spätshop für Eingeweihte. Guillermo weiß wie man über die Runden kommt. Beim Abendessen fragen wir ihn, ob er glücklich ist. Er sagt: „ja, ich habe einen Job, ein Hobby und Freunde. Mehr brauche ich nicht um glücklich zu sein“. Wir glauben es dem alten Mann aufs Wort.


Jun 19 2018

Im Kontrast der Großstadt

19.Juni 2018, Piura, von Karl

Darf ich vorstellen: Arthur. Etwas kleiner, wuschlige schwarze Haare, immer etwas verpeilt und müde drauf. Nicht verlegen für ein ehrliches Grinsen. Unser Couchsurfer bewohnt im schicken Lima‘ Stadtteil Miraflores ein Zimmer in einer Studi-WG. Zusammen mit fünf anderen Studis aus aller Welt. Er ist als einziger aus Peru, bzw. aus Cusco. Eine Mitbewohnerin ist zur Zeit in Ecuador, sodass wir eines der kleinen Zimmerchen beziehen können.

Rundgang im reichen Lima

Trotz dessen, dass wir ihn schon weit vor um 10 Uhr aus dem Bett geklingelt haben, brechen wir nach einem kurzen Frühstück zu einem Stadtrundgang auf. Insofern das überhaupt möglich ist. Knapp 10 Millionen Menschen bewohnen Lima, was bedeutet, dass nahezu jede*r dritte Peruaner*in in Lima wohnt. Zwei Drittel davon in den ungeplanten Außenbezirken, die teils dörflich-ländlichen Charakter haben. Sie gelten teils als die ärmsten Orte Perus und von einem Besuch wird vielfach abgeraten. Schon gegen Mittag, sollen wir die „Favelas“ wieder verlassen haben. Wir machen uns aber erst gar nicht zu einer Armutstour auf.
Arthur geht mit uns an den Pazifik, den ich damit zum ersten Mal live sehe. Die luxuriösen Hochhaussiedlungen Limas sind durch einen schicken Park-Pfad, einer Steilküste und einer Autobahn von der Küste getrennt. Nur an wenigen Stellen gibt es die Möglichkeit ans Wasser zu kommen. Knapp 20 Grad laden zum Schwimmen ein, auch wenn lediglich eine Person dieser Idee folgt. Wir machen kehrt am Strand und lassen uns von Arthur noch Baranco, einen anderen schicken Stadtteil zeigen. Vieles hier erinnert nicht mehr an das uns vertraute Peru, sondern es könnte auch London sein. Die Preise sind teils um ein vielfaches höher. Alle kaufen in den Supermärkten ein. Die Straßen sind sauber und gerade gezogen. Hochhäuser. Kaum eine*r verkauft etwas auf der Straße. Es fehlt an den einfachen Restaurants, stattdessen gibt es Capuccino mit „Good Day“ Milch-Schaum-Schrift.
Besonders an London erinnert auch das triste Wetter. Von frühs bis abends ist es bewölkt und die diesigen Wolken hängen tief in den Hochhäusern. Der kalte Humboldtstrom im Pazifik macht Wasser und Luft deutlich kälter als Lima wegen seines Breitengrades sein müsste. Der Winter in Peru verbringt die Metropole dann im Nebel. Es kommt nie die Sonne durch. Kein Wunder, dass Arthur oft schlafen mag.

Pyramide zwischen Hochhäusern

Wir spielen mit Arthur des abends verschiedene Kartenspiele und kombinieren sie mit Wein und ausgedachten Strafen. So fliegen wir dann auf Besen über die Straße, halten Reden auf dem Dach oder tanzen alberne Videos in der Küche nach. Wir können die Zeit genießen und kochen viel. Arthur wünscht sich ein „deutsches“ Dessert. Eine Herausforderung angesichts des Verfügbaren im Supermarkt und in der Küche. Am Ende improvisieren wir Eierkuchen, die uns auch selbst sehr beeindrucken. Wie lange mag es her sein, dass wir dieses schöne Gericht genossen haben?
Am nächsten Tag – wir haben bis Mittags gepennt – brechen wir zu einer Ausgrabungsstätte auf. Eine alte Lehm-Pyramide erhebt sich surreal zwischen den Hochhäusern. Eine echte Pyramide, wie sie vor tausenden Jahren dort stand, von Archeolog*innen detailgetreu wider aufgebaut. Auf der Spitze der Pyramide müsste sich ein weiter Ausblick entfalten, doch dieser endet an den Hochhäusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Pyramide steht wie eine kleine alte Frau zwischen ihren hochgewachsenen Enkel*innen. Die Pyramide, in ihrer Zeit konserviert, im Kontrast mit der stürmischen Großstadt. Man möchte ihr zuhören, was sie die letzten tausenden Jahre gesehen hat.
Tags drauf geht es für uns ins Zentrum Limas, wo wir kurz ein Literaturmuseum und lang ein Kunstmuseum besuchen. Weil wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind, sogar kostenlos. Die Kunst Perus hat für mich einen beeindruckenden Bruch durchgemacht. Dieser wird sogar nach Kolonialherrenart „präkolumbisch“ oder „prähispanisch“ genannt. Das bezeichnet die Zeit, bevor die Europäer*innen alles geraubt, versklavt und beherrscht haben. Neben den berühmten Inkas gab es eine Vielzahl weiterer Völker und bezeichnend ist, dass bei vielen Ausstellungsstücken geschrieben steht, dass nicht klar ist, wie genau dies oder jenes genutzt wurde. Zum Beispiel wird eine Art komplexer Rechenschieber aus Fäden ausgestellt, was darauf hinweist, wie weit die Inkas schon waren, aber wie es funktioniert, wird wohl keine*r mehr rausfinden. Mit der Ankunft der spanischen Konquistadoren ist die peruanische Kunst stark von der europäischen dieser Zeit bestimmt worden. Eine katholische Heiligpreisung folgt der anderen.

Wasserspiele

Wir entdecken zwischen den Sehenswürdigkeiten eine weitere vegetarische Speise für uns: Chaufa. Das ist Reis mit ein wenig Ei und Gemüse, gefärbt mittels Soja-Sauce. Wie es als asiatisches Gericht auch in Deutschland gern serviert wird. Auch hier in den vielen asiatischen Restaurants als Basis im Angebot. Ziemlich schmackhaft und sehr sättigend. Auch deshalb, weil sich bei den Portionen an den Anden orientiert wird und es fraglich ist warum der Reis-Berg vor einem nicht links und rechts runterkullert. Es ist immer zu viel Chaufa auf einem Teller.
Auch Tortilla con Verduras (Gemüße-Tortilla) kann ich vegetarischen Peru-Reisenden ans Herz legen. Hier wird ein riesige Ei-Masse mit etwas Gemüße auf einen Berg Reis abgelegt und als unessbar große Portion serviert. Weil wir einmal bei Reisenden-Tipps sind: Die Banco de Nacion nimmt keine Bearbeitungsgebühr, wenn ihr Geld abhebt. und die Busgesellschaft Oltursa können wir weiterempfehlen.
Mit Arthur geht es an unseren letzten Abend in den Parque de Agua. Einen riesigen Gelände mit zig Springbrunnen. Mit Musik und Licht sehr schön in Szene gesetzt, freuen wir uns wie kleine Kinder. Von einer riesigen Laser-Show beeindruckt, laufen wir unter Wasserstrahlen durch und lassen uns von Springbrunnen einsperren. Wir werden nass; und bewundern die sich ändernden Wasserstrahlen. Wir bleiben lange und machen viele Photos. Irgendwann sind wir müde und geschafft machen uns auf nach Haus.
Mit der Metro. Metropolitano meint ein Netz aus Bussen, die auf eigenen Schnellspuren auf der Stadtautobahn unterwegs sind. Es gibt einige Linien, die nicht an allen Haltestellen halten. An fahren sie einfach vorbei. Sie sind farbig und mit Buchstaben oder Zahlen differenziert. Es soll noch eine Eisenbahn geben die verschiedene Stadtteile verbindet.

Was ich nicht liebe

Noch eine Weile sitze ich mit Arthur, der französischen Mitbewohnerin und einem weiteren Gast aus Belgien in der Küche, trinke Bier und spiele Karten. Leider hat die Fußball-Weltmeisterschaft begonnen und alle sind aus dem Häuschen. Für Peru ist es besonders krass, weil sie seit 36 Jahren erstmals wieder mitspielen. Als Deutsche werden wir ständig darauf angesprochen, da die deutsche Elf Titelverteidiger ist und besonders mich nervt es zunehmend an. Weder interessiert mich der kommerzielle Fußball, noch fühle ich mich meinem Land, noch mit den reichen Fußball-Spielern verbunden. Auch als ich mich an dem Abend gezwungen sehe, mich dafür zu erklären, gibt es kaum Verständnis in der Runde. Ich muss doch mein Land nicht mögen, nur weil es mir seinen Pass ausgestellt hat?
Aber freust du dich denn nicht wenn dein Team gewinnt?
Was ich denke: Warum mein Team?
Was ich antworte: Nein. Warum?
Ich lass die drei sitzen, die das ambitionierte Ziel haben um fünf Uhr früh aufzustehen, weil dann das erste Spiel übertragen wird.
Als sie wieder ins Bett gehen, fangen wir an unsere Rucksäcke zu packen. Arthur schaut uns ungläubig an, als wir um 8 Uhr abends immer noch nicht wissen wo die Busse abfahren und wir noch kein Ticket haben. Offensichtlich können wir noch eine Spur lässiger als der lässigste Typ vor uns. Tatsächlich werden wir eines besseren belehrt und finden keine Bustickets mehr, die uns über Nacht ins ersehnte Trujillo bringen. Eine Großstadt am Meer, die wir uns etwas preiswerter und mit Sandstrand ausmalen. Ein freundlicher Taxifahrer klappert mit uns die hunderten Busagenturen in der Innenstadt ab, aber in der Regel müssen die Agentinnen noch nicht mal in den Computer schauen um mit dem Kopf zu schütteln.
Etwas abgeschlagen lassen wir uns die gute halbe Stunde zum großen nördlichen Busterminal fahren. Dort stehen wir einem Busbahnhof gegenüber, der einigen Flughäfen sicherlich den Rang abläuft. Er ist einfach riesig. Wir fragen uns – es ist mittlerweile schon fast 11 Uhr abends – an den Schaltern von hunderten Firmen durch und werden tatsächlich noch fündig. „Titanic“ – welch kreativer Busfirma-Name! – verkauft uns noch zwei Tickets in einem älteren und sehr engen Modell. Die vielen Menschen um mich herum rauben den Sauerstoff und sorgen für wohlige Wärme. Nicht lange und ich entschwinde in die Welt der schönen Träume und damit aus Lima, der größten und Hauptstadt Perus. Gute Nacht!

PS.: Lima und unsere nächsten Stopps auf einer Karte:

Lima, Trujillo, Piura

StepMap Lima, Trujillo, Piura