Mai 30 2018

Wo wir zur Zeit sind:

Zur Zeit sind wir in Ayacucho, kamen aus Cusco und weiter geht’s nach Huancayo …

Ayacucho

StepMap Ayacucho

Mai 29 2018

Frederic

29. Mai 2018

Ayacucho

von Karl

 

Manche Menschen leben länger als sie gelebt haben. Arnos Bruder ist ein solcher. Arno ist eine Rampensau. So bezeichnet er sich selbst. Er muss wohl als Kind in ein Wörterbuch gefallen sein. Oder so ähnlich. Auf jeden Fall hat er viel zu erzählen und freut sich wenn er Fragen gestellt bekommt. Am liebsten über Peru, über Ivochote, dem Kakao-Anbau und natürlich „Peru Puro“. Seinem Baby. Er ist Geschäftsführer dieser Importfirma. Im direkten Handel, was er nicht ohne stolz sagt, in Abgrenzung zum Fairen Handel, importiert er direkt von den Bauern und Bäuerinnen Kakao nach Deutschland. Es gibt keine Zwischenhändler. Alles ist voll ökologisch und angebaut wird Chuncho, eine Ur-Kakao-Sorte. Daraus entsteht Edelkakao und -schokolade, die Arno dann in Deutschland vermarktet. So viel zur Vorrede.

Wie alles begann.

Schon am Minibus in Cusco lerne ich einen ehemaligen Ivochoter kennen. Gabriel ist jetzt Fahrer eines Minibusunternehmens, hat früher in Quillabamba im Kakao-Business gearbeitet und davor Strom in Ivochote verlegt. Seine Kolleg*innen stehen noch an der Straße um die letzten Plätze zu verkaufen. Laut rufen sie „Quillabamba“ auf die dichtbefahrene Straße. Die Fahrt nach Quillabamba lehrt uns das erste Mal bei tageslicht die Realität eines echten Gebirges. Immer wieder geht es Serpentinen hoch und runter. Oft führen die Straßen an Berghängen entlang. Ab über 3.500 Metern nimmt auch die Baumvegetation ab und die Berge sehen gelblicher aus, geprägt von dem Gras. Oft kann weit in das Tal hinein geschaut werden, sodass atemberaubende Ausblicke entstehen. Irgendwann halten wir auf einen Pass, der gut über 4.000m liegt. Nebel oder Wolken wabern von der anderen Seite über den Pass. Kurz darauf fahren wir im Achterbahntempo kilometerlang durch Wolken, bis wir wieder im Regenwald rauskommen. Eine der bedrohtesten und seltensten Vegetationszonen sind die Nebelwälder. Das sind Regenwälder die die meiste Zeit im Nebel stehen. Vielleicht sind wir durch einen solchen gefahren.

In Quillabamba finden wir eine günstige Unterkunft und schon steht Arno vor der Tür. Ganz wie ein deutscher Tourist auszusehen hat – nur – dass gerade er, gar keiner ist. Sandalen, beige-graue Trekkinghose, T-Shirt, gerötete schweißige Haut von der Hitze, blaues Shirt und lichter werdendes braunes Haar. Ein ständiges Grinsen begleitet das lose Mundwerk. Er führt uns gleich an unseren morgigen Treffpunkt und wir nutzen die Gelegenheit für eine Vorgespräch für unseren nächsten Film. Der Kakao in Ivochote soll den Fairen Handel in Deutschland bewerben. und wir sind das Film-Team. Unsere Magenschmerzen gehen vor allem zur spanischen Sprache. Wir können uns zwar verständigen, aber ein Interview ist nochmal eine andere Liga.

Der Geschäftsführer betont schon jetzt wie edel sein Kakao ist und dass kaum jemand, der oder die den Kakao probiert hat, diesen nicht wieder gekauft hat. Eine Info die uns noch öfters mitgeteilt wird.

Quillabamba

Wir nutzen die kurze Zeit in Quillabamba für einen Spaziergang und tatsächlich sind irgendwelche Festlichkeiten am Hauptplatz. Tribünen sind aufgebaut und viele Menschen mit und ohne Kostümen sind unterwegs. Plötzlich zieht an uns eine tanzende und musizierende Gruppe vorbei. Später werden wir solche Gruppen immer wieder sehen, nicht selten im Zusammenhang mit der Kirche. Quillabamba ist die größte Stadt mit 200.000 Einwohner*innen im Distrikt Echarati. Es ist vor allem deswegen reicher, weil sämtlicher Handel mit den umliegenden Dörfern über diese Stadt geht. Die Bäuerinnen und Bauern aus Ivochote zum Beispiel müssen für jede Reparatur nach Quillabamba. 6 Stunden hin und 6 Stunden zurück. Wenn es keinen Erdrutsch gab, sonst dauert es länger. Nicht selten fahren die Busse nachts, weil es da nicht so heiß ist. D.h. 2 Uhr nachts Abfahrt in Ivochote und dann wieder 2 Uhr nachts Abfahrt in Quillabamba. Schlafen scheint nicht so angesagt zu sein. Es gibt ja Coca.

Die Rentner*innen-Reise-Gruppe, kurz RRG

Arno meint, wir kommen genau richtig. Zum ersten Mal gibt es eine Touri-Gruppe aus Deutschland die u.a. mehrere Tage nach Ivochote reist. Es sind zwei Plätze frei geworden und nun können auch wir einfach mitkommen und werden mit ihnen an alle interessanten Plätze geführt. Tatsächlich macht uns das alles einfacher. Nach der einen Übernachtung in Quillabamba gehen wir mit unseren Gepäck zu Arnos Hotel und erwarten die Gruppe. Gemeinsam mit Ihnen packen wir unseren Kram auf das Dach des Minibusses.

Ich setze mich in die letzte Reihe und lerne im laufe der Fahrt nach Ivochote die beiden „jüngeren“ der Reise kennen, mit denen ich die Reihe teile. Ein Pärchen aus Franken. Er ist auch eher vom Typ Rampensau, schwer in Ordnung und nicht verlegen schlechte Witze zu machen. Dann kennt er noch das Känguru und engagiert sich gegen zu viel Religion in dieser Welt. Ganz sympathisch. Seine Frau dagegen, ist eher zurückhaltend. Wenn ich so darüber nachdenke, weiß ich gar nix von ihr.

Schon am Bus lerne ich den Sachsen kennen. Zwischen den ganzen schwäbisch-fränkischen Dialekten sticht er hervor. Reiseteam-intern nennen wir ihn „die Komödie“, weil er es schafft jedes Fettnäpfchen mitzunehmen. Er ist ganz lieb, nur kehrt er seine negative Sicht stark nach draußen. Wir schauen uns unbeteiligt die Konflikte zwischen ihm und der RRG an. Die Unterhaltung hatten wir gar nicht gebucht. Aber das schönste kommt ja meist überraschend. Nur die „Jüngeren“ scheinen ihn wirklich integrieren zu wollen.

Dann ist da das Vierer-Team vom Weltladen Ulm. Mit der kleinen braunhaarigen als zurückhaltende Anführerin. Die drei anderen Rentnerinnen sind auch ehrenamtlich Engagierte. Sie sind noch mehr dabei das als schönen Urlaub zu nehmen und erzählen viel und gern aus ihrem Leben.

Ein noch älteres Ehepaar, scheinbar Verwandte oder Bekannte von Arno, begleitet uns noch, doch besonders Er ist sehr in sich gekehrt. Freundlich sind sie wohl alle.

Bienvenido en Ivochote

Die Fahrt von Quillabamba nach Ivochote wurde mehrmals für Photo-Pausen unterbrochen. Allerdings ist der Bergregenwald mit dem Rio Urubamba auch ein prächtiges Motiv. Der Fluss schlängelt sich zwischen den steilen grünen Berghängen. Hier im Gebirge ist er nicht der ruhige Breite, sondern ein reißender Strom. Irgendwann verlassen wir die asphaltierte Strecke und biegen in Kiteni auf die Schotterpiste. Über sechs Stunden dauert die Fahrt, was angesichts der üblichen Distanzen in Peru eher wenig bis durchschnittlich ist. Ivochote ist ein Dorf mit einigen hundert Einwohner*innen. Ivochote liegt komplett rechtssseitig des schnellen Rio Urubamba und ist mit einer Hängebrücke mit dem anderen Ufer angebunden. Für Motorräder ist sie breit genug, nicht aber für Autos. Wir sind in einem der Hotels am Fluss untergebracht. Im Dorfkern thront ein großes Schulgelände und ein überdachter Fußballplatz mit einer kleinen Tribüne. Riesig im Vergleich zu den nicht mal hundert Schüler*innen.

Peru gibt viel Geld für Schulen aus, aber die Korruption ist auch hier ein Problem. Architekt*innen planen gerne groß, weil dann mehr abgerechnet werden kann und damit der prozentuale Eigenanteil größer wird. Eine andere Schule hatte sogar ein kleines Wasserbecken, jedoch ohne Wasser. und eine große Küche, jedoch ohne dem nötigen Gas. Auch die Lehrer*innen möchten lieber in den Städten arbeiten, sodass Bestechung bei der entsprechenden Vergabestelle normal sein. Mit 10.000 Soles für einen Großstadt-Arbeitsplatz sollte gerechnet werden. Auch seien Lehrer*innen schlechter je entfernter die Schule von der Großstadt liegt. Selbst an den Wegen abseits der Dörfer gibt es Schulen, für die Kinder der Bäuerinnen und Bauern, sowie der noch entfernter lebenden Mechungas, der einheimischen Indigenen.

Viele der Menschen in Ivochote arbeiten zur Zeit auch für die Gasfirma. Seit einiger Zeit wird eine sehr lange Erdgaspipeline von Camisea, was noch viel weiter östlich im Flachland-Regenwald liegt, bis an die Küste gezogen; das heißt auch einmal komplett über die Anden. Dafür wurden schon die meisten Kilometer im Bergregenwald abgeholzt und die Rohre ausgelegt. Arno hat uns auch einige Lagerstädte der zukünftigen Rohrelemente gezeigt. Anfangs seien viele vor Ort begeistert gewesen, weil die Firma Geschenke verteilt hat, die Straßen asphaltiert und viel Geld in Ausgleichsmaßnahmen gesteckt wurden. und natürlich weil es gut-bezahlte Arbeit gab. Als die Baufelder weiter-wanderten und die Naturzerstörung übrig blieb, begann der Protest. Camps der Gasfirma wurden in Brand gesteckt. Wenn deren Hubschrauber landeten, kamen die Einheimischen mit Fackeln. Dann schickte die Regierung das Militär. Um die Gasfirma zu schützen. Mittlerweile ist der Protest abgeebbt und der Bau geht weiter.

Jonathan

Mit Dreirad-Motorrädern soll es zum Kakao-Bauern Jonathan gehen. Mit dabei, der Präsident der ökologischen Kakao-Vereinigung Ivochote, oder einfach nur Adolfo. Manchmal auch Alfonso. Eines der Motorräder ist neu gekauft. Wir starten am neuen Zentrum der Vereinigung, wo wir auch mit Essen versorgt werden. Neue Toiletten, neue Küche, Gästezimmer, Lager, Versammlungsraum. Alles per Hand gemacht und mit Material von vor Ort. Es ist einfacher den Flusskies zu sieben und zu Zement anzurühren, als einen Laster kommen zu lassen. Bewundernswert was hier geschafft wurde. Jonathan und Adolfo sind noch dabei Bretter zuzuschneiden als wir frühstücken. Damit drei Reihen auf der Ladefläche eines Motorrads Platz nehmen kann. Neben dem Fahrer sind links und rechts noch je ein Sitz.

Ivochote liegt unter 500 Metern, aber die Bauernhöfe auf ca. 1.200 Metern über dem Meeresspiegel. Nach nur wenigen Kilometern den Schotterweg hinauf, platzt der Abluftschlauch am Motor. Stundenlang versuchen wir das zu reparieren. Teils mit Bananenblättern. Am Ende tut es ein Lappen und stetiges kühlen mit klaren Wasser vom Beifahrer. Der neue Schlauch muss erst in Quillabamba besorgt werden. Eine Weltreise entfernt. Jonathans Bauernhof besichtigen wir, der aus mehreren Holzbauten besteht und einem gut gepflegten Schrebergarten den Rang abläuft. Es gibt eine Küche, einen überdachten Versammlungstisch, eine Kakao-Anzucht, Unterkünfte, einen Gemüsegarten und einiges an Werkzeugen. Hühner laufen frei rum. Es gibt zig gut gepflegte Bäume, u.a zeigt er uns Zimt. Auch sein jüngster Sohn fährt mit seinem kleinen Fahrrad über den Hof und nähert sich immer wieder schüchtern den entzückten Rentner*innen die gerne mal wieder ein Photo von einem süßen Kind machen.

Er gibt uns Früchte zu essen, die wir noch nicht mal in Quillabamba kaufen könnten, weil die sehr schnell schlecht werden. Die kann mensch nur hier essen, wo sie wachsen. Früchte die ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen habe. Leider sogar sehr leckere Früchte.

Der soziale Kakao

Wir werden auch hier von einer der Frauen-Gruppen bekocht. Arno erklärt, dass eines der zentralen Projekte der Kakao-Vereinigung die Frauen-Gruppen sind. Vormals sind nur die Männer zum Verkauf des Kakaos und wegen anderen Besorgungen ins Dorf gegangen. Nun aber treffen sich die Frauen und das stärke ihr Selbstbewusstsein ungemein. Als eine Frau von ihrem betrunkenen Mann immer wieder geschlagen wurde, haben sie sich gemeinsam aufgemacht und mit dem Mann gesprochen. Chefin des neuen Zentrums oder offiziell die Sekretärin der Vereinigung ist Amelia und hat als Frau eine führende Rolle eingenommen.

Ein weiterer Teil ist die Unterrichtung von Schwester Esther. Schwester Esther ist über einen christlichen Orden in das Tal gekommen und stammt aus dem Regenwald Indonesiens. Im Gegensatz zu den Bäuerinnen und Bauern kennt sie sich mit dem Regenwald aus. Arno erklärte uns, dass die meisten in Ivochote aus dem Hochland zugewandert sind und den Regenwald nicht kennen. Sie denken an die eigene Versorgung, sodass sie Land kaufen, abholzen, drei Jahre Kakao anbauen und dann neue Felder brauchen, weil der Boden keine Nährstoffe mehr trägt. Nun wird nachhaltig angebaut. Arno ist studierter Tropenökologe und trägt sein Wissen mit bei. Das wirkt sich auch auf die Ernährung aus. Mittlerweile werden verschiedenste Pflanzen zur eigenen Versorgung angebaut, wie beispielsweise Salat, Tomaten und es wird sogar Kuchen gebacken. Alles das gab es vorher nicht. Mittlerweile ist es Teil der Schulspeißungen und es gibt Schulgärten.

Der Regenwald wird als nachhaltige Quelle geschützt, wieder aufgeforstet und für den Eigenbedarf genutzt. Über 90% von Jonathans Fläche ist natürlicher Regenwald, den er nun nicht mehr abholzen will. Vielleicht jagt er mal ein Tier, erntet eine Frucht oder fällt einen Baum für Neubauten. Nur ein paar Hektar nutzt er für den Kakao-Anbau.

Der Kakao

Kakao wächst an kleinen Bäumen die nicht größer sind als drei Meter. Interessanterweise wachsen die gelben oder roten Früchte direkt am Stamm oder den Ästen aber nicht bei den Blättern. Die Früchte sind hart, wasserflaschen-groß und geformt wie ein Football. Mit der Machete schlägt Jonathan eine Frucht in zwei und es kommt ein weißer Fruchtschleim zu Gesicht in dem die Kakao-Kerne geschützt sind. Der Schleim schmeckt ganz pasabel, aber die Kerne sind im Interesse von Adolfos Kolleg*innen. Die Kerne werden gewaschen, fermentiert und getrocknet. Erst dann werden sie Teils in Quillabamba weiterverarbeitet oder direkt nach Europa verschifft. Den Kakao erst „vor Ort“ zu Schokolade zu verarbeiten, ist ökologischer, weil der Transport dann nicht gekühlt werden muss.

Wir interviewen Adolfo zwischen Jonathans Kakao-Bäumen nach dem die RRG weitergezogen ist. Er sagt, dass der Klimawandel tatsächlich ein großes Problem ist. Mittlerweile breitet sich ein Insekt aus, welches sich vom Schleim ernährt und damit die Kerne im Wachstum schädigt. Das Insekt hat diese Höhen erst für sich entdecken können, weil es wärmer wurde. Ca. 50% der Früchte seien befallen. Ein riesiges Problem. Arno hält die Ur-Sorten für den Schlüssel um dem Trend Herr zu werden, sowie großflächigen Regenwaldschutz und Aufforstungen. Damit das Mikroklima im Urubamba-Tal konstant bleibt.

Arme Deutsche

Am letzten Abend sitzen wir sprachlos mit der RRG am Abendbrot-Tisch. Sie sammeln Geld für die Frauen-Gruppen. Ich habe die Bäuerinnen und Bauern als selbstbestimmte und stolze Menschen wahrgenommen. Ich konnte viel von Ihnen lernen und bin immer noch tief beeindruckt, wie sie ihr Leben gestalten und was sie geschafft haben. Menschen denen ich auf Augenhöhe begegnet bin und denen ich viel zugehört habe. Ihnen Geld zu spenden empfinde ich dabei als Abwertung. Ich der reiche Deutsche unterstreicht damit seine privilegierte Position. Rosa und ich wenden uns ab, was uns aber nicht so leicht gemacht wird. Sie diskutieren am Tisch den Gesamtpreis und legen fest wie viel jede*r zu geben hat. Als Rosa ablehnt, trifft sie der unverständliche Todesblick einer Rentnerin.

Bei einer Schulbesichtigung übergeben einige Rentnerinnen ihre Geschenke an die Direktorin der Schule. Nie wurde gefragt, was gebraucht wird. Kugelschreiber, Notizheftchen, Mini-Täschchen, Wasserbomben, … werden überreicht. Meines Erachtens Sachen, die sie einfach nicht mehr gebraucht haben. Sie denken, sie würden etwas gutes tun, wissen aber überhaupt nicht, ob es überhaupt helfen wird. Eigentlich geht es gar nicht darum den peruanischen Kindern zu helfen, sondern das gute Gewissen der schenkenden Deutschen. Die geistig Armen und die materiell Armen treffen sich hier in bewundernswerter Freundlichkeit.

Als sie dann sogar für Arno Geld sammeln, bin ich dann dran den Todesblick der Rentnerin einzufangen. Nie wurde ich gefragt, was ich davon halte, wie viel ich geben mag oder dergleichen. Nein, ich wurde einfach aufgefordert 30 Euro zu geben.

Der Touri-Tag

Unser letzter Tag vor der Abreise in Ivochote, ist ein touristischer Programmpunkt. Den Urubamba flussabwärts durchbricht der Fluss den letzten Gebirgszug der Anden und geht in den Flachlandregenwald über. Das Wasser gelangt über verschiedene Flüsse irgendwann in den Amazonas. Faszinierend ist dabei, dass die Amazonas-Mündung viele tausende Kilometer entfernt ist, aber der Höhenunterschied lediglich 300 Meter beträgt.

Wir fahren mit zwei lokalen Langbooten den Fluss hinab. Die Holzboote sind gute 40 Meter lang und mit Auto-Sesseln ausgestattet. Der Fluss macht noch einige Wendungen und hat einige Stromschnellen die viel Geschick erfordern. Ein Ausfall des Motors wäre der sichere Tod. Nach zig Stromschnellen und Hängebrücken erreichen wir die Schluchten des „Pongo de Mainique“. Faszinierend ragen links und rechts die Felswände auf. Hin und wieder durch Wasserfälle abgenutzt. Es ist leiser hier. Der laute Regenwald ist etwas zurückgetreten und nur das Wasser plätschert. Der Fluss ist immer noch reißend, aber er zeigt es nicht. Es ist kühler im Schatten der Felsen. Es ist dunkler ohne dem Grün und der Sonne.

Wir wandern später in einen Seitenarm und genießen ein Bad an einer ruhigeren Stelle. Gleich daneben hat der kleine Fluss eine natürliche Wasserrutsche gebastelt, was mich sehr lange sehr erfreut. Im Schatten der Bäume bleibt die Zeit stehen. Alle Arbeit mit dem Film ist vergessen. Ich lass mich immer wieder treiben und springe immer wieder von den Felsen in das kalte Nass. Die Sonne wärmt bedächtig die Felsen. Wohl Stunden hätte ich verbringen können, wenn nicht der Rest der Gruppe den Rückweg angebrochen hätte.

Arnos Bruder

Auf dem Weg zurück fordert Schwester Esther den Bootsfahrer auf kurz langsamer zu fahren. An einem Stein am Rande ist ein Name eingeschlagen. Fein säuberlich steht dort „Frederic“ geschrieben. Arnos Bruder. Er ist als Abenteuer-Tourist auf dem Rio Urubamba unterwegs gewesen, ist gekentert und wurde an dieser Stelle das letzte Mal gesehen. Wir staunen, dass Arno mit uns unterwegs ist. Er ist der Grund, warum Arno und seine Eltern immer wieder in diese Region kommen. Seit über 16 Jahren schon. Sie haben den Verein „Frederic – Hilfe für Peru“ aufgebaut, den viele in Ivochote kennen. Genauso wie Arno ein bunter Hund im Dorf ist. Der Verein ist der Anfang, der irgendwann zum direkten Handel mit Kakao führte. Es ist beeindruckend welche Spuren Frederic hinterlassen hat und wie er nun weiterlebt. Weit über sein Leben hinaus. Er war Backpacker, so wie wir.


Mai 28 2018

die Gewerkschaft der Herzen

21. Mai 2018

Cusco

von Karl

 

Es muss ja auch mal ein Ende haben. Unser Pech. Dass wir eigentlich in 1,5 Tagen die Strecke Porto Velho bis Cusco schaffen wollten, ist schon jetzt illusorisch, aber vielleicht kommt jetzt die verdiente Wende. Wir sind gerade aus dem Bus vor dem brasilianischen Grenzposten herausgepurzelt, schon werden uns Plätze im einzigen Mini-Bus nach Puerto Maldonado zu besten Preisen angeboten. Sofort schlagen wir zu, hieven unser Gepäck mit aufs Dach und gehen mit unseren Reisepässen zum Polizei-Büro. Der Grenzbeamte erklärt uns, dass wir bei der Einreise nur 15 Tage Aufenthalt in Brasilien angegeben haben, heute wäre schon der Tag 24 und für jeden Tag drüber wird eine Steuer fällig. Er ist aber so kulant und verlängert das im System. Ich hielte diese Angabe für bloße Statistik, aber offensichtlich hat sie Folgen. Gibt es doch nette Polizist*innen? Als uns der Bus bei dem peruanischen Büro rauswirft geben wir auch gleich 60 Tage an. Bestimmt viel zu viel, aber sicher ist sicher. Grenzbeamt*innen sind vielleicht nicht immer gut drauf.

Peru gibt uns etwas Sicherheit wieder, weil wir nun unser gebüffeltes Spanisch auch etwas anwenden können. Wir können uns selbst verständigen, das gibt uns mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Der Mini-Bus düst so schnell er kann durch den schon gewohnten Regenwald. Nach Sonnenuntergang erreichen wir Puerto Maldonado und nehmen ein dreirädriges Moped-Taxi zum Busbahnhof von dem die Busse nach Cusco abfahren. Für uns ist es ungewohnt überraschend, dass ein Dutzend verschiedener Anbieter nahezu zeitgleich abends zum selben Zielort abfährt. Das muss diese Marktwirtschaft sein, wo alle umeinander konkurrieren und niemand verdient. Etwas gerädert von den letzten Tagen nehmen wir ein „Bett“, statt des üblichen Sitzplatzes. Das heißt dann aber nur, dass der Sitz etwas komfortabler ist. Die Lehne lässt sich weit zurückklappen. Der Reisebus fährt über Nacht. Da es an einer Klimaanlage fehlt, wird es auch zusehend kälter im Bus, während wir uns merklich Serpentinen hochschlängeln. Erste Kopfschmerzen machen sich breit.

In Cusco fallen wir aus dem Bus, greifen das Gepäck und fangen an uns zu orientieren. Ohne Ansage, ziemlich abrupt, waren wir einfach da. Ich verlasse den Busbahnhof, das Terminal Terrestre, und merke wie beim leichten Anstieg mein Herz anfängt ungewöhnlich schnell und stark zu pochen.

Ein Taxi bringt uns dann zum Couchsurfer, der bei unserer Ankunft auch aus dem Fenster winkt, aber dann nicht die Tür öffnet. Etwas verärgert warten wir noch eine viertel Stunde, aber jedes Klingeln und Klopfen hilft nicht. Wir sind verblüfft und rätseln warum er nun die Tür nicht öffnet und uns hier sitzen lässt. Wir ziehen um die Ecke und der Zufall bietet uns direkt ein Hostel an. Nennen wir es Glück im Unglück.

Endlich ankommen. Es ist das schöne Gefühl, endlich einen Anker zu haben. Endlich können wir wieder unseren Kram aus dem Rucksack in allen Ecken verteilen. Der neue Gastgeber lässt mit sich reden und wir bekommen sogar noch Frühstück. Der Weg in den vierten Stock bringt mein Herz erneut auf Höchsttouren, wo ich doch sonst kein Problem mit Treppen habe. Bei meinem ersten Coca-Tee kann ich den Blick über Cusco schweifen lassen. Wir haben in unserem Glück sogar noch einen fulminanten Ausblick auf Cusco erhalten.

Cusco schmiegt sich zwischen Bergen in einem weitläufigen Tal und ist im Zentrum durch rote Kolonial-Dächer geprägt. Der übliche Morgennebel über Cusco zieht gerade langsam von dannen. Die Berge um Cusco haben nur wenige Bäume. Nicht verwunderlich auf ca. 3.500 m über Meeresspiegel, da beginnt in den Anden die Baumgrenze. Ja, Cusco ist eine der höchsten Städte und deshalb auch die ganzen körperlichen Beschwerden. Die Höhenkrankheit hat uns erwischt. Kopfschmerzen, etwas Übelkeit, allgemeine Benommenheit. Vor allem aber schlapp. Eigentlich fühle ich mich den ganzen Tag wie frisch aufgestanden, nach einer hart durchzechten Nacht. Der berühmte Kater danach. Nur, dass er nicht weggeht. Mensch kann sich nur bedingt dran gewöhnen. Oft werden die Coca-Blätter empfohlen. Die sollen etwas helfen. Zum Kauen oder als Tee aufgebrüht. Schmeckt übrigens wie Kräuter-Tee nur in leckerer. Die Höhe bringt auch ungewohnte Kälte mit sich, so gehen hier die Temperaturen bis kurz vor dem Gefrierpunkt runter und erreichen selten 20 Grad.

Wir versuchen uns eine peruanische SIM-Karte zu organisieren, aber das gestaltet sich als Schnipsel-Jagd. Die ersten Läden verkaufen keine SIM-Karten, obwohl Handy-Netz-Werbung draußen dran ist. Dann versuchen wir es in den Handy-Läden, aber die verweisen auf einen größeren. Den endlich gefunden, stellen wir fest, dass die SIM-Karten dieses Anbieters nicht mit unseren Handys funktionieren. Also geht das Spiel auf ein neues los, aber tatsächlich funktioniert es dann irgendwann.

Wir kommen immer wieder an Touri-Sachen vorbei wie alte Kirchen und Inka-Ruinen. Die ganze Stadt ist ein einziges Tourismus-Zentrum. Alles ist darauf ausgerichtet. Ein Hostel reiht sich manchen Orts ans andere. Die Sehenswürdigkeiten haben stolze Preise, sodass wir nix von innen sehen und eigentlich dreht sich auch alles um Machu Picchu, den Inka-Ruinen einige Kilometer von hier. Machu Picchu gehört zu den Top Ten Sehenswürdigkeiten in Südamerika und entsprechend viele Touris sind hier unterwegs. Uns interessiert das erstmal nicht, denn für uns ist die Fahrt zur Fair-Trade-Kakao-Plantage angedacht. Dafür bereiten wir uns vor.

Wir müssen dafür in Quillabamba umsteigen, und suchen das Busterminal nach Quillabamba. Tatsächlich finden wir das mit Hilfe sehr netter Bahnmitarbeiter. So wie wir das Terminal betreten, prasseln die Rufe auf uns ein. Die zig Anbieter möchten uns alle ihren Bus verkaufen. Sie verstehen auch nicht, dass wir gar nicht zum Machu Picchu möchten. Es gibt nämlich eine günstigere Route zu Machu Picchu über Santa Maria, was auf halber Strecke nach Quillabamba liegt. Montag wollen wir zurückkehren zum Busterminal.

Die nun übrige Zeit nutzen wir für einen Aufstieg zum Christo Blanco. Eine kleine Jesus-Statue, ähnlich der berühmten in Rio de Janeiro, thront am Rande der Stadt. Es ist auch die einzige Sehenswürdigkeit ohne teuer Eintritt zahlen zu müssen. Tausende Stufen führen uns zu ihm.

Wir müssen einige Pausen machen, weil unsere Herzen rebellieren. Es tut schon richtig weh. Das Herz pocht mit einer Gewalt gegen die Rippen, dass ich das Gefühl habe, es würde ohne Brustkorb herausspringen. Wenn unsere Herzen eine Gewerkschaft gründen würden, sie hätten schon längst gestreikt. Es kostet uns einiges an Zeit die Stufen zum Jesus zu erklimmen, aber wer sagt schon, dass der Weg zu Gott einfach ist. Scheint mir aber auch kein guter Gott zu sein, wenn er uns so quält. Dieser Gott kam mit den Konquistadoren nach Cusco. Vormals war Cusco Hauptstadt des Inka-Reiches, aber die Spanier*innen haben erstmal alle versklavt, alle Reichtümer geplündert und die Stadt zerstört. Danach wurde ihre Kolonie auf den Überresten errichtet und nun sind die europäischen Touris überall.

Zu Jesus‘ Fuße genießen wir den Überblick, horchen den Touri-Guides der Gruppenreisenden und schauen uns vom Aufstieg fertige Touris an. So vergeht etwas Zeit in der Sonne.

Selbst der spätere Abstieg macht uns noch zu schaffen und wir steuern nach kleinen Umwegen unsere Unterkunft an. Geplagt von der Sonne und den rebellierenden Herzen, versuchen wir uns etwas zu beruhigen, sodass wir morgen fit sind wenn es nach Quillabamba geht.

PS.: Die Stadt-Flagge von Cusco ist wunderschön (-;


Mai 28 2018

Mal wieder: ein Schwung Postkarten kommt nach Europa …

Auch welche? Mehr Infos unter Postkarten


Mai 24 2018

Kaltes Fieber

Ich blinzle, es ist hell. Durch das große Fenster scheint die warme Morgensonne. Langsam merke ich den Schmerz im Kopf und in den Gliedern. Dazu ein Unwohlsein. Ich richte mich auf. Mein Kopf fühlt sich an wie ein Nagel, der mit voller Kraft von einem Hammer getroffen wurde, immer und immer wieder. Ich bin krank. Ein Zustand, der eine Menge Unannehmlichkeiten bereitet, erst Recht auf Reisen.

Gestern noch lagen wir in unseren Hängematten auf dem Schiff am Hafen. Haben den Arbeitern beim Ent- und Beladen der unterschiedlichen Waren zugeschaut. Mehre Säcke Reis trugen sie auf ihren Schultern die kleine Planke bis in den hinteren Teil des Schiffes. Wie die Ameisen reihen sie sich aneinander. Mindestens 60 kg müssen das pro Ladung und Mann sein. Der Schweiß tropft ihnen von der Stirn. Bis spät in die Nacht arbeiten sie. Wir hingegen schaukeln neben Carlos aus Argentinien und Alex aus Brasilien in unseren Hängematten und schauen auf die Lichter des Hafens. Die beiden haben uns erst auf die Idee gebracht länger zu bleiben. Sie würden noch drei Tage hier schlafen bis ihr Auto mit einem anderen Schiff in Porto Velho ankommt. Nun hätten wir uns etwas besseres vorstellen können als noch eine weitere Nacht auf diesem Schiff zu verbringen, aber unserer Couchsurfer ist nicht zu erreichen und eine kostenlose, sichere Unterkunft ist besser als keine. Am nächsten Morgen sind die Arbeiter immer noch am Beladen. Der Mensch als billige Arbeitskraft. Inzwischen hat sich unser Couchsurfer Homely gemeldet. Wir verabschieden uns von Carlos und Alex und wollen uns in Argentinien wiedersehen.

Die Schranke der Wohncommunity öffnet sich. Das Taxi darf einfahren. Wir sind in einer abgeschirmten Wohngegend gelandet. Über 450 Wohnungen gibt es hier. Ein kleines Dorf hinter hohen Mauern und Stacheldraht. Es gibt alles was man braucht. Ein Schwimmbad, einen Fußballplatz und einen Einkaufsladen. Homely bittet uns in sein Haus mit Garten, moderner Küche und riesigem Flachbildfernsehen. Unser Host steht seinem Haus in nichts nach. Er ist sehr groß, muskulös, kurze Haare und achtet auf sein Äußeres. Seine 38 Jahre sieht und merkt man ihm nicht an.

Einige Kilometer entfernt vom Hafen befinden wir uns in einer anderen Welt. Der Lohn der Hafenarbeiter reicht hier wahrscheinlich gerade mal für die Abgaben fürs Rasenmähen. Homely ist Couchsurfer durch und durch. Auf einer Karte an der Wand ist der Weg zum Bus und zum Supermarkt eingezeichnet. Daneben Flaggen von Ländern, die er schon besucht hat und Fotos von glücklichen Gästen. Bei einem Host zu übernachten, ist wie ein Überraschungsei. Man weiß nie was man bekommt. Durch vorheriges Prüfen wie etwa leichtes Schütteln oder dem Profil des Hosts lassen sich Indizien feststellen. Doch wie wir schmerzlich aus unserer Kindheit wissen, muss sich hinter dem dumpfen Klappern nicht die ersehnte Sammelfigur verstecken. Sondern kann auch ein schnödes Puzzle sein. So oder so weckt der Inhalt unser Interesse. Diesmal haben wir den aktiven, interessierten, motivierten Couchsurfer-Typ gezogen. Er zeigt uns seine Stadt, ein kleines Kunstmuseum und das groß angekündigte Highlight: eine alte Eisenbahnstrecke. Sie hat unzähligen Menschen beim Bau während des Kautschukbooms das Leben gekostet. Die alten Wagons stehen verrostet in einer großen Halle. Hier könnte man gut Horrorfilme drehen.

Porto Velho haut uns nicht wirklich vom Hocker. Einen zentralen Platz, ein Zentrum suchen wir vergebens. Verkaufsläden und Bürogebäude reihen sich aneinander. Während Homely zum Pilates geht, treffen wir Susi. Sie ist auch Mitglied in der Couchsurfing Community, sehr aufgeweckt, hat ein schrilles lautes Lachen, das wir alle zwei Sätze hören und liebt Selfies. Hier scheinen alle im Couchsurfing-Fieber zu sein. Mitten im Regenwald ihr Tor zur Welt. Couchsurfing heißt aufgenommen zu werden, in ein Haus, in eine Stadt, in eine Lebenswelt. Es heißt Freunde zu treffen, so schnell wie vielleicht damals nur im Kindergarten. Es heißt aber auch zu teilen und zu geben. Seine Privatsphäre, seine Geschichten, seine Reisefreude. Es heißt zu Lachen, zu sozialisieren, zu erzählen. Immer wieder das gleiche Programm. Wo kommst du her? Was machst du? Wie lange reist du schon? Was gefällt dir an Brasilien? Wie findest du die Menschen in Brasilien? Dann antworte ich meistens: Sie sind nett, freundlich, aufgeschlossen. Aber ich keine nur 15 von 200 Millionen. Deswegen mag ich mir kein Urteil bilden. Dafür kenne ich aber mindestens 100 Moskitos und die sind alle böse. Da bin ich mir sicher. Mal sind die Antworten lustig, mal ehrlicher. Und dann ist da noch die Sprachbarriere, die die ganz großen Fragen der Menschheit manchmal verhindern. Aber daran scheitern selbst die Philosophen, die es in ihrer Muttersprache mit sich selbst diskutieren. Die kürzeste Verbindung zwischen Menschen ist dann immer noch ein Lächeln oder ein Bier. Man sagt auf Reisen ist die Freiheit am Größten. Aber es heißt auch sich anzupassen. Seine Bedürfnisse zurückzustellen und nach Nächten mit wenig Schlaf eine weitere in Kauf zu nehmen. Homely und Susi nehmen uns mit in eine Bar. Der Schmerz in meinem Kopf sagt nein, aber ich will ja auch keine Spielverderberin sein. Denn genau das geht beim Couchsurfern nicht. Couchsurfing ist ein Lebensgefühl des ewig gut gelaunten Reisenden, der hungrig und durstig nach neuen Erfahrungen ist. Der Abend wird schön. Eigentlich wie immer, wenn man sich auf Neues einlässt. In Brasilien ist es nicht üblich einzeln zu tanzen, sondern zu zweit, im Paar. Doch die letzten Tanzstunden sind eine Weile her und der Tanz auch ein ganz anderer. Hier wird Foro getanzt. Eigentlich ganz einfach, ein Schritt vor und wieder zurück und dann von vorn, 2/4 Takt. Doch dann tanzt doch jeder wie er will. Am Ende des Abends können wir die scheinaberen Grundschritte. Es ist 3:15 Uhr. Die Band denkt noch nicht ans Aufhören. Mir fallen die Augen zu. Auch das ist Reisen. Müde sein.

Am nächsten morgen bin ich endgültig an die Couch gefesselt. Der Weg zum Bad bereitet mir schon Schwierigkeiten. Mir ist heiß. Mir ist schwindelig. Ich will nie wieder etwas essen. Und das soll bei mir schon was heißen. Die Moskitos, die über mir Kreisen erinnern mich an das Schreckgespenst Malaria. Doch meine Temperatur liegt bei 37 Grad. Zum Arzt oder nicht? Das ist hier die Frage. Ach das ist bestimmt nur eine Grippe denke ich und bin etwas unglücklich darüber, dass der Stress mit der Rückerstattung und der Krankenversicherung meine Entscheidung beeinflusst. Ich google die Malaria-Symptome. Es muss nicht notwendigerweise Fieber auftreten. Es gibt auch Malariafälle mit sogenannten Kaltem Fieber. Dabei hat man die gleichen Symptome nur ohne Temperatur. Ich bin so schlau wie zuvor. Drei weitere Tage werde ich auf der Couch verbringen. Hauptsächlich mit schlafen, einem schlechtem Gewissen gegenüber unserem Host und Filme schauen. Immerhin können wir das zusammen machen. Ein Gruß aus Deutschland bringt mich zum Lachen. Der Film Familienfieber. Wie passend. Eine Komödie mit wunderbaren Dialogen zwischen Berlinern und Brandenburgern und neurotischen Charakteren. Am Ende wird natürlich alles gut und darauf hoffe ich auch. Mein Fieber bleibt kalt und so entschließen wir uns nach fünf Tagen in Porto Velho aufzubrechen und die zweitägige Fahrt nach Cusco aufzunehmen.

Ich blinzle, es ist hell. Das Licht der Neonröhren im Busbahnhof in Rio Branco und die Metallkante in meinem Rücken machen mich alle halbe Stunde wach. Die Couch wurde zwangsweise gegen eine Metallbank in der Wartehalle getauscht. Unser Bus aus Porto Velho hatte aufgrund eines Streiks Verspätung. Die einzige Busverbindung an diesem Tag verpasst, sehen wir uns gezwungen 20 Stunden am Busbahnhof zu warten. Jetzt ist es 00:30 Uhr. Fünf Stunden liegen noch vor uns. Auch das ist Reisen. Es kommt immer anders. Nur diesmal warten wir auf den Bus nach Peru. Die Vorfreude ein neues Land zu entdecken, lassen das harte Nachtlager etwas weicher werden. Und da ist er wieder, der Hunger nach neuen Erlebnissen.


Mai 12 2018

Caesar ist stark

Porto Velho

9. Mai 2018

 

Ein schrilles Pfeifen zerreißt die Stille. Stille in die ich seit zehn Minuten hineingehört habe. Immer mal unterbrochen von Flip-Flops die über Metallboden scharen. Die Stille wäre keine Stille wenn ich das laute Brummen des Schiffsdiesel noch hören würde. Doch das ist zu einem Grundrauschen geworden. Irgendwo im Hintergrund. Vor zehn Minuten hat der oder die erste an meiner Hängematten-Aufhängung gerüttelt. Unabsichtlich bestimmt. Im Vorbeigehen. Seitdem habe ich den begrenzten Ausschnitt beobachtet den ich rechts an meiner Hängematte vorbei sehen kann. Hinter der Reling liegt der Rio Madeira und Regenwald an dessen Ufer. Willkommen auf der „Almte Moreira IX“ unserem Schiff, unserem zu Hause, unseren Fenster in den Amazonas-Regenwald, unserem Bus nach Porto Velho, unserem Gefängnis und unserer Klassenfahrt.

Unser Fenster

Unser Schiff fährt dicht am Ufer, weil wir flussaufwärts unterwegs sind und am Ufer die Strömung weniger stark ist. So kann ich die vielen großen und kleinen Sträucher und Bäume gut beobachten. Mit ihren ausladenden Zweigen. Das Ufer ändert sich ständig. Manchmal kommt Schwemmland und dann tritt die Vegetation hinter riesigen Pfützen zurück. Manchmal rote Steilhänge. Manchmal stehen Holzhütten auf Stelzen mit oder ohne Menschen davor. Hölzerne Boote schaukeln in unserer Bugwelle oder fahren an uns vorbei. Die Holzboote sind ungefähr zehn Meter lang und auf der Heckreling ist ein unverdeckter Motor angebracht. Die Welle zur Schraube ist gute zwei Meter lang, sodass mensch den Eindruck erlangen kann, die Boote fahren mit übergroßen Stab-Mixern die flach ins Wasser gehalten werden.

Bei Holzhütten gibt es meist auch kleine Plantagen. Je mehr Holzhütten beieinander stehen, desto öfter kommt noch ein Sozial-Zentrum, eine Schule, ein Fußballplatz oder eine Kirche hinzu. Alles entsprechend klein, aus Holz und bunt angestrichen. Menschliche Siedlungen unterbrechen lediglich die unendliche Strecke des Regenwald-Ufers. Immer wieder schlüpfen aus den Wipfeln die langen weißen und die schnellen Blauen Vögel hervor. Die weißen stehen mit ihren langen Beinen oft am Ufer. Die grauen treten in Scharen auf und machen Lärm wie hundert ungeölte Fahrräder. Einmal lag am Ufer auch ein schwarzes Krokodil (Anmerkung: Der Autor hat keine Ahnung von Tieren und Pflanzen. Das Tier hält er für ein Krokodil, weil es halt so aussieht, wie er sich ein Krokodil vorstellt.) Aus dem kaffee-braunen Wasser des Rio Madeira taucht auch hin und wieder einer der grauen oder rosanen Flussdelphine auf.

Unsere Klassenfahrt

Schon mit Beginn der Reise merken wir, dass viele sehr gut gelaunt sind. Viele sind sehr gesprächig, sodass auch ich viele Menschen sehr schnell kennen lerne. Ein Großteil der Menschen ist auf dem Weg aus Venezuela in ein schöneres Leben in einem spanisch-sprachigen Land. So auch Kevin, mein Hängematten-Nachbar. Als er sich aus seiner Hängematte schält, werde ich erneut geweckt und mache es ihm gleich. Aufgrund der Enge geschieht das nicht, ohne dass wir uns gegenseitig wecken. Kevin ist auf dem Weg nach Peru. Er grinst fast ausnahmslos und ich habe ihn seinem Erscheinen nach auf 18 Jahre geschätzt. Tatsächlich ist er 25. Kurze schwarze Haare, langes Gesicht, dünn gebaut und flott zu Fuß. Kevin ist allein unterwegs. Wir unterhalten uns abends manchmal, von Hängematte zu Hängematte und dabei lerne ich venezolanisches Spanisch. „Pingue“ zum Beispiel ist eine starke Steigerung, die vor allem zusammen mit heiß und kalt verwandt wird. Mensch könnte es mit „bastante“ oder im weitesten Sinne mit „mucho“ gleichsetzen. Kevin ist ein wenig wie Mickey Maus‘ Goofy. So richtig scheint er keinen Plan zu haben, aber irgendwie hat er ständig das Glück, zufällig an sein Ziel zu kommen. ohne jemals wirklich traurig zu sein.

Diese ständige Freude, die Enge und die Zeit machen die Reise zu einer Art Klassenfahrt. Schnell freunden sich viele an. Da ist der Musiker, da der Draufgänger und dort der Ruhige. Einer erzählt mir, dass er drei Jobs in Venezuela hatte, von dessen Einkommen er sich im Monat gerade mal ein Huhn leisten konnte. Ein anderer fordert, dass der Bolivar, die venezolanische Währung, mit dem US-Dollar gekoppelt wird, damit die Hyperinflation ein Ende hat. Sie vereint die Flucht und das Wissen, dass Venezuela nicht so schnell stabil wird. Die nächsten Wahlen sind keine echten Wahlen, meint der eine. Wenn Maduro nicht gewinnt, gibt der Gewinner seine Macht an Maduro ab. Das Land hätte keine andere Wirtschaft außer die Erdöl-Industrie. Das macht die Situation zu einer Katastrophe. Hector erzählt, dass er zwei Töchter und eine Frau zu Hause hat. Er möchte in Peru arbeiten und diese versorgen oder nachholen.

Joseph, Caesar und Ramon reisen zusammen und möchten von Argentinien aus ihre Eltern und Geschwister unterstützen. Caesar ist 27, vielleicht 1,70m groß, ärmelloses türkises T-Shirt, muskulös gebaut. Caesar ist nicht ganz so überschwänglich und erklärt mir, dass Venezolaner*innen auch dann freudig sind, wenn ihnen grad was schlechtes widerfahren ist. Caesar hat Informatik studiert und einen Bruder in Buenos Aires. Sein Traum ist es, ein eigenes sicheres und freies Betriebssystem zu programmieren, dass viele verwenden. Er ist Fan von freier Software wie Linux. Wir können uns viel unterhalten und ich lerne dabei zusehend spanisch. Es ist hart. Den Satz „Kannst du es nochmal langsam sagen“ kann ich auf spanisch mittlerweile auswendig. Ich erzähle viel von unserer Reise, unseren Vorhaben, meinem Leben in Deutschland. Er ist sehr interessiert. Hinter den freudig-freundlichen Gesichtern vermute ich aber auch eine traurige Seite. Ich kann es mir schwerlich ausmalen, dass so viele Menschen so beschwingt ihr Land verlassen. Umso schöner, dass sie es mit Leichtigkeit machen. Ob er eine Freundin hat, frag ich Caesar.

Ja und Nein, sagt er.

Pause.

Ja, aber wir machen grad eine Pause, solange wie ich unterwegs bin.

Es klingt aufrichtig, aber nicht mehr so sorgenlos.

Unser Schiff – unser zu Hause – unser Gefängnis

Der Pfiff hat uns zum Frühstück gerufen. Vor dem Eingang in den Essensbereich steht schon eine Schlange. Ich reihe mich ein und schau mich wartend um. Das erste Obergeschoss ist im vorderen Bereich Stauraum und in der hinteren Hälfte der Hängematten-Bereich. Dieser Bereich ist auch überdacht durch den 2. Stock. Am Heck befindet sich, durch ein Plastikgitter abgetrennt, der Essensraum. Unten stehen noch mehr Sachen, die transportiert werden, wie beispielsweise, Farbdosen, Para-Nüsse oder Holzkohle. Vor allem aber stehen dort Autos. Auf dem obersten Deck gibt es eine überdachte Fläche mit Stühlen, ein Kiosk mit Fernseher, der Crew-Bereich und natürlich die Brücke. Sogar auf dem obersten Dach transportieren wir Materialien, wie beispielsweise Stühle. Auf dem Vorschiff ist alles verdeckt durch Planen, bis auf die Fahrräder und Stühle. Die Brücke ist sehr eng und gesteuert wird mit einem historisch wirkenden roten Steuerrad. Schon die Gesamterscheinung des Schiffes mutet historisch an. Besonders die anderen hölzernen Varianten dieser Schiffe, die wir öfters sehen, geben den Eindruck, dass schon im 19. Jahrhundert diese auf den Flüssen unterwegs waren.

Nach und nach dürfen wir in den Speisesaal, und wenn Menschen fertig gegessen haben, werden neue eingelassen. Ich lasse mir etwas vorgesüßten Kaffee in den Plastikbecher und zwei süße Milchbrötchen. Nach ein paar Tagen gibt‘s keine Brötchen mehr, dann gibt‘s kleine Kekse. An langen steinernen Tischen, nehme ich auf einen der weißen Plastikhocker platz. In den Margarine-Schachteln stecken Messer, mit dem ich die Brötchen aufschneiden und mit der salzigen Margarine bestreichen kann. Das ist das Frühstück hier an Bord.

Auf dem Rückweg schlängele ich mich an wartenden Menschen und Hängematten vorbei. Gute 50 Hängematten in allen Farben gibt es hier. Die meisten aus Stoff und nicht so billiger Plaste-Kram wie unsere. Wir glauben nicht, dass wir sie mehrmals brauchen, aber für das Schiff ist eine Hängematte unerlässlich. Die Hängematte hängen quer zum Schiff und überlappend passen drei nebeneinander. Mein Tag beginnt mit der Naht-Kontrolle. Jedes Mal wenn ich mich in die Hängematte setze, macht sie ein Geräusch, als wenn gleich Nähte reißen. Deswegen das Sicherheitsritual nach dem Frühstück. Auch tagsüber verbringe ich und viele andere ihre Zeit in der Hängematte. Lesen, schlafen, Musik-hören, Podcast-hören, unterhalten. Bei fünf Tagen die das Schiff braucht, haben wir viel Zeit für alles mögliche. So nähe und lese ich viel, was ich sonst nicht machen würde. Eingezwängt zwischen vielen Menschen, ohne Privatsphäre und kaum Raum in dem ich mich bewegen kann. Es hat auch etwas von Gefängnis.

Unser „Bus“ nach Porto Velho

Unser Weg führt von Manaus nach Porto Velho. Etwas den Amazons runter und dann rechts abbiegen in den Rio Madeira. Eine andere Verbindung über Land als das Schiff gibt es nicht. Es gab und gibt Planungen über eine Straße, aber diese ist wieder zugewachsen. Die Transamazonica soll Höhe des Äquators vom Atlantik bis zum Pazifik reichen. Sie würde auch Manaus und Porto Velho verbinden. In Brasilien heißt sie BR-319. Die anderen Länder neben Brasilien befürchten den brasilianischen Einfluss, sodass sie nicht ganz so eifrig hinter dem Projekt stehen. Aber auch indigene Völker und Umweltschützer protestieren, teils mit Besetzungen. Bis nach Manaus und damit ein erhebliches Stück ist schon fertiggestellt. Das Stück nach Porto Velho und weiter Richtung Grenze ist allerdings überwuchert und wurde nicht komplett asphaltiert. Sollte die Straße zukünftig Städte an das Straßennetz verbinden, würde das deren Wirtschaft unterstützen. Diese besteht aber zu nicht unerheblichen Teilen aus der Forstwirtschaft, der Landwirtschaft und dem Bergbau. Alle drei reduzieren den Regenwald schon jetzt nachhaltig, sodass im Bundesstaat Rondonia, wo wir hinfahren, ein Viertel des Waldes abgeholzt ist. Die Rohstoffe gehen oft nach Europa. Die Landwirtschaft produziert vor allem Soja, das Haupt-Futter in der industriellen Massentierhaltung. Für neue Felder wird Regenwald abgebrannt oder abgeholzt.

Schon jetzt hat Brasilien entlang der Transamazonica eine Blutspur gezogen. Mindestens 9 indigene Völker wurden ganz oder fast vollständig umgebracht. Da die Völker nicht gegen die selben Krankheiten immun sind, wie die zugewanderten Europäer*innen, wurden vielen der Völker bspw. mit Windpocken vergiftete Geschenke gemacht. Eine Windpocken-Pandemie tötete dann das indigene Volk. Erst spät wurde das europäische Märchen vom nahezu unbewohnten Regenwald widerlegt. Von den ehemals fünf Millionen Indigenen im Amazonas-Regenwald gibt es heute nur noch ca. 300.000. Viele werden noch heute diskriminiert oder durch Holzfäller und Bauern vertrieben. Die übrigen unkontaktierten Völker im Regenwald verhalten sich oft sehr aggressiv gegenüber Fremden, weil der mörderische Umgang der europäischen Nachfahren mit ihnen bekannt ist. Hätte es eine Busverbindung über die Transamazonica für uns gegeben, ich hätte mir sehr schwer getan, diese zu nutzen.

Porto Velho kommt

Zurück aufs Schiff. Wir halten an Tag 4 für ungefähr acht Stunden in Humaitá, wo etwas Ladung und vor allem Brasilianer*innen von Bord gehen. Mittlerweile nimmt das Langeweile-Gefühl zu und das Essen bleibt einseitig. Reis, Spaghetti, Bohnen und gekochtes Fleisch. Mittags und Abends. Jeden Tag. An einigen Tagen wird zusätzlich gegrillt auf dem Oberdeck. Ich unterhalte mich mit Ramon und frage ihn nach den Holzhaus-förmigen Booten, die vor jeder noch so kleinen Siedlung liegen. Es sind Baggerschiffe, sagt er. Später sehe ich auch größere im Fluss. Mittels einer Pumpanlage wird der Fluss-Schlamm angesaugt und über breite Holzrinnen geleitet. Dort soll sich das gesuchte und schwerere Gold ablagern. Vermutlich unter dem Einsatz des giftigen Quecksilbers, das die Arbeit effektiver macht.

An Tag 5 ist es endlich so weit. Agraranlagen werden sichtbar. Eine große Brücke und Hochhäuser kommen ins Blickfeld. Wir sind glücklich, weil bald können wir das Boot verlassen. Alle packen. Wir auch. Wir verabschieden uns von unseren neuen Freunden und wünschen uns gegenseitig viel Erfolg auf unseren neuen Wegen. Ich tausche mit Caesar Kontaktdaten und muss an unseren letzten Abend denken.

Er erzählte von seinen Eltern, die ihn ungern gehen ließen. Er selber würde nicht so viel an zu Hause denken und meint, seine Eltern seien halt sentimental. Er verkauft sich als stark, aber ich empfinde Mitgefühl. Es ist diese Stärke, die die andere Schwäche ausgleichen soll. Er erzählt, dass er seinen Eltern nicht gesagt hat, dass er mit Karten-Tricks in den Straßen Geld hinzuverdient hat. Touris seien sehr leichtgläubig. Dadurch konnte Caesar sich schickere Kleidung und Schuhe kaufen. Er und ich führen den herumstehenden Menschen unsere Karten-Tricks auf. Nachdem die meisten sich schlafen gelegt hatten, um bis zum 6-Uhr-Pfeifen zu schlafen, sitzen Caesar und ich noch unter dem imposanten Sternenhimmel, der durch keine Stadtlichter beeinträchtigt wird. Wir sprechen über die ungerechte Welt. Dass Touris immer höhere Preise zahlen und das Latinos/as immer Preise unter den angezeigten verhandeln können.

Dann zeigt er mir ein Photo auf seinem Handy.

Völlig ungefragt.

Seine Freundin.

und seine Augen verraten mir, dass auch der starke Caesar nicht nur stark ist.


Mai 11 2018

Der Zauber von Manaus

Mal wieder sind wir gestrandet an einem Busbahnhof und warten auf Nachricht von unserem Host. Wir sind in Manaus, der zweimillionen Haupstadt des Amazonasgebietes. Endlich Nachricht von unserem Host. Eine Freundin von ihm soll uns in einer halben Stunde abholen. Mittlerweile wissen wir, dass 30 Minuten auch schnell 60 Minuten sein können oder eben mehr. Irgendwann halten wir es auf unseren Plätzen nicht mehr aus und warten vor dem Busbahnhof. Da rennt auch schon eine Frau mittleren Alters mit kurzen Haaren und Brille in uns hinein. Sie lächelt herzlich, begrüßt uns mit Küsschen links, Küsschen rechts und fährt uns eine Weile durch die weitläufige Stadt zum Haus von Basilio, unserem Host. Als erstes erwartet uns dort allerdings nicht unser Gastgeber, sondern ein aufgeweckter Hund namens Chica. Hund und Gastgeber könnten unterschiedlicher nicht sein. Basilio ist ein großer breitgebauter junger Mann, der mit seinen schwarzen Knopfaugen, wie ein Teddybär aussieht. Er ist ruhig, freundlich, zuvorkommend, immer darauf bedacht uns so viel wie möglich recht zu machen. Sein Hund hingegen nimmt keine Rücksicht auf uns. Er kratzt, beißt, springt uns ins Gesicht und ist niemals müde. Es ist ein Kampf mit ihm. Noch nicht mal auf Basilio hört die Bulldogge. So sind es diesmal nicht die Moskitos, Käfer oder Spinnen, die uns die Nerven rauben, sondern ein kleiner Kampfhund. Basilio hat große Träume. So wie viele hier in Südamerika. Er will ein Restaurant aufmachen oder gleich ein Hostel. In Brasilien oder in Deutschland. Er weiß es nicht genau. So ist das mit Träumen, sie müssen erst reifen wie ein guter Wein sagt Basilio. Und er muss es wissen. Neben seinem Job als Mechaniker bei der brasilianischen Luftwaffe, besucht er eine Kochschule und büffelt französisch.

Am ersten morgen in Manaus werde ich unsanft geweckt. Es geht los zur Militärstation. Wir dürfen tatsächlich einen Blick auf das bewachte Militärgelände werfen. Eigentlich undenkbar. Basilio meint jedoch das geht schon klar. Na mal sehen. Die Kontrolle am Eingang dauert etwas, doch dann sind wir drin. Wir begutachten die Flugschiffe der Airforce, werden eingewiesen in das Cockpit eines Helikopters, dürfen darin Platz nehmen und sogar auf den Hubschrauber klettern. Nach Ende der zwanzigjährigen Militärdiktatur in Brasilien in den 80ziger Jahren wird das Militär skeptisch von der Bevölkerung beäugt. Die Armee in Brasilien ist verhältnismäßig schwach aufgestellt und so hält das Land zu allen Nachbarländern freundschaftliche Beziehungen, um den Ernstfall nicht erproben zu müssen. Die Hubschraubereinsätze, erzählt Basilio, werden vor allem für Rettungen im undurchdringlichen Amazonasgebiet genutzt. Wir laufen vorbei an verschiedenen Transport- und Kampfflugzeugen und sind selbst eine Attraktion zwischen all dem schweren Geschütz. Wir werden nach den Kampfflugzeugen der deutschen Bundeswehr befragt. Wir als Nicht-Experten müssen das erst mal bei Wikipedia nachlesen. Zum Abschluss wird noch mit Peacefahne vor dem Kampfjet für ein Foto posiert. Für das brasilianische Militär ist Manaus ein wichtiger Stützpunkt. Es gibt viele Militärausbildungsplätze quer in der Stadt verteilt.

Nach dem Ausflug ist es Zeit für Mittag. Basilio kocht Pasta aglio e Olio, die 4 Sterne verdient hat. Nach dem Essen beeindruckt er uns mit diversen Kartentricks, die wir nicht mal im Ansatz durchschauen können. Als wäre das nicht schon genug, zaubert er auch noch drei Karten für die berühmte Oper Teatro Amazonas aus dem Hut. Heute Abend wird Faust aufgeführt. Vor der Oper, die 1883 errichtet wurde, stehen herausgeputzte Menschen Schlange. Unsere funktionale Reisekleidung muss es auch tun. Zum ersten Mal seit Beginn der Reise drängen deutsche Sprachfetzen von anderen Touristen in meine Ohren. Es ist die Eröffnung des Festival Amazonas, ein jährlich stattfindendes Opernspektakel. Leider ist die Oper auf französisch und die Übersetzung nur portugiesisch. Aber zum Glück haben wir beim Fauststoff in der Schule nicht geschlafen und kennen den Inhalt noch einigermaßen. Nach vier Stunden herzzerreißender Arien und dem Tod von Gretchen fällt der Vorhang im majestätisch anmutenden Belle Epoque Theater. Das Publikum springt von den Plätzen und applaudiert ohrenbetäubend. Das Kulturprogramm für uns ist allerdings noch nicht beendet. Wir fahren quer durch die Stadt zu einem Musikprogramm ganz anderer Art. In einem Nachtclub erwarten uns eine Menge schöner Männer, noch schönerer Frauen in knappen Outfits und der beste Caipirinha der Stadt. Eine Hardrock-Coverband nach der nächsten heizt der feierwütigen Menge ein. Auf der Kleidung der Angestellten steht „Arbeitsgruppe“. Wir wundern uns, dass dies dort in deutscher Sprache steht. Doch das Rätsel ist schnell gelöst. Der Club in dem wir uns befinden heißt übersetzt soviel wie Basis der Deutschen. Nicht etwa weil der Inhaber Deutscher ist, er sieht nur so aus. Blonde Haare und käsige Haut. Für Brasilianer Grund genug ihm dem Spitznamen „German“ zu geben.

Nach zwei Tagen brasilianischer Kultur wollen wir nun etwas mehr von der Stadt sehen und nehmen eine Stadtrundfahrt in Angriff. Der Bus kommt jedoch nicht. Kurzerhand fahren wir zu einem traditionellen Markt, wo uns Basilio Talismänner für unsere Reise schenkt. Neben allerhand Handwerk und sehr starken Alkoholika gibt es auch ein großes Angebot an Obst und Gemüse. Ganze Bananenstauden können hier erworben werden. Wir entscheiden uns für Kochbananen, die wir zum Abendbrot frittieren wollen.

Anschließend treffen wir uns mit May und Sharina, zwei Tourismusstudentinnen. Der Ausblick über die Stadt in der Raggaebar ist atemberaubend. Nach den obligatorischen Caipirinhas erzählen die beiden in bestem Englisch über touristische Attraktionen, Feminismus und Stress mit den Abschlussarbeiten. Mir kommen die Sorgen nur allzu bekannt vor. Studierende weltweit teilen wohl die selben Probleme.

Am nächsten Tag heißt es Stadtrundfahrt, die Zweite. Auch diesmal warten wir vergebens auf den Bus. Auch das ist Brasilien. Doch nichts, was ein Acaí nicht wieder gut machen könnte. Acaí ist eine Art Eis aus der einheimischen vitaminreichen roten Beere mit gleichem Namen. Dazu gibt es eine süßliche Sahnesoße und wahlweise Schokoflocken, Erdnüsse oder Müsli als Topping. Genau die richtige Erfrischung in der Mittagshitze von Manaus.

Am Nachbartisch werden wir von drei Studierenden zum UNO-Spielen eingeladen und merken schnell, dass die Regeln nicht unbedingt zu unseren Gunsten ausgelegt werden. Aber wir sind immerhin nicht die letzten in der fröhlichen Runde. Am Abend hat Basilio noch eine Überraschung für mich, wir wollen selbst gemachte „Pâodequeijo“ herstellen. Das sind kleine mit Käse gefüllte Teigbällchen und seit ein paar Tagen meine absolute Lieblingsspeise. Doch schon bei der Zubereitung merken wir, dass hier irgendwas nicht stimmt. Der Teig ist viel zu flüssig, um daraus etwas rundes Festes zu formen. Im Ofen werden sie dann endgültig zu kleinen Fladen und erinnern auch geschmacklich nur entfernt an das Original. Zu viele Köche verderben eben den Brei oder das Pâodequeijo. Am letzten Abend geht es noch einmal heiß her. Es wird Poker gespielt und wir sind uns nicht ganz einig über die Regeln. Wir diskutieren, Basilio steigt irgendwann aus. Ihm scheint unserer Temperament dann doch etwas zu viel. Wer hätte das gedacht, ausgerechnet hier in Brasilien. Am nächsten morgen bemerken wir, dass er unsere Diskussion gefilmt hat und wir jetzt die deutschen Streithähne bei Instagram sind. Nun gut, wie hörte ich einmal „hauptsache drin in der Yellowpress“. Am Ende der Partie liegen alle Pokerchips vor meinem Platz und Basilio kann nur noch mit dem Geheimnis seiner Kartentricks bezahlen. Eigentlich wollten wir nur zwei Tage bleiben, am Ende wurden es fünf. Wir sagen unserem lieb gewonnen Koch auf hoffentlich Bald in Deutschland und Chica, nicht ganz ohne ein freudiges Lächeln, Lebe Wohl.

Die letzten beiden Tage in Manaus verbringen wir bei Felipe Ferrari. Ja er heißt wirklich so. Die Ähnlichkeiten zum schnellen Automobil sind aber nicht wirklich zu erkennen. Felipe ist mit seinem braunen lockigen Haar, Sonnenbrille, Shorts und Flip Flops eher von der entspannten Sorte. Seine Freundin und er nehmen uns mit zu einem Ausflug. Wohin genau es geht wissen wir noch nicht. Als wir ein paar Meter mit dem Boot aus dem Hafen fahren, trauen wir unseren Augen nicht. Es weitet sich eine unglaublich große Wasserfläche und ich habe Mühe das andere Ende des des Ufers zu erkennen.

Der Amazonas ist mit Abstand der wasserreichste Fluss der Erde. Wir befinden uns gerade einmal auf dem Rio Negro, einem Zufluss zum Amazonas und schon dieser übersteigt die Größe jeglicher Flüsse, die ich in meinem Leben gesehen habe. Der Rio Negro erinnert mich eher an einen See im Ausmaß des Bodensees als an einen Fluss. Wir fahren schnell über das fast stehende Wasser in kleinere Nebenarme. Am Uferrand befinden sich Bäume die weit ins Wasser wachsen, dazwischen schwimmende Häuser, kleine Siedlungen. Anstatt von Schulbussen gibt es Schulboote. Der Fluss ist die einzige Verbindung zwischen den einzelnen Dörfern. Unser Ziel ist ein Kautschukmuseum. Von den Bäumen des Regenwaldes wurde das wertvolle Material gewonnen, die Besitzer der Kautschukfarmen wurden schnell reich mit ihrem Handel und so sehen wir einfache Verschläge wo die Arbeiter wohnten und ein herrschaftliches Kolonialhaus, indem die Bewohner sich den Luxus gönnten in Wasser aus Europa zu baden. Zwischen Einheimischen und den Besitzeren gab es viele Streitigkeiten und einige Tote. Einzig der beliebte Schnaps „Cachaca“, der auch heute noch als Basis des berühmten Caipirinhas dient, versöhnte die Parteien zeitweise.

Wieder auf festem Untergrund, beschwören wir das Sprichwort aller guten Dinge sind drei und warten auf den Bus der Stadtrundfahrt. Diesmal klappt es tatsächlich. Wir fahren vorbei an ein paar Sehenswürdigkeiten und bemerken über welche Fläche sich Manaus erstreckt. Wir halten am berühmten Ponte Negro. Dem größten Strand in Manaus mit Flaniermeile für die einheimische Bevölkerung. Das Wasser erinnert mit 27 Grad an Badewannenwasser. Der Weg vom Stadtzentrum nach Hause mit dem Nahverkehr wird zur Geduldsprobe. Bisher genossen wir in Manaus den Luxus mit privaten Fahrzeugen und Motorrädern durch die Stadt gefahren zu sein. Unsere Gastgeber halten nicht viel vom örtlichen Nahverkehr. Wir werden noch verstehen warum. Alle Buslinien halten am gleichen 100 Meter langen Bussteg, doch weder wo noch wann ist hier verzeichnet. Die Busse kommen im Sekundentakt hereingeflogen und sind eben so schnell wieder weg. Wir können mit vier verschiedenen Buslinien fahren, wissen aber nicht wo unsere Nummern halten. Das Durchfragen stellt sich als nicht möglich heraus. Unser portugiesisch ist so gut wie nicht existent und das englisch auf der anderen Seite ebenso wenig. Irgendwann haben wir Glück und eine passende Nummer hält vor unserer Nase. Doch nach kurzer Zeit bemerken wir, dass er in die falsche Richtung fährt. Wir steigen an einer größeren Station aus. Doch auch hier das gleiche Spiel. Es stehen zwar jetzt Nummern über dem unendlich lang erscheinenden Bussteg, jedoch sind unsere Nummern so weit auseinander, dass wir es für sinnvoll erachten in der Mitte zu stehen. Allerdings müssen wir so immer zum Sprint oder besser zum Slalom durch die wartende Menge ansetzen um zu unserem Bus zu kommen. Doch wenn wir gerade noch rechtzeitig den Bus erreichen, schütteln die Busfahrer immer den Kopf und wir können nicht einsteigen. Andere Passagiere kommen aber ohne Probleme in den Bus. Es ist verwirrend. Irgendwann spricht uns ein junger Mann an, der unsere Versuche einen Bus zu bekommen wahrscheinlich beobachtet hat. Er fragt wo wir hin wollen. So genau wissen wir das auch nicht, da die Haltestellen keine Namen haben. Wir sagen Ponte Negro. Immerhin ist es die richtige Richtung. Er gibt uns zwei neue Busnummern und wir hoffen sie richtig verstanden zu haben. Diesmal dürfen wir in einen der Busse einsteigen und mithilfe von einer Karten-App und einem hilfsbereiten Mitfahrer finden wir eine Haltestelle von der wir zu unserem Host laufen können. Statt einer 20 minütigen Fahrzeit brauchen wir über zwei Stunden. Zuhause angekommen, erklärt uns Felipe, dass die zweite Station an der wir standen, eine reine Umsteigestation ist und man deswegen nicht vorne in den Bus einsteigen darf. Aus diesem Grund schüttelten die Busfahrer wahrscheinlich ihre Köpfe. Froh den Nahverkehrsjungle bezwungen zu haben, sind wir im Nachhinein mal wieder um einiges schlauer.

Der nächste Tag steht ganz im Zeichen der Vorbereitung unserer mehrtägigen Bootsfahrt noch Porto Vehlo. Wir brauchen noch Hängematten in denen wir auf dem Boot schlafen können. Nach einigem hin und her entscheiden wir uns für die etwas billigeren, nicht ganz so gut vernähten, aber dafür klein zusammenfaltbaren Hängematten. Mit dem Gedanken sie später wiederverwenden zu können, hoffen wir einfach, dass die Stricke halten. Am späten Nachmittag ist es dann so weit, wir besteigen unser schwimmendes Zuhause für vier Tage (es werden mehr). Den Blick auf den Lichtern des Hafens gerichtet, denken wir an die letzte Woche in Manaus. Wir haben das Ruder aus der Hand gegeben und uns treiben lassen in der Metropole am größten Fluss der Welt. Wir wurden verzaubert von der Landschaft und Gastfreundschaft  und sind gespannt wo die Lebensader Brasiliens uns als nächstes hinführt.