Apr 3 2019

Am Januar-Fluss

von Karl

Rio de Janeiro, Brasilien

 

Copacabana und Ipanema

Rio de Janeiro ist wohl Brasiliens berühmteste Metropole. Ort der Sehnsucht so vieler Reisenden und derer die es werden wollen. Dann dort anzukommen ist dann doch wie ein Abgleich mit der Realität. Was uns allerdings schon im Vorfeld erreichte sind Berichte von anderen Reisenden die ihrer Habseligkeiten erleichtert wurden bis hin zu einem argentinischen Reiseradler der in den Außenbezirken erschossen wurde. Entsprechend vorsichtig und vorbereitet sehen wir unsere Umgebung.

Tatsächlich verschlägt es uns unweit des berühmtesten aller Strände: der Copacabana. Der Strand erstreckt sich auf mehrere Kilometer, ist vielleicht hundert Meter breit, kaum Bäume, breite Küstenstraße und hohe Hotelbauten. Es erinnert ein wenig an Hollywood-Filme. Schon während des Sonnenaufgangs kommen die ersten Menschen an den Strand und spätestens ab Mittag ist Hochbetrieb. Fliegende Händler*innen bieten Cocktails, Acai, Sonnenbrillen, Bier, und vieles mehr. Mit Länderflaggen wird versucht die jeweiligen Touris anzulocken, obschon die meisten aus Brasilien selbst kommen.

Die Sonne bruzelt brachial, sodass für mich ein langer Strandtag ausgeschlossen erscheint. Die Wellen bauen sich bis auf zwei Meter Höhe auf und brechen ziemlich spät. Meist auch erst direkt am Strand, sodass es gefährlich wird. Einmal wirft mich eine der Wellen etwas unsanft an Land. Der massive Tourismus hat auch das Wasser und den Strand mit Müll angereichert. Gut, mal an der Copacabana gewesen sein, aber zum Urlaub machen gibt es schönere, sichere und preiswertere Orte.

Den Weg an der Copacabana entlang folgend kommen wir zum Ende des Strandes wo die Straße abknickt. Nach 500 Metern eröffnet sich ein ähnlicher Strand, allerdings mit zwei Meter Höhenunterschied zwischen Straße und Strand. Ipanema heißt Rios zweitwichtigster Strand. Minimal ruhiger und für die Sonnenuntergangsliebenden optimal. Am Strand oder von den nahen Felsen lässt sich die rote Scheibe beobachten die zwischen den Wolken im Meer versinkt.

Zuckerhut und Christus

Nach einem Strandtag folgen wir den Pfaden der Touris und wollen rausfinden, was denn so schön an dem berühmten Zuckerhut und dem großen Christus ist. Der Zuckerhut, eigentlich nur ein Felsen, heißt im brasilianischen Zuckerbrot und ist über zwei Seilbahnen angeschlossen. Dafür wird ein satter Preis von ungefähr 100 Reales verlangt, was weit über 20 Euro liegt. Dafür das die Seilbahn echt nicht weit fährt, ist uns das zu teuer und wir suchen einen neuen Weg.

Vorbei an einem Militärgebäude und kleinem Strand mit Bucht kommen wir auf einen geteerten Wanderweg.

Den immer folgend kommt ein Abzweig auf den ersten Hügel, wo die erste Seilbahn hinfährt. Von dort bezahlt mensch nur noch den halben Preis, aber selbst das überspringen wir und folgen dem Wanderweg weiter. Irgendwann endet der Weg und es folgt ein Trampelpfad der teils Kletterkünste erfordert und steil ist. Wir können aber alle Unebenheiten überwinden und finden auch den Punkt an dem es weiter bergauf geht. Irgendwann überholt uns eine kleine französische Gruppe und klärt auf, dass später bergsteigerisches Können und Material benötigt wird. Als dann tatsächlich der Anstieg sehr herausfordernd wird und wir die Gruppe klettern sehen können, geben wir dann doch auf. Wenn es machbar wäre, wäre wohl die Seilbahn günstiger. Nagut, dann nicht.

Gut, ich sag‘s vorab, dem Christus kann ich nichts abgewinnen, aber mal gucken gehen. Auch hier werden saftige Preise verlangt und wir bezahlen bei der Zwischenstation der Bergbahn den selben Preis, wie als wenn wir unten eingestiegen wären.

Oben angekommen geht es noch breite Treppen bis zum Fuße der hohen Statue, die, so wie sie ist, auch an anderen Orten und an ähnlicher Stelle über der jeweiligen Stadt steht, aber halt nicht so berühmt ist. Nun wird es zur Herausforderung nicht auf einen der herumliegenden Touris zu treten.

Tatsächlich legen sie sich reihenweise auf den Boden um das eine berühmte Photo machen zu können mit dem Jesus im Hintergrund. Eine gelungene PR-Aktion der Kirche, wie ich finde. Sie ist auch mit Nichten die größte Statue der Welt. Diese ist sechsmal größer.

Viel imposanter und beeindruckender ist der Blick auf Rio de Janeiro selbst. Zu deutsch heißt das übrigens „Januar-Fluss“. Es ist gut zu überblicken, dass die Stadt immer wieder unterbrochen wird von Bergen bzw. größeren Felsen. So ist der strandnahe Bereich mit Felsen unterbrochen vom eigentlichen Zentrum, welches schon an der Bucht liegt und nicht mehr am offenen Meer. Am Industriehafen ist dann auch eine lange und beachtliche Brücke die die Bucht überspannt. Die brasilianische Fernstraße BR-101 pulsiert hier, von dem südlichsten Bundesstaat kommend, entlang der Atlantikküste bis zur äußersten östlichen Ecke Brasiliens.

Auch ein größerer See liegt im Rücken Ipanemas. Auf den Hügeln sind die Armensiedlungen zu erkennen, die in Brasilien Favela genannt werden. Benannt nach einer Kletterpflanze, weil sich die Siedlungen an den Hügeln entwickelt hatten und bis zu den Gipfeln gewachsen sind. Sie sind in sich sehr verschieden. In manchen wurde Infrastruktur von Strom über öffentliche Verwaltung bis Freizeitangebote eingerichtet und das in Zusammenarbeit mit den Bewohner*innen. In anderen führt die Militärische Polizei einen Krieg gegen Jugendbanden die mit Drogen oder Waffen handeln. Einmal dürft ihr raten, was allen Seiten mehr geholfen hat.

Mittlerweile soll es von der Polizei bezahlte Banden geben, die Schutzgeld erpressen. Wenn die Polizei versucht die Banden zu mischen, kann es, wie zur Zeit wohl in Fortaleza, dazu kommen, dass sie sich zusammen schließen und gemeinsam Polizei und öffentliche Infrastruktur angreifen. Als besonders bezeichnend soll der Roman und Film „Die Stadt Gottes“ sein, der die Entwicklung einer gleichnamigen Favela in Rio über die Jahrzehnte anhand von verschiedenen Menschen erzählt. Der Autor ist selbst in der Favela aufgewachsen. Mittlerweile und auch durch die Fußball-Weltmeisterschaft wurden besonders die innerstädtischen und touristisch interessanten Favelas „polizeilich befriedet“. Zunehmend übernehmen Investoren die Gebiete und bauen neue hochpreisige Anlagen für Touris hin. Die Armen ziehen an den Rand der Stadt.

Ankommen und Bleiben und Sein

Neben den Strandgebieten bietet auch Rio in der Innenstadt ein paar sehenswerte Ecken. So gibt es ein größeres Viadukt dass eine einen Platz überspannt und auf dem eine historische Straßenbahn rollt.

Unweit führt der Weg zu einer bunten Treppe, die mit lauter Fließen gepflastert ist und auf der Touris anstehen um ein Photo vor den Kacheln zu machen. Rund herum versuchen Leute etwas zu verkaufen. Wir schauen uns das Spektakel an und die Graffiti in der Umgebung.

Allerdings erscheinen uns die Nebenstraßen als nicht besonders sicher. Viele jugendliche Gruppen warten am Straßenrand und schauen uns eine Spur zu düster drein, als dass wir da durchwandern möchten. Dabei habe ich Angst, dass ich Angst bekomme allein weil ich Schwarze Jugendliche sehe. Leider ist Armut und Rassismus auch in Brasilien zu oft verbunden und führt dann zu dem Kriminalitätsdruck, der mich vorsichtig werden lässt. In einem Touri-Führer las ich, dass ich nicht nur traurig sein solle, wenn mir Geld abgenommen wird, es würde auch den Hunger bekämpfen. Hier entstehen Bilder im Kopf, die schon so oft auf den Großplakaten von „Brot für die Welt“ mich traurig angeschaut haben. Ja, Rassismus und Klassismus sind intersektional. Das heißt, dass eine bedingt das andere und lässt sich schwer trennen. Wie kann ich hier als weißer Europäer diskriminierungsarm auftreten? Ich kann es euch nicht abschließend beantworten, aber vielleicht ist es hilfreich, die konkreten Ursachen und die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu benennen. Im besten Fall die eigenen Auswirkungen sich bewusst zu machen und daraus Handlungen abzuleiten. Als Touri stehen wir nicht nur außen und machen ein Photo von dem Ist-Zustand, nein, wir verändern und beeinflussen den auch. und vielleicht ist es tatsächlich nicht so schlimm, wenn wir mal beklaut werden. Die allermeisten Gewalttaten, besonders auch die Schießereien, finden in den Armensiedlungen statt und die allermeisten Opfer sind die armen und damit zu oft auch die Afrobrasilianer*innen.

Vielleicht sollten Reisende Schwarze Realität und Geschichte also auch sichtbar machen. So war Rio ein wichtiger Ankunftshafen für die Sklav*innen der europäischen Kolonialherren. Der Valongo-Kai ist heute als Weltkulturerbe und archäologische Ausgrabungsstätte leicht zu besichtigen. Hier sollen bis zu einer Million Menschen angekommen sein. Ein Symbol für die wohl größte erzwungene Migrationsbewegung und eines der größten Verbrechen der Menschheit. Besonders für Afrobrasilianer*innen haben Orte wie der Valongo-Kai eine besondere Bedeutung. Der Valongo-Kai liegt heute nicht mehr an der Wasserkante, weil über die Jahre der Strand weiter versandet ist, beziehungsweise verbaut wurde, und damit ist das Wasser von dem Denkmal aus gar nicht mehr einsehbar. Ein Teil des alten gemauerten Kais ist freigelegt und befindet sich auf einem kleinen Platz unweit des Zentrums. Einige Schilde informieren umfassend über das Monument.

In unmittelbarer Umgebung gibt es noch weitere Denkmäler afrobrasilianischer Geschichte, wie z.B. ein Garten, ein Friedhof und ein kulturelles Zentrum. 

Als es für uns hieß einen Bus zu finden, der weiter der BR-101 nach Norden folgt, kamen wir dann auch unerwartet am berühmten Sambódromo vorbei. Es ist der Ort wo jedes Jahr der berühmte Karneval von Rio stattfindet. Auf hunderten Metern stehen große Tribüne beidseits eines ungenutzten Weges, in deren Mitte dann die Samba-Schulen in vier Ligen gegeneinander antreten. Gerade ist kein Karneval, aber er wirft seinen Schatten schon voraus.

Ruhiger und weniger tanzend klettern wir in einen der Busse und verlassen die Metropole am vermeintlichen Januar-Fluss gen Norden über die imposante Brücke.


Nov 1 2018

Eine Stadt mit Seilbahn und Tal – Ein Land mit Pulli und Lederjacke

Von Karl

 

La Paz, El Alto, Bolivien

Nun bin ich also in Bolivien und unser erster Aufenthalt ist gleich La Paz, in dem sich auch der höchstgelegene Regierungssitz der Welt befindet. Die Hauptstadt allerdings ist Sucre, die größte Stadt, die sich mehr im Zentrum des Landes befindet. La Paz liegt im Westen und ist durch seine Tal-Lage geprägt. Zwischen 3200 und 4100m befindet sich das Stadtgebiet, das am oberen Tal-Rand fließend in das angrenzende El Alto übergeht. Der Name sagt es schon, denn El Alto heißt so viel wie „die Hohe“, El Alto liegt hoch und ist nochmal größer als La Paz selbst. Eigentlich könnten beide auch eine Stadt sein und dann wäre es auch die größte Boliviens. Knapp 2 Millionen Menschen lebten in dieser. Auf dem Weg nach La Paz muss mensch fast immer durch El Alto fahren, sodass auch wir am Übergang der beiden Städte einen kurzen spektakulären Ausblick vom Tal-Rand aus auf La Paz bekamen.

Hauptverkehrsstraße in El Alto

Die Höhe wirkt sich auf das Klima aus, und damit auf die Einkommensverteilung. In La Paz‘ Süden lebt es sich wärmer, tiefer und moderner. Einfamilienhäuser, fast wie in Westeuropa. Sogar Supermärkte, was in Bolivien tatsächlich etwas ungewöhnliches ist, weil schon in La Paz‘ höheren Norden sind die Straßen voll mit Verkaufsständen, Regierungsgebäuden, ärmer und auch touristischer. Weiter nördlich und westlich schließt sich dann El Alto an. Hier geht es im Winter (Juli) schon in den Minus-Bereich. El Alto, aber auch Bolivien als solches, ist durch Indigene Gruppen geprägt. So leben in El Alto drei Viertel Aymara-Sprechende. Auch ist Bolivien eines der ärmsten Länder Südamerikas. Über 50 Prozent der Bevölkerung El Altos sind unter 20 Jahre, was auch an der hohen Landflucht liegt. 70 Prozent leben unter der Armutsgrenze und die meisten Haushalte haben weder Strom- noch Wasseranschluss.

El Alto ist in gewisser Hinsicht also das Armenhaus zu La Paz‘ Reichtum. Boliviens Besucher*innen landen größtenteils im Zentrum von La Paz‘, was aufgrund der einzigen Ausdehnungsmöglichkeit nach Süden, im Norden liegt. Auch wir haben unsere Unterkunft nahe der touristischen Hauptroute bezogen und sind froh als wir in dieser gebirgigen Stadt unsere Rucksäcke ablegen können.

Blick auf La Paz

Hexenmarkt

Noch des Abends machen wir einen Rundgang durch unsere Gegend und zum ersten Mal erleben wir, dass so gut wie alles an der Straße verkauft wird. Offizielle Geschäfte gibt es nicht. Zufällig biegen wir auch in den Hexenmarkt ein, der als touristisches Highlight angepriesen wird. Aber an sich hat er eine ernste Funktion. Der Markt verkauft vieles von dem, was für indigene Rituale gebraucht wird. So wird oft Pachamama („Mutter Erde“) gehuldigt in dem ihr Sachen gespendet werden und sie mag wohl gerne Geschenke und am liebsten Alkohol. Insbesondere beim Hausbau wird auf gutem Segen vertraut und deshalb wird ein totes Baby-Lama oder –Alpaka im Fundament mit eingegraben. Dafür werden nicht extra welche gezüchtet, sondern Halter*innen verkaufen ihre, die beispielsweise durch Krankheiten, Kälte oder Unfälle gestorben sind. Als wir aber an den Ständen des Hexenmarktes vorbei liefen, ist es doch etwas unheimlich, dass unzählige tote ausgetrocknete Baby-Lamas über der Laden-Theke baumeln.

Wir erfahren auch, dass für größere Bauvorhaben auch größere Opfer erbracht werden müssen. So werden obdachlose Alkoholiker*innen befragt, um herauszufinden, ob sie von jemanden vermisst werden, bevor sie dann völlig betrunken, aber lebend begraben werden. Das Leben muss nämlich Pachamama ihnen nehmen. Sollte das Ritual unterbleiben, so werden Tote beim Bau oder im Haus später darauf zurückgeführt, dass die Pachamama sich ihre Opfergabe holt. Wir haben uns lieber während unseres Aufenthaltes in La Paz vom Alkohol fern gehalten. Sicher ist sicher.

Das indigene Leben spiegelt sich vielfach in den Straßen wieder. Besonders die Frauen tragen weite mehrlagige Röcke, verschiedenste Hüte, von denen manche der neuste Schick im 20sten Jahrhundert waren, feine Sandaletten und oft Schürzen oder gestrickte Pullover. Die langen Haare zu zwei Zöpfen gemacht und mit gestrickten Bommeln verlängert. Auf dem Markt gibt‘s die Haarverlängerungen zwischen den Wollsachen zu kaufen. Auf dem Rücken werden in bunten Decken, die vorne verknotet werden, allerlei Sachen transportiert. Der Einkauf, die Auslage für den Markt, das eigene Kind oder was auch immer zu transportieren ist.

Auf den Märkten sind vor allem die indigenen Frauen, die die Sachen verkaufen. Zum Teil entwickeln Käufer*innen und Verkäuferinnen eine enge Bindung, das heißt, menschen gehen immer zur selben – also zu ihrer – Verkäuferin. In Marktgesprächen weiß die Verkäuferin dann nicht nur was mensch kaufen möchte, sondern in etwa so viel wie die eigene Mutter, oder gar noch mehr. Mensch kann also auch mal sein Herz ausschütten, Bestätigung finden oder was sonst noch los ist. Es gehört wohl zum bolivianischen Leben dazu, seine Verkäuferin des Vertrauens zu finden, wo mensch jedes Mal die Sachen kaufen geht und einen Schnack hält.

Männer dagegen tragen weniger oder kaum traditionelle Kleidung. Der indigene Schick ist zwar in Bolivien deutlich zu sehen, ist aber auch beispielsweise in Peru anzutreffen und variiert deutlich von Region zu Region.

Minibusse bestimmen den Stadtverkehr (wie hier in El Alto)

Seilbahn

Zwischen den ganzen Märkten, die unglaublich lang und weitläufig sind, schlängeln sich die vielen kleinen Micros bzw. Kleinbusse. Neun-Sitzer mit einer Nummer und lauter Schildern in der Windschutzscheibe, wo es überall hingeht. Sie sind fast die einzigen Fahrzeuge in La Paz und El Alto. Die hellen kleinen Busse fahren auf festen Routen durch die Stadt und halten, wenn mensch sie ranwinkt oder wenn mensch grad aussteigen will. Haltestellen gibt es nicht beziehungsweise sind so gut wie überflüssig. Ein System was weit über La Paz hinaus seine Anwendung findet. In La Paz gibt es einige hundert Routen, sodass Nachfragen ob dort oder wo der Bus hinfährt, der Standard ist.

Ein weiteres öffentliches Verkehrsmittel sind die Seilbahnen, die zum Teil noch im Bau sind. Von Stationen aus geht es mit einem Schwung schnell in luftige Höhen. Eine gute Möglichkeit einen Blick über die Stadt zu bekommen, ist die rote Linie, die am alten Bahnhof von La Paz auf 3800m startet und dann am Rande von El Alto auf 4100m endet. Direkt schließt sich die blaue Linie in El Alto an, die dann tief nach El Alto hineinführt.

Besonders auf der blauen Linie wird Propaganda für einen Zugang Boliviens zur Pazifikküste betrieben. Schon im 19. Jahrhundert (Salpeterkrieg) verlor Bolivien den Zugang zum Pazifik, was wirtschaftlich ungünstig ist. Neben Paraguay ist Bolivien das einzige Land Südamerikas ohne Zugang zu einem Ozean. Die ehemals bolivianische Pazifikküste ist schon länger Teil von Chile, aber Bolivien und auch Evo Morales fordern weiterhin einen eigenen Zugang.

Evo Morales

Evo Morales ist aktueller und berühmtgewordener Präsident des Landes. Seit Amtsantritt trägt er bei allen öffentlichen Auftritten sein Chompa, eine Art indigener Pullover. Da dieser aus teurer Vicuña-Wolle gefertigt ist, ist er vergleichbar mit teuren Anzügen der westlichen Welt. Darüber trägt er dann eine Chamarra, eine Art traditionelle Lederjacke. Die Bilder, wo er anderen Staatspräsident*innen mit Pulli und Lederjacke die Hand gab, gingen um die Welt. Grund dafür, ist seine Betonung der indigenen Rechte und seiner indigenen Herkunft.

Morales stammt aus ärmsten Verhältnissen. Teils gab es nur Maissuppe zu essen. Er hat kaum die Schule besucht. Seine politische Karriere begann er im Sindicato, eine Art Dorfversammlung. Neben den offiziellen Strukturen, gibt es oft indigene Strukturen, die eine Selbstverwaltung und Selbstorganisierung darstellen. Insbesondere als durch den Druck der USA der Koka-Anbau bedrängt wurde, bekam der nun Anführer der Koka-Bäuer*innen-Bewegung gewordene Morales, Auftrieb. Seine Politik gilt als populistisch, anti-USA und anti-imperalistisch. Mittlerweile soll er bei den Indigenen und Koka-Bäuer*innen wieder an Rückhalt verlieren.

Als wir in La Paz an einer Führung teilnahmen, endete diese in einem Hinterzimmer eines Restaurants. Grund dafür ist, dass wir so leichter über Politik reden können. Das Land ist gespalten und stark politisiert. Für oder gegen Morales ist auch eine emotionale Frage. Öffentlich über Politik zu reden, kann dazu führen, dass schnell mal jemand wutentbrannt dazwischengeht. Zudem wird er teils als „Trump Boliviens“ bezeichnet. Seine Art sei es wohl, kaum nachzudenken und einfach Sachen öffentlich zu sagen. Einmal meinte er, dass Coca-Cola und Hühnchen schwul machen und ein paar Tage drauf wurde er dann mit Cola und Hühnchen photographiert. Danach musste er zurückrudern. Beispiele für diese unüberlegten Äußerungen gibt es viele. Auch ist er ein Befürworter der Kinderarbeit als kulturelle Eigenheit Boliviens. Kinderarbeit ist tatsächlich weit verbreitet in Bolivien, aber auch in anderen Anden-Staaten, weswegen es aber nicht gut sein muss. An vielen Verkaufsständen beispielsweise begegnen einen Kinder.

Gleichwohl hat er viel für Bildung, Sport und Gesundheit, insbesondere im ländlichen Bereich getan und die Rechte der Indigenen gestärkt. Auch was Diskriminierung als solches betrifft, gab es Fortschritte. Neben der offiziellen bolivianischen Flagge ist auch die indigenen Flagge offizielle Staatssymbolik und jede*r Soldat*in trägt diese auf der Uniform. Zudem auch die blaue Seekriegs-Flagge, die den Anspruch auf einem Zugang zum Pazifik unterstreicht.

Von der Macht wieder lassen, kann er allerdings nicht. Normalerweise können nur maximal zwei Amtszeiten für einen Präsidenten möglich sein, aber durch eine Verfassungsänderung wurde Bolivien von „Republik Bolivien“ in „Plurinationaler Staat Bolivien“ umbenannt, wodurch Morales argumentiert, dass ja ein neuer Staat entstanden sei und neu gezählt werden müsse. Noch macht er nicht den Anschein, dass er pünktlich aufhören wird. Auch bei den Seilbahnen in La Paz und El Alto hatte Morales mitgewirkt und verkauft das Projekt als sein Erfolg, sodass er omnipräsent von einigen Großflächenplakaten winkt.

Am zentralen Platz der Stadt steht auch das Kongressgebäude. Dessen Uhr läuft linksrum. Grund dafür ist, darauf aufmerksam zu machen, dass das Land auf der Südhalbkugel liegt. Uhren laufen rechtsrum, weil eine Sonnenuhr auch rechtsrum läuft. Allerdings nur auf der Nordhalbkugel. Auf der südlichen Hemisphere läuft sie linksrum, deswegen ist diese Uhr linksrum, also gespiegelt.

Flohmarkt

Unsere Zeit in La Paz haben wir genossen. Ein guter Grund nach El Alto mit der Seilbahn zu fahren ist der zwei Mal die Woche stattfindende Flohmarkt. Direkt an der oberen Endhaltestelle der roten Seilbahn. Hier gibt es alles. Diesmal übertreibe ich nicht. Soweit das Auge blicken kann, reihen sich Stände aneinander und es kann wirklich alles erstanden werden. Zu unglaublich günstigen Preisen sogar. Bezahle ich normalerweise ca. 1 Euro pro Gigabyte, wenn ich eine Mini-SD-Speicherkarte kaufen würde. Hier habe ich eine 128 GB Speicherkarte für 100 Bolivianos erstanden. Das sind 12 Euros. Wir sind glotzend durch die Reihen gewandert, für Stunden, ohne wirklich ein Ende zu finden. Ein großes Glas frisch gepresster Orangen-Saft zum sofort austrinken: 1,5 Bolivianos (18 Cent).

Damit endete auch unsere Zeit in La Paz und wir sind zurück zum Busbahnhof gekehrt. Über Nacht geht es weiter nach Süden!


Jul 20 2018

Über den Wolken … Quitos

17. Juli 2018, Cali, von Karl

 

 

Und nochmal nehme ich Schwung, um über die Stadt zu schwingen. Unter mir breitet sich die 2-Millionen-Metropole Quito aus. Von links nach rechts, d.h. von Nord nach Süd quetscht sich die ecuadorianische Hauptstadt zwischen zwei Anden-Gebirgszügen. Ich schaukele auf 4000m während Quito es sich auf 2800m bequem macht. Die jeweiligen Enden der über 50km längs messenden Stadt sind von meiner Schaukel aus, nicht zu erkennen. Durch das Tal ist Quito aber kaum breiter als 3km.

Mein Finger werden langsam kalt, aber das fliegende Gefühl will nicht gehen. Die Sonne bricht durch die Wolkendecke und setzt mich in eine goldene Umgebung, sowie einen Punkt unter mir in der Stadt. Hinter mir versinkt der Rucu Pichincha in tiefer kommenden Wolken. Einer der 12 Vulkane rund um die Stadt. Keiner davon könnte Quito mit Lava bedrohen, aber Erdbeben und Ascheregen haben diese Stadt, wie auch andere in den Anden schon öfters heimgesucht. Die Innenstadt soll angeblich schon mindestens viermal neu aufgebaut worden sein.

Die Natur auf 4000m ist durch goldenes Büschel-Gras gekennzeichnet. Auf dem Gebirgskamm zum Gipfel verläuft der Wanderweg, der mit großen Achtungsschildern gekennzeichnet ist. Ab hier nur mit Spezial-Ausrüstung und Erfahrung. Nur wenige Bäume, meist kleine, gedrungene, die mit wenig Wasser auskommen. Wenige Blumen trotzen dem kalten Wind. Dem kalten und steifen Wind. Nur noch 6 Grad sind hier. In Quito dagegen ist T-Shirt-Wetter.

Immer wieder lasse ich den Blick über die karge Steppe kreisen. Es ist ein unwirklicher Anblick. Es ist eine andere Natur. Eine im Kampf mit der Umwelt. Die Pflanzen im Kampf mit der kalten Höhe. Natur gegen Natur. Dazwischen die Schilder, die diese fantastische Welt schützen wollen, vor Fahrzeugen und zu vielen Touris.

Weiter südlich liegen Wolken im Seitental. Ich schaue auf die Wolken. Von oben. Ohne im Flugzeug zu sein. Sie liegen, ohne Eile, in den Tälern. Sie werfen Schatten auf das südliche Quito. Es sind längliche Zuckerwattefetzen im feinsten Weiß.

Als ich von der Schaukel steige und ein letztes Mal den gegenüberliegenden Gebirgszug mit meinem Blick streife, sehe ich den Cayambe. Einen schneebedeckten Vulkan. Nun ragt er über dem Wolkenstreifen heraus und wird golden von der Sonne angestrahlt. Durch die Erfahrung mit dem hiesigen Höhenunterschied, ist es erst recht vorstellbar, wie kalt, windig und dünn die Luft dort ganz oben sein muss. Der Cayambe liegt nur unweit des Äquators, und hatte einen Gletscherausläufer der als einziger vereister Punkt auf dem Äquator galt. Durch den Klimawandel gibt es ihn aber nicht mehr.

Vormittags hatten wir uns aufgemacht, zum Äquator. Wir haben diesen zwar schon in Brasilien mal Nachts schlafend überquert, aber hier gibt es ein Denkmal. 20km nördlich von Quito, ziemlich einfach mit dem Bus zu erreichen. Besser gesagt, ein großes Monument mit haufenweise kleiner Museen und Infotafeln. Eine Touri-Attraktion die ihren Preis hat.

Gefeiert wird dieser Punkt, weil mal ein Europäer per Expedition hier den Äquator bestimmt hat. Das erste Mal, aus europäischer Perspektive. Ehrlicherweise wurde später eine archäologische Stätte aufgetan, die darauf hinweist, dass schon die Indigenen vor Kolumbus‘ Reise wussten wo der Äquator ist. Und sie lagen richtig, denn wer mit GPS-Gerät kommt, wird am Touri-Hotspot 200m zu weit südlich stehen.

Nebenan steht ein moderner riesiger Glasbau der UNASUR, der Union südamerikanischer Staaten. Vergleichbar mit der EU, nur nicht ganz so ausgebaut. Bislang gibt es mehr Ideen als Projekte. Die Transocéanica, eine Straßenverbindung von Brasilien nach Peru, also vom Atlantik bis zum Pazifik, ist das aktuelle Großprojekt. Ansonsten sind sich die Staaten wohl selten einig.

Wir sind schon ein paar Tage da und haben auch einen Tag verlängert, weil wir mehr sehen möchten. Empfehlenswert: Das Museum über den Künstler Camilo Egas. Einer der wichtigsten indigenen Künstler Ecuadors. Nicht nur, dass seine indigene Perspektive sehr spannend ist: Einige Werke sind sehr sozialkritisch und haben sich mit dem historischen Faschismus beschäftigt. Wem Malerei trotzdem nix ist, der gehe bitte am Plaza Grande in die aktuelle Yoko-Ono-Ausstellung des Centro Cultural Metropolitano. Dort finden sich viele Mitmach-Sachen, die zum Nachdenken anregen, aber auch Bilder von der „War is over“-Kampagne (zu deutsch: der Krieg ist vorbei) und feministische Texte. Allerdings unklar bleibt mir, wieso eine alte ausgetrunkene Plastik-Wasser-Flasche Kunst sein kann. Es wäre gar nicht aufgefallen, wenn ich diese gegen meinige ausgetauscht hätte.

Yoko-Ono-Ausstellung: IMAGINA LA PAZ (deutsch: Stell dir Frieden vor). Auf verschiedenste Karten gestempelt

In einer Free Walking Tour, eine spendenbasierte Stadtführung, erfahren wir noch so einiges mehr über Ecuador: Für den Ankauf der Scheine und Münzen bezahlt Ecuador für jede Münze und jeden Schein je einen Dollar an die USA. Deswegen sind auch ecuadorianische Münzen im Umlauf mit dem gleichen Wert. Diese werden in Ecuador hergestellt.

Ecuadors Export besteht nicht nur aus Erdöl und Bananen. Auch Schnittblumen werden in großem Stile in den globalen Norden versandt.

Wem der Rucu Pichincha eine Nummer zu viel ist, der kann in Quito auch den Aufstieg auf einen innerstädtischen Hügel wagen, auf dem eine viel zu große Madonnen-Figur thront. Von hier aus gibt es einen fast 360-Grad-Blick über die Stadt. Der Hügel liegt direkt am Rande der Altstadt. An deren anderen Ende überragt eine Basilika die Stadt. Hier ist der Ausblick kostenpflichtig, dafür aber mit etwas mehr Abenteuer-Punkten. Im Inneren des Daches führt der Weg erst über Holzbalken, die gerade so viel Platz lassen, dass sich zwei Leute aneinander vorbeiquetschen können. Danach folgt innen und außen der Aufstieg über sehr steile Metalltreppen.

Doch keiner der Aufstiege nimmt es mit der Seilbahn auf, mit der wir auf 4000 Meter gefahren sind. Von der Bodenstation am Rande Quitos aus, überwinden die geschlossenen Kabinen über 800 Höhenmeter. Auch der Ausblick ist atemberaubend und nicht nur, weil die Luft so dünn ist (Wortwitz inklusive).

Nur widerwillig fahren wir nach unten und lassen diesen zauberhaften Ort hinter uns. Morgen soll es weitergehen, sodass wir eine der letzten Busfahrten in der Stadt antreten. Wir haben uns einige Mal verfahren, bis ich geschnallt habe, wie das Schnell-Bus-Netz sich aufbaut. Es ist unverzichtbar, bei den langen Strecken und vielen Hügeln. Durch die Bus-Spuren, abgegrenzt von der eigentlichen Straße, sind die Busse auch ziemlich flott unterwegs.

sehr flottes Schnell-Bus-System mit eigenen Spuren

Bei unserer Couchsurferin angekommen, finden wir allerdings ein kleines Massaker vor. Sie selbst ist oft unterwegs, auf Arbeit oder mit ihren Hunden im Park. Ihre Hunde essen mit Vorliebe alles mögliche, darauf hat sie uns hingewiesen und wir auch immer alles feinsäuberlich in Schränken versteckt. Doch diesmal scheinen wir Sachen vergessen zu haben und diese liegen nur zerfetzt am Boden. Das wichtige Reisebuch ist zerflettert, die Jacke hat kaum Schäden und die Postkarten für euch … naja ziemlich angenagt. Also nicht wundern.

Bevor ich aber zum letzten Absatz komme: Den besten Morocho und gute Empanadas gibt‘s bei Rey Morocho. Das ist jetzt nicht im Zentrum, aber wie wir finden: Der Weg lohnt sich.

Nun aber: Am nächsten Tag sind wir nach langem Faulenzen zum Busbahnhof gefahren. Der Weg dorthin war mit den schweren Rucksäcken im Stadtbus eine besondere Herausforderung. Da jedes Schalten durch Busfahrer*innen in der Regel dazu führen, dass sämtliche Fahrgäste einmal von der Heckscheibe zur Frontscheibe fliegen und wieder zurück. Auch wenn so viele Menschen im Bus stehen, dass Umfallen nicht möglich ist.

Unsere Busfahrt beginnt gegen Mitternacht und wir erreichen die Grenze kurz vor vier Uhr. Schneller als gedacht. Wie schon am Busbahnhof warten viele Venezolaner*innen auf ihre Weiterreise. Wir reihen uns zwischen Ihnen ein und können nach fast einer Stunde Stempel in die Reisepässe bekommen. Wir schlängeln uns zwischen den vielen Rollkoffern, Taschen und Decken der Flüchtenden hindurch und verlassen das Land, dass uns mit einem großen Schild freundlich verabschiedet.


Jul 19 2018

Peace, Love and Rock’n’Roll

von Rosa

Und am Ende der Straße steht ein Haus am See,
Orangenbaumblätter liegen auf dem Weg,..,
alle komm’n vorbei, ich brauch nie rauszugehen

-Peter Fox-

Marcello, unser Host, schiebt das Tor zu seinem Garten auf. Doch stellt euch diesen Garten nicht wie einen ordentlichen Vorgarten mit gemähtem Rasen und womöglich noch zwei grinsenden Gartenzwergen vor. Stellt euch das Gegenteil vor. Alles wächst wo es will, bunt, kreuz und quer. Es wuchert hoch hinaus, Blumen zwischen Bäumen. Keine Beete,keine Begrenzung, keine Ordnung. Frei und chaotisch so ist auch Marcello. Ein dünner kleiner Mann Mitte 40. Aus seiner dunkelgrünen Wollmütze schaut langes graues Haar hervor. Einen drei oder sagen wir eher zehn Tagesbart umrandet sein freundliches Lächeln. Er bittet uns in sein großes Holzhaus, das wie ein altes Kolonialhaus in den Tropen aussieht. Die Dielen knarren, im Wohnzimmer hängt ein kaputter Kronleuchter. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes steht ein großes Schachbrett. Die Partie wurde scheinbar nicht zu Ende gespielt. Stühle darum wahllos verteilt. Marcello entschuldigt sich für das Chaos. Gestern wäre eine Fiesta in seinem Haus gewesen mit Menschen aus Argentinien, Frankreich, USA, Venezuela und Jena. Jena? Scheinbar habe ich richtig gehört und in dem kleinen verschlafenen Dorf namens Mindo gibt es noch jemanden aus Jena. Sarah, so heißt die Jenaerin, will später noch vorbei kommen. Im zweiten Stock können wir unser Nachtlager aufschlagen, zwischen einem Schreibtisch mit alter Schreibmaschine und Balkon spannt Karl seine Hängematte. Dort wo ein Fenster sein sollte, wurde kein Glas eingebaut und so wohnt auch einiges Krabbeltier in diesem Haus. Internet Fehlanzeige.

Im Garten wachsen Orangenbäume, deren Früchte wir mit ein paar langen Holzstäben ernten können. Doch das ist gar nicht so einfach. Marcello sticht ein paar mal in die Baumkrone. Mehr als Blätter fallen allerdings nicht herunter. Nach ein paar weiteren Versuchen kullern die Orangen über den Boden und ich habe Mühe sie im Gestrüpp wiederzufinden. Bei Kaffee und Orangen unterhalten wir uns über Gott und die Welt, Frauenbewegungen in Ecuador, Korruption und Schwarzbrot. Unser Gastgeber hat mehrere Jahre in Leipzig gewohnt und schwärmt noch immer vom dunklen Körnerbrot und den feministischen Bewegungen in Deutschland.

Wir verabreden uns für den Abend zum Pizzabacken und erkunden in der Zwischenzeit den Ort. Mindo ist von hohen grünen Bergen umgeben, deren Spitze meist im Nebel hängt. Bis ins Dorf laufen wir einen kleinen Hügel hinunter.Vorbei an mehren Hostels, Restaurants und Tourenanbietern erreichen wir das Ende des Dorfes innerhalb von zehn Minuten. Wir schauen uns um, Essen hier eine Empanada (Teigtasche mit Käse), trinken da einen Kaffee und besorgen Käse und Basilikum für die Pizza. Ab und zu begegnen uns Touristen in Wanderschuhen. Die wollen wir aber erst morgen anziehen.

In der Küche knetet Marcello gerade Teig, als wir nach Hause kommen. Er trägt jetzt seine Haare zu einem Kneul auf dem Kopf gebunden und einen hängenden Ohrring im rechten Ohr. Die Frau am Küchentisch dreht sich ein Zigarette und kommt tatsächlich aus Jena. Im November hat Sarah ihr Studium beendet und dann in Kolumbien Deutschunterricht gegeben. Wir sich später herausstellt, haben wir vor zwei Jahren an Silvester auf der gleichen Party getanzt. Das Backen der Pizza dauert. Es wird improvisiert mit den wenigen Küchenutensilien, die vorhanden sind. Doch das Warten lohnt sich. Die Pizza schmeckt sehr lecker. Die Küchenabfälle soll ich aus dem Fenster schmeißen. Einfach die Schalen soweit wie möglich werfen. Den Rest macht die Natur, meint Marcello. Bei dem feuchten Klima würde alles schnell verrotten. Das habe ich auch schon von den Kaffeebauern in Peru gehört. Pünktlich zum zweiten Pizzablech kommen fünf weitere Gäste aus Frankreich in das Haus im Wald. Unter anderem Lucas. Er ist mit dem Segelschiff nach Südamerikas gekommen, trägt weite Kleidung und ebenfalls einen großen Ohrring und zwei Rastazöpfe. Später kommen dann noch Alex aus Argentinien und Marco aus Venezuela dazu. Der Abend vergeht mit einigen Partien Schach, Salsa und selbstgebrauten alkoholischen Getränken, deren Geruch mich hätte abschrecken sollen. „Compartir“ heißt das Lebensmotto von Marcello. Teilen. Er teilt sein Haus, sein Essen und seinen Tabak. Als die letzten Gäste verschwunden sind, ist der Nachtisch endlich fertig. Chicha – frittierte Maiskörner. Aus den Lautsprechern klingt die Stimme von Elivis und animiert uns zum Tanzen. Rock‘n‘Roll bis der Kronleuchter wackelt und das Parkett nachgibt.

Ich renn bergauf, rolle bergab
durch die Pampa und durch die Stadt
gradeaus, zerkratz mein Lack
zack, mit’m Kopf durch die Wand, bis es knackt

Ich renn durch mein Leben wie ’ne Lok auf zwei Beinen
Ein Hund kann nicht krähn, ein Fisch kann nicht schrein
und ich kann nicht stehn bleibn, ich bin ’n rollender Stein.

-Peter Fox-

Die Nacht war kurz. Eigentlich wollten wir mit dem Taxi zum Eingang des Nationalparks fahren. Doch dieses eigentlich bedeutet, dass wir gelaufen sind. Wie fast immer. Wenn etwas zu Fuß zu erreichen ist, dann gehen wir. Vielleicht ist das unser Sportersatz in Südamerika. Fünf Kilometer bergauf bis zur Seilbahnstation. Dort können wir festgeschnallt an unserem Bauch und eingehakt in ein Drahtseil über den Regenwald rutschen. Nach einer kurzen Einweisung geht es endlich los. Das Ende der Seilstrecke ist von hier nicht zu erkennen. Ich bekomme einen Schubs und schon sause ich über das grüne Meer von Bäumen. Ein tolles Gefühl. Ich öffne die Arme und schreie ohne es zu wollen laut Wuhuu. Unter mir ist nur ein grünes Blätterdach zu sehen. Jeder einzelne Fahrt macht Spaß. Ich versuche es kopfüber mit den Beinen nach oben, schaukle hin und her oder wir werden von dem Tourguide so gedreht, dass wir am Seil hin und her hüpfen. In meinem Kopf verfestigt sich der Wunsch als Vogel über Mindo wiedergeboren zu werden. Mal sehen, ob es klappt.

Nach dem Adrenalinschub wandern wir weiter nach oben zur Tarabita. Diesmal hängen wir zwar auch an einem Seil, aber wir sitzen dabei in einer offenen Gondel. Schneller als gedacht, saust der gelbe Korb bis zum anderen Ende. Dort erwartet uns eine spektakuläre Naturwanderung. Der schmale Wanderweg führt uns zwischen hohen Bäumen entlang über große Wurzeln und Steine. Rauf und wieder runter. Links und rechts Riesenfarne und Agaven. Lianen schlängeln sich um die Bäume. Äste wachsen kunstvoll umeinander. Dazwischen rote, gelbe und pinke Blumen und immer wieder kreuzen Libellen und Schmetterlinge in den buntesten Farben unseren Weg. Das Highlight der Wanderung sind die Wasserfälle, die sich fünf bis zehn Meter in die tiefer stürzen. Man wartet jeden Moment darauf, dass Fabelwesen aus dem Wasser steigen, so magisch wirkt dieser Ort. Das Wasser ist klar und die perfekte Abkühlung in der tropischen Hitze. Also werde ich selbst zur Nixe und tauche unter den Wasserfall. Als ich auftauche sitzt ein große Vogel neben mir auf einem Stein. Er schreckt auf und bahnt sich seinen langen weg durch die Baumkronen ins Licht. An diesem Ort zu sein, muss das Glück sein von dem so viele sprechen.

Wir sitzen beim Frühstück und Marcello macht für uns kleine gebratene Bananen. Kleines Gold heißen diese Bananen hier. Im Wohnzimmer meditiert Lucas mit seiner Klangschale. Als er fertig ist, verabschiedet er sich von uns mit den Worten: Wir sehen uns im nächsten Leben. Vielleicht als bunte Vögel in Mindo, scherze ich. Marcelllo klopft ihm auf die Schulter und wirkt in diesem Moment wie sein Vater. Er wünscht ihm viel Glück mit Sarah. Darauf entgegnet Lucas, dass sie nur eine gute Freundin ist. Marcello lächelt und meint zu ihm „Ihr Europäer, nie bereit für die Liebe“. Wir lachen.

Bevor es für uns weiter nach Quito geht, wollen wir noch Tubing ausprobieren. Dabei sind sieben Reifen mit Seilen aneinander gebunden. Auf dieser Konstruktion fährt man dann auf einem Fluss mit Stromschnellen und Steinen runter. Klingt gefährlicher als es ist, doch man bekommt schon ganz schön Tempo und wird ordentlich nass. Mit uns auf der Fahrt sind zwei Studentinnen aus Israel, die den ganzen Spaß mit ihrer Actionkamera filmen. Nach einer halben Stunde und ein paar blauen Flecken ist unser Wochenende in Mindo vorbei und unser Adrenalinpegel normalisiert sich wieder.

Als kleines Dankeschön pflanzen wir in Marcellos Garten noch Sonnenblumen. Marcello hat uns mit seiner Lebensweise beeindruckt. Für sein Haus im Glück zahlt er 170 Euro und für sein Leben nochmal 85 Euro. Er arbeitet als Psychologe und Therapeut immer dann, wenn er daran Freude hat. In der Küche sitzen schon wieder zwei neue Gäste, denen er gerne etwas von seinem Glück abgibt. Wovon Peter Fox noch träumt, hat Marcello schon längst erreicht. Nur das sein Haus im Wald und nicht am See steht. Aber wer braucht schon einen See, wenn man unter einem Wasserfall duschen kann.

 

 

Der Bus schiebt sich langsam den Berg hinauf und ich denke mal wieder „Que lindo es Mindo“ (Wie schön ist Mindo). Fast so schön wie Mindo ist auch die Fahrt nach Quito. Ich klebe an der Scheibe und staune. Das grüne Meer will nicht enden. Palmenbewachsene Berghänge, Schluchten und der Nebel, der sich über das Tal legt. Meine Augen möchten zufallen, doch ich will den Moment konservieren. Als ich aufwache, ist das grün dem schwarz gewichen. Dazwischen tausend helle Lichtpunkt. Wir sind in Quito.